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„Die Europäer müssen endlich ihren NATO-Beitrag erfüllen“




Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedsländer im Juli beim Gipfel in Vilnius. In der Mitte Generalsekretär Jens Stoltenberg. Seine Amtszeit wurde auf dem Gipfel bis Oktober 2024 verlängert. Erstmals mit dabei war Finnland, das seit April NATO-Mitglied ist.

Foto: picture alliance/NTB

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Beim jüngsten NATO-Gipfel ging es vor allem um zweierlei: eine Allianz-Mitgliedschaft der alliierten Ukraine und eine bes­sere Aufstellung des Bündnisses gegen das aggressive Russland. loyal sprach dazu mit dem NATO-Experten Heinrich Brauß.

Herr Brauß, die Staats- und Regierungschefs der NATO haben bei ihrem Treffen in Vilnius die Beitrittsperspektive für die Ukraine wiederholt, die es seit dem Bukarest-Gipfel von 2008 gibt. Viele hatten sich mehr Rückendeckung für Kiew erhofft…
Die Vilnius-Entscheidungen haben die Ukraine der NATO-Mitgliedschaft ein großes Stück nähergebracht. Es stimmt, schon der Bukarest-Gipfel 2008 hat entschieden, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird. Das wird jetzt ausdrücklich bestätigt: „Die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO.“ Nun ist aber auch der Weg dorthin endlich klar: Der Membership Action Plan (MAP), ein detailliertes, Jahre dauerndes Programm zur Vorbereitung auf die Mitgliedschaft, entfällt. Die Allianz will nun die volle Mitgliedschaftsreife mit einem umfangreichen Unterstützungspaket schnell voranbringen.

Trotz Wegfall eines MAPs behält sich die Allianz laut Kommuniqué vor, die Beitragsreife der Ukraine zu bewerten. Wo ist da der Fortschritt?
Zur politischen und militärischen Vorbereitung auf die Mitgliedschaft erhält ein Anwärter grundsätzlich einen MAP von der NATO, der alle Reformaufgaben enthält. Aus verschiedenen politischen Gründen im Jahr 2008 und danach nicht so im Fall der Ukraine. Stattdessen durchläuft sie seit 2009 mit Unterstützung der NATO ein umfangreiches „Jährliches Nationales Reformprogramm“. Weil die Ukraine dadurch schon zahlreiche Bedingungen erfüllt hat, ist der aufwendigere MAP obsolet. Jetzt wird die Partnerschaft auf eine neue Ebene gehoben. Im neuen NATO-Ukraine-Rat beraten und beschließen die Verbündeten und die Ukraine als gleichgestellte Mitglieder gemeinsam, auch die weiteren Schritte zur Mitgliedschaft. Das „Umfassende Hilfspaket“ wird zu einem Mehrjahresprogramm aufgestockt – für den Wiederaufbau des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungssektors und das Herstellen der vollen Interoperabilität mit der NATO. Zugleich haben sich die G-7-Staaten zu einem substanziellen Maßnahmenbündel verpflichtet, vor allem zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine jetzt und in der Zukunft. Auch die EU will dazu beitragen. Dennoch gab es Kritik daran, dass die NATO eine Einladung erst aussprechen will, „wenn Bedingungen erfüllt sind“. Aber das hat einen wichtigen Grund.

Der da wäre?
Eine entscheidende Voraussetzung ist, dass die Ukraine erst nach Kriegsende Mitglied werden kann. Andernfalls würde die NATO Kriegspartei. Hätte man dies im Kommuniqué aber ausdrücklich festgehalten, hätte man Putin den offiziellen Grund geliefert, den Krieg nie zu beenden. Außerdem weiß heute niemand, wie er enden wird – Waffenstillstand, „Frozen Conflict“, Friedensvertrag, mit oder ohne die Krim? – und was daraus folgt. Dennoch war es unnötig, einen Partner, der unter großen Opfern um seine Existenz kämpft und zugleich Europas Sicherheit verteidigt, offiziell an Bedingungen zu erinnern, die sowieso klar sind. Umso mehr kommt es jetzt darauf an, dass die Ukraine die nötige Waffenhilfe erhält, um bei der Befreiung ihres Territoriums voranzukommen.

Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß, Senior Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. (Foto: Björn Müller)

Zur Unterstützung der Ukraine: Das G7 Maßnahmenbündel nennt explizit Langstreckenwaffen – gemeint sind damit Lenkwaffen wie der deutsche Taurus. Doch statt zügiger Bereitstellung folgt, wie schon bei Kampfjets- und Panzern, eine quälende Abwägungsdiskussion. Zeigt sich hier nicht ein Muster inkonsequenter Waffenhilfe durch die alliierten Westmächte?
Das sehe ich genauso. Mir erschließen sich die Gründe für das Zögern in Washington und Berlin auch nicht. Sie werden auch nicht erklärt. Man ist an die Entscheidung zur Lieferung von Kampfpanzern erinnert: zu spät, zu wenig. Wei treichende Präzisionslenkwaffen können russische Führungseinrichtungen, Logistik und Reserven in der Tiefe des Raums zerschlagen und so die russische Verteidigung vorne lahmlegen. Für den Erfolg der ukrainischen Offensive ist das mitentscheidend. Man wird den Eindruck nicht los, dass die wiederholte dosierte Waffenhilfe, offenbar orientiert an vermeintlichen roten Linien Moskaus, Putin zu der Einsicht bringen soll, dass er auf Dauer nicht gewinnen kann. Aber offensichtlich verfängt dies in Moskau nicht, kostet die Ukraine dagegen viele Opfer.

