Besser Kämpfen
Die Bundeswehr hat begonnen, eine Nahkampfausbildung aller Truppen einzuführen. loyal besuchte die Infanterieschule in Hammelburg, wo das Konzept entwickelt wurde, und schaute beim Training zu.
Eine gute Schlagfaust entsteht, indem man die Finger langsam einrollt, den Daumen außen anlegt; nicht innen.“ In einer Sporthalle der Infanterieschule Hammelburg schreitet ein junger Hauptfeldwebel durch die Reihen von 23 Soldaten. Der Instrukteur buchstabiert ihnen das ABC des „Nahkampfs aller Truppen“. Es geht darum, zu lernen, wie man Gegner mit bloßen Händen bekämpft. Entsprechende Kurse fokussierte die Bundeswehr bisher auf die Kampftruppe. Künftig sollen alle Soldaten der Bundeswehr zumindest Basics des Nahkampfs beherrschen.
Der Mann, der das Konzept dafür entwickelt hat, beobachtet den Lehrgang im Hintergrund. Oberstabsfeldwebel Andreas „Andi“ Mohr ist Hörsaalleiter an der 5. Inspektion der Infanterieschule, eine von zwei Inspektionen für Nahkampf an der Infanterieschule. Die 5. bildet auch Einzelkämpfer und Führer von Jagdkommandos aus.
Seinen Ansatz nennt Andi Mohr Zwei-Stufen-Modell: Hier in Hammelburg befähigen er und sein Team aus drei Instruktoren Soldaten zu Nahkampf-Ausbildern. Diese geben ihr Wissen als Basisausbildung in der Truppe weiter. 20 Stunden je Soldat sind dafür vorgesehen. Besonders fähige Ausbilder schulen Mohr und Team zu Lehrern weiter – die zweite Stufe. Deren Hauptaufgaben: Ausbilder weiterzubilden und dafür zu sorgen, dass der Nahkampf wie die Schießausbildung im Gefechtsdienst integriert wird.
„Erste Wahl ist immer die Schusswaffe. Aber wenn die nicht greifbar ist, muss man den Gegner anders ausschalten. Dafür haben wir den Nahkampf“, erläutert Mohr. Der bullige 56-Jährige mit Vollglatze sieht aus wie der Archetyp des Kampflehrers. In der Tat stecken Jahrzehnte Erfahrung in ihm. Der Sohn eines Fremdenlegionärs betreibt seit 1979 Kampfsport und ist Bundestrainer der Kickboxen-Nationalmannschaft.
Mohr betont, dass Nahkampf eben kein Kampfsport ist, auch wenn die Techniken von dort stammen. Es geht nicht um Wettkampf, sondern darum, den Feind so konsequent anzugehen, dass er keine Bedrohung mehr darstellt – ihn gegebenenfalls auch zu töten. „Ein Hebel oder Fixiergriff, bis der Angreifer verhungert, ist nicht zweckmäßig. Gegner müssen zügig ausgeschaltet werden, gerade, wenn es mehrere sind.“ Laut Mohr ist es zentral, erst gar nicht zu Boden zu gehen. Eine stabile Kampfstellung und einfache Kampftechniken wie gerade Tritte, Boxen und für die ganz nahe Distanz Ellenbogenschläge bilden den Kern des Nahkampfs aller Truppen.
Andi Mohr: „Das soldatische Handwerk wird geschärft, indem ich mental und körperlich lerne, mich wehren zu können.“ Damit sollen sich die Bundeswehrsoldaten in allen Gefechtssituationen besser behaupten. Vom klassischen Kampf in Stellungen über den Orts- und Häuserkampf bis hin zu Waldkampf oder auch bei Feindüberfällen auf Versorgungsbasen im Hinterland. Dabei ist der Nahkampf aller Truppen kein Kind der Wiederkehr von Landes- und Bündnisverteidigung.
Erster Anlauf endete in einer Sackgasse
„Dass jeder Soldat nahkampffähig werden soll, pushte der spätere Heeresinspekteur Bruno Kasdorf bereits 2010; auf dem Höhepunkt des Afghanistan-Einsatzes“, erinnert sich Hörsaalleiter Mohr. In der Folge begann die Schulung von Ausbildern. Doch dieser erste Anlauf zum Nahkampf aller Truppen lief in eine Sackgasse. Die Ausbilder wurden auf Halde produziert, denn es gelang keine parallele Beschaffung von Übungsausstattung. Kopf-, Zahnschutz, Boxhandschuhe und Co. Auch sah das Konzept keine Lehrer zum Wissenserhalt vor. Die Ausbildung von Nahkampf-Trainern wurde deswegen 2018 wieder eingestellt.
Im Oktober 2020 erhielt Oberstabsfeldwebel Mohr den Auftrag, ein neues Konzept zu entwickeln. Nun wird das Zwei-Stufen-Modell etabliert. Inzwischen ist fehlende Übungsausstattung kein Problem mehr. Mohr sieht allerdings Verbesserungsbedarf. Er zeigt einen kurzen blauen Plastikdolch. „Damit üben wir. In Mali musst du aber mit sowas rechnen“, sagt Mohr und holt eine mächtige Macheten-Attrappe hervor. Auch haben die Deutschen nur Plastik-G36 zur Hand, keine Kalaschnikows. Solche Fremdwaffen-Attrappen anzuschaffen, wäre sinnvoll, um die Qualität des Trainings zu steigern, findet Mohr.
