Moskau spielt wieder mit
Während Europa und die USA im neuen Ost-West-Konflikt mit Russland vor allem auf die Ukraine schauen, baut der russische Präsident Wladimir Putin die Position seines Landes auch im Nahen Osten aus und schafft dort neue Abhängigkeiten. Die Weltöffentlichkeit nimmt von dieser militärischen und wirtschaftlichen Expansion kaum Notiz.
Als am 9. November 1989 in Berlin die Mauer fiel, zerbrach ein Weltreich im Osten. Die Sowjetunion verlor in den folgenden Monaten und Jahren nicht nur an Stolz und Selbstwertgefühl, sondern auch an Macht und Einfluss in der Welt. Ein Netz von internationalen Basen und militärischen Kooperationspartnern verschwand fast über Nacht. Viele ehemalige Verbündete orientierten sich neu in Richtung Westen – auch die im Nahen Osten. Der Traum vom Zugang zu „warmen Gewässern“ war vorerst passé.
Viele schätzten den Nachfolgestaat Russland bereits als nicht mehr ernstzunehmenden Konkurrenten ein. Doch Moskau bewies Durchhaltestärke und strategische Weitsicht. Ruhig analysierend, abwartend, aber zielgerichtet war der russische Bär bestrebt, die vom Westen hinterlassenen geostrategischen Leerräume im Orient zu füllen. Inzwischen ist er zurück. Der hohe Einsatz an „Blut und Schweiß“ in mehreren Ländern, wie zum Beispiel die kostenintensive Unterstützung des Assad-Regimes in Syrien, hat Moskau zurück auf die Ebene der Entscheider gehoben. Militärisch, finanziell, ökonomisch, aber auch diplomatisch spielt Russland wieder eine Rolle im Mittelmeer und Arabischen Golf.
Im langjährigen Kräftemessen mit den USA und in Vorbereitung möglicher Stellvertreterkriege konnte der Kreml sich im letzten Jahrhundert in diversen Ländern des Nahen Ostens und des Maghreb positionieren. Dabei basierten ehemals die Beziehungen der Sowjetunion zu den arabischen Staaten zunächst auf einer gemeinsamen antiimperialistischen Interessengemeinschaft. Diese geostrategische Bedeutung der Region geriet nach dem Mauerfall zunächst in Vergessenheit – auch wegen der hohen finanziellen Belastung. Die alten Verbündeten und traditionellen Waffenkäufer wechselten den Anbieter. Moskau konnte es sich auch wirtschaftlich nicht mehr leisten, die Machtprojektion der Sowjet-Ära aufrechtzuerhalten. Zu sehr war es mit sich selbst und der Osterweiterung der NATO beschäftigt.
Moskau profitiert indirekt vom IS
Durch den Wegfall der Exportmärkte für Waffen in Afghanistan, Libyen und im Irak sank der Anteil am weltweiten Rüstungsexport in den 1990-er Jahren von 38 auf 17 Prozent. Aber auch auf der politischen Ebene verlor das ständige Mitglied im UN-Sicherheitsrat kontinuierlich Einfluss und Durchsetzungsvermögen. Doch heute scheint sich das Blatt wieder zu wenden. Unter dem seit dem Jahr 2000 herrschenden Präsidenten Putin spielte das flächengrößte Land der Welt vor allem seinen Reichtum an Bodenschätzen aus. Während sich die USA als Schutzpatron Saudi-Arabiens und der Golfstaaten in der Vergangenheit riesige Exportmärkte für moderne Waffen sicherten, nutzt Russland aktuell besonders die volatilen Situationen in den Bürgerkriegsländern Syrien und Libyen. Dabei profitiert Moskau indirekt von der Terrororganisation „Islamischer Staat“, die seit 2013 die Ordnung im Nahen Osten durcheinanderwirbelt.
Fast unbemerkt und im Schatten des Kampfes der US-geführten Koalition gegen das Kalifat des IS-Führers al-Baghdadi stützte Putin den unter Druck stehenden syrischen Regierungschef Baschar Hafiz al-Assad. Der im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 ausgebrochene militärische Konflikt zwischen seinem Regime und der Opposition zieht sich in die Länge. Dem Westen lief die immer stärkere Vermischung von Oppositions- und Terrorgruppen zuwider. Zu häufig fanden Hilfsgüter und -gelder den Weg in die Hände von IS und Co.
In dieses Machtvakuum stieß Moskau geschickt und konsequent vor. Der russisch-syrische Vertrag von August 2015 eröffnete Putin vollständigen Zugang zur neu gebauten Luftwaffenbasis Hmeimim im Nordwesten Syriens. Nur kurze Zeit später lieferte der große Bruder das Flugabwehrsystem S-400 zum Schutz der Luftwaffen- und Marinebasis in Tartus gegen feindliche Angriffe. 2017 pachtete Russland nach dem Verlust der Stützpunkte in Ägypten und Libyen für 49 Jahre mit Tartus endlich wieder eine Mittelmeerbasis – und ist damit zurück an den warmen Gewässern. Die Renovierung der Landebahn in Hmeimim erlaubt nun sogar den Start von Langstreckenbombern. Neben dem langfristigen Einnisten am Mittelmeer zielt Moskau allerdings auch auf die Bekämpfung des Islamischen Staates. Mit diversen Luftangriffen versucht Putin das Einsickern von IS-Kämpfern in den Nordkaukasus zu verhindern.
