In der Grauzone
Die Republik Moldau will in die EU. Am 20. Oktober wird im Land darüber abgestimmt. Es ist unsicher, wie diese Wahl ausgeht. Die westlich orientierte Elite ist für Europa. Doch Russland hat das Land unter propagandistisches Dauerfeuer genommen. Viele Moldauer stehen Wladimir Putin näher als ihrer eigenen Präsidentin Maia Sandu. Das Schicksal Moldaus hängt auch am Ausgang jenes Kriegs, in dem gerade die Ukraine um ihr Überleben kämpft.
Europa ist in Chișinău, der Hauptstadt der Republik Moldau, allgegenwärtig. Vom Regierungspalast am zentralen Bulevardul Ștefan cel Mare și Sfânt, der dreieinhalb Kilometer langen Prachtstraße Chișinăus, hängt über die halbe Gebäudefront die blaue Flagge mit den zwölf goldenen Sternen neben der blau-gelb-roten Nationalflagge mit dem Auerochsen im Wappen. Viele Straßen der Hauptstadt sind mit der Europaflagge geschmückt. Es gibt eine Briefmarke mit dem Umriss des Landes in den europäischen Farben. Sogar an der Sicherheitskontrolle des Flughafens tragen die Beamten das blaue Emblem mit den goldenen Sternen. Wer dieser Tage die Republik Moldau besucht, hat den Eindruck, das Land sei bereits das 28. Mitglied der EU.
Dabei ist Moldau erst seit zwei Jahren EU-Beitrittskandidat. Es ist nur wenige Tage her, dass die EU überhaupt beschlossen hat, Beitrittsgespräche aufzunehmen. Entscheidend für die weitere Entwicklung wird sein, wie das Referendum über einen EU-Beitritt ausgeht, das für den 20. Oktober angesetzt ist. 56 der 101 Parlamentsabgeordneten haben für das Referendum votiert, 24 Abgeordnete der prorussischen Opposition blieben der Abstimmung fern. Das Referendum wird gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl stattfinden, bei der sich die westlich orientierte Präsidentin, die an der US-Elite-Universität Harvard ausgebildete Maia Sandu, für eine zweite Amtszeit wählen lassen möchte.
Sandu löste 2020 den prorussischen Präsidenten Igor Dodon ab; sie kam mit 58 Prozent der abgegebenen Stimmen als erste Frau in Moldau ins höchste Staatsamt und hat ihr Land auf Westkurs getrimmt. Sandus Wahl wurde auch durch einen vorausgehenden beispiellosen Bankenskandal begünstigt: Damals verschwanden in Moldau kurz vor der Abwahl der prorussischen Regierung rund 900 Millionen Euro bei dubiosen Kreditgeschäften von Oligarchen. Das hätte beinahe den Zusammenbruch des kleinen Landes bedeutet und zeigte den großen Einfluss einer kleinen Clique von Verbrechern.
Das Ziel der 52 Jahre alten Sandu ist die Aufnahme in die EU bis zum Jahr 2030. Die Menschen sind indes über die Frage gespalten, wie es mit ihrem Land weitergehen soll. Im Mai vergangenen Jahres haben 80.000 Moldauer in Chișinău für einen Beitritt zur EU demonstriert. Die Demonstranten sagten, sie wollen sich aus dem russischen Würgegriff befreien, als den viele den massiven Einfluss Russlands empfinden. 45 Prozent der Moldauer gaben im Herbst laut dem repräsentativen „Eurobarometer“ an, sie fühlten sich der EU „sehr“ oder „ziemlich“ verbunden.