Israel als Orientierungspunkt
Wie oft beim deutschen Heer, wenn es um taktische Neuerungen geht, waren die Streitkräfte Israels ein wichtiger Orientierungspunkt bei der Konzeption auch des neuen Nahkampfs. Ein zentraler Baustein ist das im israelischen Militär entstandene Selbstverteidigungssystem Krav Maga – zu Deutsch: Kontaktkampf. Mohr dazu: „Ein Kernprinzip von Krav Maga ist: keine Abwehr ohne Angriff. Das passt ideal zu unserem Ziel, Gegner auszuschalten.“ Ihr Fachwissen haben sich die Instruktoren der Bundeswehr unter anderem in einer Kooperation mit dem Krav-Maga-Institut in Köln geholt, einem privatwirtschaftlichen Unternehmen, das auch Behördenvertreter ausbildet.
Mohrs Vorgesetzter, Oberstleutnant David Thomas, war auf Fortbildung bei Israels Armee in Sachen Nahkampf. Der Chef der 5. Inspektion im Gespräch mit loyal: „Krav Maga ist unser Kern. Wir profitieren hier von einer Armee, die seit ihrem Bestehen Kampferfahrung sammelt.“ Zu Krav Maga kommen noch andere Kampfsportanleihen: Kickboxen, Wing Chun und vor allem Boxen.
Allerdings gibt es keinen Abgleich mit den Ansätzen der Partnerarmeen bei NATO und EU. Jeder kocht hier sein eigenes Süppchen. So pflegten die Briten noch den Bajonettkampf, die Amerikaner machten viel in Richtung Mixed Martial Arts, die Franzosen verbänden Nahkampf mehr mit Sport, so David Thomas. Ein strukturierter Austausch zu Erfahrungen und Best Practices existiert nicht.
Ab 2024: Ausrollen der Basisausbildung
Das Ziel der 5. Inspektion ist es, den Nahkampf aller Truppen in den kommenden drei Jahren in allen Teilstreitkräften und Organisationsbereichen der Bundeswehr zu etablieren. David Thomas: „Der bisherige Ausstoß von 175 Ausbildern pro Jahr ermöglicht das problemlos. Ab 2024 werden wir genügend in der Truppe haben, um mit dem Ausrollen der Basisausbildung zu beginnen.“ Ziel sind bis jetzt vier Ausbilder plus einem Lehrer je Kompanie.
Wer Ausbilder werden will, muss mindestens Oberfeldwebel sein. David Thomas: „Das heißt für uns: Es gibt schon eine gewisse Erfahrung in Menschenführung. Die meisten unserer Ausbilder sind Portepees am Anfang ihrer Laufbahn, sodass wir Ausbilder mit langer Stehzeit in der Truppe haben werden.“
Abgesehen von dieser Eintrittsschwelle setzen die Nahkampfausbilder aus Hammelburg auf einen Ansatz, der Ausbilder aufbauen soll, anstatt Auslese zu betreiben. Die Auswahl von potenziellen Ausbildern erfolgt über die Basisausbildung in Hammelburg. Die Stellen dazu sind bundeswehrweit ausgeschrieben. Bisher sind es fast 100 Prozent Freiwillige, kaum Befohlene. Danach schließt direkt der Ausbilderlehrgang über drei Wochen an. Hier beträgt die Quote der Nichtausgewählten rund 20 Prozent, ebenso bei den Lehrern.
Es gibt keinen Eingangstest. Stattdessen ein forderndes Aufwärmen zu Kursbeginn. Hier beobachten die Instruktoren unter anderem die Fitness und die Motorik der Schüler. Was zählt, ist ein durchgängiges Engagement aus Willen zum Durchhalten und Mitdenken. Eine Abschlussprüfung entfällt. Im Training werden die Teilnehmer immer wieder auch als Ausbilder eingesetzt. In der letzten Woche führen sie eine vollständige Trainingseinheit als Lehrprobe durch.
Training wird stetig intensiviert
Um die künftigen Ausbilder aufzubauen, wird das Training stetig intensiviert. Erst kommen Einzel-, Partner- und schließlich Gruppenübungen. Erst geht es mit Stupsern in die Komfortzone des Gegenübers, am Ende mit gezielten Faustschlägen. Begleitend erhalten die Kämpfenden immer mehr Ausrüstung aufgepackt. Vom Mattenboden der Sporthalle geht es in enge Räume und in den Wald. Am Ende sollen Attacken intuitiv abgewehrt werden können.
Entscheidend wird sein, ob es gelingt, den Nahkampf aller Truppen überzeugend in den Gefechtsdienst zu integrieren oder ob es zu Verdrängungseffekten bei anderen Anforderungen kommt. Denn künftig sollen Nahkampfsituationen Schieß-, Sanitäts- und ABC-Ausbildung ergänzen. Doch das Nahkampf-Thema in den Verbänden stiefmütterlich zu behandeln, ist laut Inspektionschef David Thomas keine Option. Nahkampf werde künftig Teil der Vorschrift für die Vollausbildung sein. Diesen bereits in die Grundausbildung zu packen, hält Thomas für keine gute Idee, denn das ginge zulasten des Sports. „Aber vielleicht gibt es eine Brücke. In der SKB, die das Thema Sport in der Bundeswehr verantwortet, wird geprüft, ob man Selbstverteidigung in die Grundausbildung aufnimmt.“
Nahkampf-Inspektionschef Thomas verspricht sich viel davon, den Nahkampf aller Truppen auch an den Bundeswehruniversitäten in Hamburg und München zu lehren. „Denn nach dem Studium kommt die Ausbildung zum Zugführer – unserem kleinsten Kampfsystem. Wenn die jungen Offiziere hier mit Nahkampf-Vorkenntnissen reingehen, wäre das optimal.“