Neben Syrien schaut Präsident Putin aber auch auf die alten Partner. Gemeinsame Manöver mit der ägyptischen Marine und der Besuch der Fregatte „Admiral Kasatonov“ im Januar 2021 waren die ersten Schritte in Richtung Nil. Kairo bleibt jedoch nach Israel der zweitgrößte Empfänger amerikanischer Militärhilfen und lässt so nur begrenzten Spielraum für einen russischen Einflusszuwachs.
Stellvertreterkrieg in Libyen
Anders sieht es hingegen im Bürgerkriegsland Libyen aus. Dort entwickelte sich in Abwesenheit Washingtons ein neuer Stellvertreterkrieg zwischen der Türkei und der EU auf der einen sowie Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Frankreich auf der anderen Seite. Dabei unterstützt Moskau finanziell und materiell über den Umweg der privaten „Wagner“- Söldnergruppe den ostlibyschen General Haftar. Das seit 2019 im Bürgerkrieg agierende private russische Sicherheits- und Militärunternehmen soll bis zu 3.000 Söldner – auch aus Syrien – im Einsatz haben. Im Mai 2020 verlegte die russische Armee zusätzlich MiG-29- und Su-24-Kampfflugzeuge auf den Flughafen al-Jufrah im Osten des ölreichen Landes am Mittelmeer.
Darüber hinaus spielt Putin auch auf dem ökonomischen Klavier, besonders im Energiesektor. Auf Basis von Milliardenverträgen baut der Konzern Rosatom bis 2026 Ägyptens erstes Atomkraftwerk mit vier Reaktoren in al-Dabaa an der Mittelmeerküste. Darüber hinaus investiert der Kreml in das ägyptische Gasfeld „Zohr“, das vermeintlich größte in der Region. Der Rosneft-Konzern erwarb 30 Prozent der Aktienanteile und versprach, bis zu zwei Milliarden Dollar einzubringen. Der russische Milliardär Mikhail Fridman investiert parallel in das West-Nil-Delta-Gasprojekt. In der Türkei errichtet ein Konsortium unter Leitung der russischen Konzerne Rosatom und Atomstroiexport seit 2018 vier Atomkraftwerksblöcke. In Amman erhielt Rosatom den Zuschlag für den Bau von zwei Reaktoren; aus Kostengründen wurde dieses Projekt jedoch vorerst verschoben. Anfang 2018 vergab die libanesische Regierung zwei Lizenzen für die Erdgasförderung in seinen Hoheitsgewässern an ein Konsortium aus der italienischen Firma ENI, dem französischen Unternehmen TOTAL und dem russischen Konzern Novatek.
Lösung des Syrien-Konflikts ohne Moskau undenkbar
Aber nicht nur militärisch und ökonomisch, auch politisch ist der russische Bär auf dem internationalen Parkett der Entscheidungsträger im Nahen Osten zurück. Eine Lösung des Syrien-Konflikts ist ohne Moskau nicht mehr denkbar. Als Initiator des sogenannten Astana-Prozesses organisierte Russland 2017 eine Art Parallelveranstaltung zur Friedensinitiative der Vereinten Nationen. Auf verschiedenen Gipfeltreffen, zum Teil in Anwesenheit der UN und von Vertretern der USA, sucht Putin mit seinen Hauptpartnern Iran und Türkei nach Friedenslösungen – natürlich unter Beibehaltung seines Protegés Assad. Die Zukunft des alawitischen Augenarztes wird also nicht mehr in Washington, sondern in Moskau, Ankara und Teheran entschieden.
Im militärischen Vergleich fällt die russische Präsenz in der Nahostregion weiterhin stark hinter der 6. US-Flotte im Mittelmeer und der 5. im Persischen Golf zurück. Doch das kann nicht über den neuen Einfluss Moskaus im Nahen Osten hinwegtäuschen. Russland konzentriert sich auf die Ausnutzung von Lücken und Schwachstellen der vermeintlichen Konkurrenten. Es vermeidet geschickt direkte Konfrontationen mit den USA und fokussiert sich auf beschränkte strategische Investitionen mit Langzeitwirkung. Das ist Präsident Putin in Syrien gelungen. Ob sich Moskau auch in Libyen und der Golfregion mittelfristig erneut etablieren kann, hängt allerdings vor allem vom Engagement Washingtons und der neuen Weltmacht China ab.
Über den Autor
Heino Matzken ist Verteidigungsattaché an der deutschen Botschaft in Beirut. In diesem Beitrag gibt er seine persönliche Meinung wieder.