Andererseits sind viele von Sandu enttäuscht, weil es wirtschaftlich nicht recht vorangeht und weil die Präsidentin trotz vollmundiger Ankündigungen und anfänglicher Erfolge die grassierende Korruption nicht in den Griff bekommen hat. In derselben Umfrage vom Herbst 2023 sagte eine Mehrheit von 51 Prozent, sie fühle sich der EU „nicht sehr“ oder „überhaupt nicht“ verbunden. Moldau gilt als ärmstes Land Europas. Viele Moldauer arbeiten im Ausland. Die Landwirtschaft ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftssektor. Die wenige Industrie, die es gibt, befindet sich in der abtrünnigen Region Transnistrien, in der vor allem russisch- und ukrainischsprachige Moldauer leben. Die Inflationsrate lag 2022 bei 28 Prozent. Zudem hat das Land seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 450.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen – bei einer Bevölkerung von gerade mal 2,6 Millionen. Amtssprache ist zwar Rumänisch, da Moldauer ethnisch und historisch eng mit den Rumänen verwandt sind. Als Alltagssprache ist aber Russisch weit verbreitet. Der Anteil der prorussischen Bevölkerung wird auf 30 bis 40 Prozent geschätzt.
Die propagandistische Beschallung aus Russland ist wohl in keinem Land außerhalb Russlands so groß wie in Moldau, nicht einmal im Baltikum. Während durch EU- und NATO-Beitritt die Verankerung Litauens, Lettlands und Estlands im Westen unumstößlich ist, sieht Moskau in Moldau noch Chancen für sich. Das Land wirkt wie ein Zwischenreich, eine Grauzone: nicht ganz im Westen, aber auch noch lange nicht dem russischen Zugriff entzogen. Es kann in die eine wie in die andere Richtung kippen. Daher ringen sowohl die EU als auch Russland um die Köpfe und Herzen der Moldauer.
Die EU hat vor einem Jahr eine zivile Mission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in das Land entsandt, um die Cybersicherheit zu verbessern und hybride Angriffe aus Russland zu bekämpfen. Es geht um Kapazitätsaufbau, Trainingsmaßnahmen und Steigerung der Resilienz für die moldauischen Behörden, die unter den Cyberangriffen aus Russland ächzen.
Andrei Curăraru ist einer derjenigen in Moldau, der sich wie kaum sonst jemand mit russischen Trollen und Bots auskennt und Gegenmaßnahmen gegen die Indoktrination aus Moskau entwickelt. Curăraru ist Mitbegründer der Nichtregierungsorganisation „Watchdog.md“, die sich die Analyse und Bekämpfung russischer Desinformationskampagnen auf die Fahnen geschrieben hat. Die Büros von „Watchdog.md“ befinden sich in einem Hinterhofgebäude am Rande der Innenstadt von Chișinău. Ein Schild draußen an der Metalltür gibt es nicht.
Curăraru spricht von einem Krieg, der im Internet, im Äther und auf den Satellitenkanälen tobe. „Es begann mit ersten Überlegungen Moldaus, Mitglied der EU zu werden. Aktuell erleben wir im Vorfeld des Referendums eine massive Welle von Desinformation. Inzwischen sind wir bei schätzungsweise zwei Drittel Fake News im Netz. Im frei empfangbaren Fernsehen sieht es etwas besser aus, weil die Regierung kürzlich zwölf russischsprachige Sender geblockt hat. Aber die machen natürlich im Internet weiter“, sagt der in England ausgebildete Analyst, der unter anderem für den pro-europäischen Präsidenten Nicolae Timofti gearbeitet hatte, dem Vor-Vorgänger von Maia Sandu.
Zu den Narrativen, die die russische Propaganda den Moldauern unterjubelt, gehören laut Curăraru diese:
- Ukrainische Flüchtlinge bekommen mehr Geld als moldauische Rentner.
- Nach einem EU-Beitritt werden die Preise explodieren, und das Land wird an Ausländer verkauft.
- Es werden künftig Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen werden müssen.
- Eine Mitgliedschaft in der EU bedeutet Eintritt in den Krieg in der Ukraine.
- Die Regierung in Chișinău unterdrückt die Minderheit der Gagausen.
Die Gagausen (sprich: Gaga-usen) sind besonders anfällig für die russische Propaganda. Gagausien hatte sich ebenso wie Transnistrien noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Moldau abgespalten, war aber 1994 in den Staatsverband zurückgekehrt. Die etwa 160.000 Gagausen machen rund vier Prozent der moldauischen Gesamtbevölkerung aus und leben in einem unzusammenhängenden Gebiet von der Größe des Saarlands im Südwesten von Moldau. Als Gegenleistung für ihre Rückkehr in die Republik wurden sie großzügig von der Zentrale in Chișinău unterstützt. Keine Region Moldaus hat mehr Fördermittel erhalten. Gedankt haben es die Gagausen dem Staat nicht. Der ganz überwiegende Teil von ihnen ist in der unabhängigen Republik Moldau nicht angekommen, das zeigen seit Jahrzehnten die Wahlergebnisse. Und auch für den 20. Oktober rechnen Beobachter in Chișinău für Gagusien mit einer 95-prozentigen Ablehnung beim EU-Referendum.
In der gagausischen Hauptstadt Comrat würde sich jeder Russe wie zu Hause fühlen. Es gibt eine Lenin-Straße mitsamt Lenin-Statue, am Straßenrand steht ein Tankwagen, aus dem ein Mütterlein Kwas zapft, jenes schon in der Sowjetunion beliebte russische Erfrischungsgetränk aus vergorenem Brot, das an Malzbier erinnert. Es wird ausschließlich Russisch gesprochen. Das Bemerkenswerte ist, dass dieses Turkvolk, das zur Zarenzeit aus Bulgarien ins historische Bessarabien, der heutigen Republik Moldau, eingewandert ist, seine eigene Sprache praktisch vergessen hat, obwohl sie in der autonomen Region Amtssprache ist. Das Gagausische wird von den Vereinten Nationen als „ernsthaft gefährdet“ geführt.
In Gagausien ist die Zentrale in Chișinău fern, der prorussische Oligarch Ilan Șor hingegen nah. Șor ist eine der problematischsten Figuren Moldaus. Der 2023 in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilte Betrüger war maßgeblich in den erwähnten Bankenskandal von 2017 verwickelt, der die Fundamente der Wirtschaft Moldaus erschütterte. Er floh nach Israel und gilt nach wie vor als einflussreicher Strippenzieher in seinem Heimatland. Șor hetzt weiter gegen die EU, er betreibt eine Ladenkette, in der Rentner verbilligt Lebensmittel kaufen können, und steckt hinter so manchem prorussischem Medium, das gegen den Westen wütet und Wladimir Putin verherrlicht. In Gagausien ist Șors Feldzug gegen die Demokratie und die Westorientierung besonders erfolgreich. Andrei Curăraru von Watchdog.md kennt nur zwei Nachrichten-Websites in der autonomen Region, die nicht von Șor kontrolliert werden.
Eine davon wird von dem Journalisten Mihail Sirkeli betrieben, der sich nicht einschüchtern lässt. Sein Portal „Nokta“ ging aus einer bürgerlich-demokratischen Jugendorganisation hervor, die sich in den etablierten Medien nicht wiederfand und daher selbst eine Website aufmachte. Sirkeli findet klare Worte: „Die Gagausen spielen innerhalb Moldaus eine destruktive Rolle. Am Anfang wurden wir als Kirsche auf der Torte betrachtet, weil wir für die erfolgreiche Lösung eines ethnischen Konflikts auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion standen. Inzwischen aber sehen uns die Russen als fünfte Kolonne, als Spaltpilz innerhalb des moldauischen Staates. Denn die meisten Gagausen wünschen sich die Sowjetunion zurück. Sie sind nicht gegen die Staatlichkeit Moldaus an sich, aber sie wollen einen moldauischen Staat unter den Fittichen Russlands.“
„Geschichte wird nicht von Völkern gemacht, sondern von einzelnen Menschen – von Machtmenschen wie Wladimir Putin.“ Der das sagt, ist der Gründungsrektor der Universität Comrat, Konstantin Taușanci. Der Wirtschaftsprofessor steht mit seinen 77 Jahren immer noch im Hörsaal, hält Vorlesungen und korrigiert Studienarbeiten. „Die Rente reicht nicht“, stellt er lapidar fest. Dem trotz seines Alters kraftvoll wirkenden Mann mit dem durchdringenden Blick haben es die Gagausen mit zu verdanken, dass die Abspaltung der Provinz seinerzeit nicht zu einem Blutvergießen führte. Mit dem Generalsekretär des Obersten Sowjets Moldaus und späterem ersten Staatspräsidenten des Landes, Mircea Snegur, hatte Taușanci als ein Vertreter Gagausiens 1990 ein Abkommen ausgehandelt, das einen friedlichen Übergang ermöglichte. Es gab in Gagausien keine Hunderte Tote wie in Transnistrien. Die Aktionen der als Provokateure ins Land gekommenen Russen liefen dank der Besonnenheit Snegurs und Taușancis und ihrer Mitstreiter ins Leere.
Der Professor hat ein Buch darüber geschrieben – auf Russisch. Er grämt sich über die Putinhörigkeit seiner Mitbürger. „Es gibt immer noch Stalinisten bei uns“, schimpft er im Gespräch mit loyal. Und fügt hinzu: „Ich erhebe meine Stimme gegen Oligarchen wie Ilan Șor, der Gagausien gekauft hat.“ Gerade arbeitet Taușanci wieder an einer Ansprache, so wie 1990, als er mit Vernünftigen auf beiden Seiten den Frieden rettete. „Unsere Schutzmacht ist nicht Russland“, insistiert Taușanci mit fester Stimme. Nach einem langen Leben für Ausgleich und Frieden kann er nicht verstehen, dass sich die Menschen in seiner Nachbarschaft „von 15 russischen Fernsehsendern rund um die Uhr den Kopf waschen lassen“. Auch dass nach 30 Jahren in Gagausien nur Russisch gesprochen wird, das Rumänische eine Fremdsprache und Gagausisch dem Untergang geweiht ist, will dem alten Herrn nicht in den Kopf.
Taușanci will in seinem Kampf für die Einheit nicht aufgeben. „Ich bin Optimist und setze auf unsere Studenten, auf die jungen Menschen. Ich sage Ihnen: Sorgt dafür, dass Moldau Mitglied der EU wird, dann kommen wir alle zusammen. Auch mit unseren Nachbarn, den Ukrainern. Ich hoffe, dass die Ukraine siegt und ich es noch erlebe, dass wir uns alle in der EU wiedersehen.“
Weil die Gagausen die Staatlichkeit Moldaus nicht ablehnen, sondern sich eine andere Form von Staatlichkeit wünschen, leisten sie keinen Widerstand gegenüber staatlichen Institutionen – anders als etwa die serbische Minderheit im Kosovo, deren Angehörige sich aus Ablehnung des Staates in der Regel weigern, Polizisten, Soldaten oder Diplomaten zu werden. Das ist in Gagausien anders. Die meisten Polizisten in der autonomen Region sind selbst Gagausen. Und Gagausen treten auch wie selbstverständlich den zwölfmonatigen Grundwehrdienst in der moldauischen Armee an oder werden sogar Berufssoldat.
Die Streitkräfte umfassen knapp 5.200 Soldaten sowie zusätzlich 58.000 aktive Reservisten. Es gibt zwei Teilstreitkräfte: das Heer mit 1.300 Berufssoldaten und 1.950 Wehrpflichtigen sowie eine Luftwaffe mit 350 Berufssoldaten und 250 Wehrpflichtigen. Der Wehrdienst beträgt zwölf Monate für Männer. Frauen können freiwillig in der Armee dienen; der Frauenanteil beträgt 22 Prozent. Zum Vergleich: In der Bundeswehr liegt er bei 13 Prozent. Eine 900 Mann starke paramilitärische Truppe, die Gendarmerie, untersteht dem Innenministerium. Der Rest dient in der Wehrverwaltung. Zur Ausrüstung der Streitkräfte gehören Rad- und Schützenpanzer, Haubitzen, Feldkanonen, Raketen- und Granatwerfer sowjetischer Bauart, 80 rumänische Schützenpanzer vom Typ TAB-71 und 19 schweizerische Piranha-Radpanzer sowie 41 amerikanische Humvees. Die Luftwaffe verfügt lediglich über ein Transportflugzeug vom Typ Antonow An-26 und zwei sowjetische Mehrzweckhubschrauber. Ende der 1990er-Jahre hatten die USA Moldau die gesamte MiG-29-Flotte abgekauft, insgesamt 21 Exemplare, damit diese Maschinen nicht in falsche Hände gerieten. Damals interessierte sich der Iran für die Flugzeuge.
In der Verfassung der Republik Moldau ist Neutralität festgeschrieben. Der moldauische Botschafter in Berlin, Aureliu Ciocoi, sagte im Juli vergangenen Jahres im loyal-Interview, dass sein Land unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 in großer Gefahr gewesen sei. „Alle Experten waren sich damals einig, dass Kyjiw in maximal zwei Wochen fällt, und dann wäre der Weg nach Chișinău frei gewesen. Die ukrainische Armee hat einen fantastischen Widerstand geleistet. Dass heute in der Republik Moldau noch immer Frieden herrscht, haben wir auch den ukrainischen Soldaten zu verdanken, die ihr Land – aber auch unseres und ganz Europa – tapfer verteidigen.“
Ein Jahr später nach dieser Aussage fragt man sich in Europa: Wie lange noch? Aktuell ist die militärische Situation in der Ukraine prekär. Was passiert, wenn die Ukraine fällt? Moldau wäre dann, davon gehen alle Beobachter aus, das nächste Fressen in Putins imperialistischem Hunger. Und eine leichte Beute dazu, denn es gehört nicht zur NATO. Dabei ist Moldau nach der Ukraine die zweite Verteidigungslinie Europas. Doch ist die Verpflichtung zur Neutralität nicht im Grunde genommen eine Einladung an Russland – und damit eine lebensbedrohliche Gefahr?
Der moldauische Verteidigungsminister Anatolie Nosatîi widerspricht: „Trotz Neutralität sind wir nicht isoliert. Im Gegenteil, sie bedeutet Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Staaten, die uns unterstützen. Wir sind eingebunden in eine intensive internationale Zusammenarbeit – es gibt strategische Partner und gute Freunde. Nicht zuletzt Deutschland unterstützt uns bei der Modernisierung unserer Armee.“ Wie weit diese Unterstützung geht, wollte eine Sprecherin des Bundesverteidigungsministeriums auf loyal-Nachfrage nicht sagen. Immerhin so viel: Deutschland finanziert die Beschaffung der Schützenpanzer vom Typ Piranha und hilft bei der Luftverteidigung. Im Rahmen des NATO-Programms Partnership for Peace nehmen moldauische Soldaten an Lehrgängen und Übungen in Deutschland teil.
Nosatîi betont im Gespräch mit loyal, dass das Geschehen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz von entscheidender Rolle für sein Land sei. „Die russischen Truppen sind zwar weit weg von unserem Territorium, es besteht keine akute Gefahr für uns. Je besser die Ukraine sich aber verteidigt, desto verhaltener ist die russische Propaganda bei uns.“ Im Übrigen werteten die moldauischen Militärs die Erkenntnisse aus dem Krieg in der Ukraine permanent aus und ließen sie in die Ausbildung einfließen.
Trotz Wehrpflicht steht die moldauische Armee vor der Herausforderung, genügend Berufssoldaten zu finden, auch wenn die Truppe, wie Minister Nosatîi sagt, auf der „Top-Liste des Vertrauens bei den Bürgern“ steht. In Moldau wirbt man Berufssoldaten mit der Aussicht auf eine Pension nach 25 Dienstjahren an. Wer also mit 20 zur Armee geht, scheidet mit 45 aus und kann sich beruflich – halbwegs abgesichert durch den Staat – noch etwas aufbauen. Von dieser Möglichkeit hat sich Anton Cononciuc locken lassen. loyal traf den Sergeanten 2. Klasse auf dem größten Truppenübungsplatz des Landes bei Bulboaca, südwestlich von Chișinău. Cononciuc bildet hier Soldaten aus, die sich auf einen Auslandseinsatz vorbereiten. Denn auch das gehört dazu: Die Armee des kleinen Landes stellt regelmäßig Kontingente für UN-Einsätze. Moldauische Soldaten sind bei MINUSCA in der Zentralafrikanischen Republik dabei, bei UNMISS im Süd-Sudan, bei UNIFIL im Libanon und bei UNMIK im Kosovo. In Bulboaca lernen sie Riot Control, das Schanzen von Stellungen und das Leben im Feld.
Der 43 Jahre alte Cononciuc dürfte ein Soldat sein, wie ihn sein Minister sich wünscht. 1999 hat er seinen Wehrdienst absolviert und danach „etwas anderes“ gemacht – was, das möchte er nicht sagen. Jedenfalls ist er 2015 als Wiedereinsteiger in die Armee zurückgekehrt und macht nun Karriere als Unteroffizier. Dabei kommt er rum: Er war schon jeweils ein halbes Jahr im Kosovo und im Libanon – und einmal auch in Deutschland zur Ausbildung, auf dem Übungsplatz Hohenfels bei Regensburg.
Den Wehrpflichtigen Artur Oboroc, vom Dienstgrad her Soldat 3. Klasse, wird es hingegen nicht dauerhaft zur Armee ziehen. Er leistet seit Januar seinen Wehrdienst ab und ist schon das zweite Mal in Bulboaca zur Ausbildung. „Ich habe viel entdeckt, was ich vorher nicht kannte: schießen, singen, marschieren“, sagt der 21-Jährige, lässt aber nicht durchblicken, ob er das gut oder nicht so gut findet. Er ist begeisterter Judoka und möchte nach der Armee auf dieser Schiene weitermachen. Seinen Wunsch für die verbleibenden Monate bei der Armee äußert er mit dem Schalk im Nacken: „Ohne Verstöße durch die Zeit kommen.“
Viele junge Menschen wie er blicken nach Europa, von dem sie sich eine attraktivere Zukunft versprechen als in einer Welt unter russischer Knute. Der Generalsekretär des moldauischen Jugendrats, einer Dachorganisation von 36 Jugendorganisationen, Roman Banari, sagt im Gespräch mit loyal, dass viele junge Menschen trotz russischer Propaganda lieber in den Westen wollten als nach Moskau. Er würde sich allerdings mehr politisches Engagement der jungen Generation in dieser Richtung wünschen. „Mangelndes Interesse an Politik führt dazu, dass bei uns zu viel über Jugendliche als mit Jugendlichen gesprochen wird“, klagt er. Banari fürchtet, dass am 20. Oktober nicht genügend junge Menschen zur Wahl gehen, die für ihre persönliche Zukunft doch so wichtig sei.
Für Ana Teisanu ist es hingegen eine Selbstverständlichkeit, zu wählen. „Wir müssen deutlich machen, welche Vorteile die EU für uns und unser Land bringt“, sagt die 20-Jährige, die in Chișinău Internationale Beziehungen studiert. Ihr Traum ist es, in den diplomatischen Dienst ihres Landes einzutreten und die Republik Moldau eines Tages als Botschafterin in Tokio zu vertreten. Japanisch lernt sie schon.
Und selbst in der russlandfreundlichen autonomen Region Gagausien seien die Dinge nicht so klar, wie sie nach außen scheinen, meint Mihail Peicov (23), selbst Gagause und seit seinem Studium im Büro für nationale Minderheiten tätig. „Die Jugend in Gagausien ist in Wahrheit für Europa, nicht für Putin“, sagt er. „Nur spricht sie nicht darüber. Wer sich in der Familie offen zu Europa bekennt, wird von den eigenen Eltern oder Großeltern verachtet. Der soziale Druck ist gewaltig. Auch die russisch orientierten Lehrer wirken massiv auf Kinder und Jugendliche ein.“
So berichtet Peicov von dem oscarprämierten Dokumentarfilm „20 Tage in Mariupol“, der von den Gräueltaten der russischen Besatzer in der ostukrainischen Stadt handelt. Der Film wurde auch in Kinos in Gagausien gezeigt – vor fast leeren Rängen. Nur eine Handvoll Jugendlicher hätte ihn sich angesehen. Peicov: „Die meisten Schüler haben sich nicht in den Film getraut, weil ihnen putinfreundliche Lehrer gedroht haben: ‚Wenn ich dich in diesem Film sehe, kannst Du was erleben.‘“