Um ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit zu sichern, hat die NATO unter anderem das Zwei-Prozent-Ziel in Vilnius zum Minimum für Verteidigungsausgaben erklärt. Wird das endlich die Beitragspolitik der Mitglieder verbessern?
Klar ist: Die NATO braucht für die Verteidigung des gesamten Bündnisgebiets gegen Russland viel mehr einsatzbereite Streitkräfte und moderne Fähigkeiten. Vor allem die Europäer müssen große Lücken füllen. Mit Stimme des Bundeskanzlers hat der Vilnius-Gipfel daher beschlossen, dass jede Nation mindestens und dauerhaft zwei Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben soll. Nicht mehr Ziel wie bisher, sondern Ausgangsbasis für mehr! Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, das Zwei-Prozent-Ziel zu erfüllen. Aber sie will den Verteidigungshaushalt unverändert lassen und ihm jährlich Anteile des 100-Milliarden-Sonderfonds zuschlagen. Der läuft aber 2027 aus. Dann müsste der Verteidigungshaushalt von 52 auf 80 Milliarden Euro oder mehr springen. Das ist nicht glaubwürdig und nicht seriös.

Die zwei Prozent sollen sicherstellen, dass die NATO auf die Streitkräfte zählen kann, die sie zur Verteidigung braucht. Was hat Vilnius hier gebracht?
Der NATO-Oberbefehlshaber, SACEUR General Cavoli, hat strategische Pläne für die Verteidigung des gesamten NATO-Territoriums erarbeitet, die in Vilnius angenommen wurden. Jetzt werden sie in Operationspläne für eine Reihe exponierter Regionen wie das Baltikum und Polen umgesetzt. Daraus werden NATO-Streitkräfteziele abgeleitet. Jede Nation hat einen fairen Anteil zu übernehmen. Diese Ziele beruhen nicht mehr auf hypothetischen Szenarien für ferne Kriseneinsätze, sondern auf dem unabweisbaren Bedarf für die Verteidigung unserer Nationen, in konkreten Einsatzräumen entlang der Nord- und Ostflanke. Wer nicht liefert, lässt eine Lücke. Er gefährdet die Verteidigungsfähigkeit multinationaler Großverbände, verliert Vertrauen und muss dafür Rechenschaft ablegen. Ich hoffe, all dies schafft einen erheblichen Druck, die NATO-Streitkräfteziele zu erfüllen. Die Entscheidung Deutschlands, eine ganze Brigade in Litauen zu stationieren, hat übrigens in der NATO große Anerkennung gefunden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (links) mit US-Präsident Joe Biden in Vilnius. Selenskyj wirbt für eine offizielle Einladung seines Landes zum Bündnis-Beitritt nach Kriegsende. (Foto: picture alliance/AP)

Wird der SACEUR, General Cavoli also erhalten, was er für die kollektive Verteidigung für nötig erachtet?
Die Rekonstitution der europäischen Streitkräfte zu voll einsatzbereiten Verteidigungsarmeen dauert Jahre, nicht nur in Deutschland. Die NATO muss also klare Prioritäten vorgeben – beispielsweise Flug- und Raketenabwehr und weitreichende Präzisionslenkwaffen. Aber die Europäer müssen auch die Folgen daraus ziehen, dass der strategische Schwerpunkt der USA fortan im Indo-Pazifik liegt und sie Entlastung hier erwarten. Die Europäer müssen also endlich den vereinbarten Lastenteilungsschlüssel von 50 Prozent der militärischen Fähigkeiten einlösen. Das muss sich in der konsequenten, stetig wachsenden Erfüllung ihrer Streitkräfteziele niederschlagen. Bisher stellen die Amerikaner, wie man hört, immer noch bis zu 70 Prozent. Als wirtschaftlich stärkste Nation trägt Deutschland den Hauptanteil unter den Europäern. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie gibt vor, dass die Bundeswehr unter Erfüllung der NATO-Ziele in den nächsten Jahren eine der leistungsfähigsten konventionellen Streitkräfte in Europa werden soll. Gelänge das, würden wir enorm an Vertrauen gewinnen.

Stichwort: Leistungsfähige Streitkräfte. Polen verfolgt konsequent das Ziel, ein Heer mit sechs Divisionen aufzubauen, doppelt so groß wie das der Bundeswehr. Wird Warschau Berlin in der NATO den Rang ablaufen?
Das glaube ich nicht. In Deutschland ist die Mehrzahl der US-Truppen in Europa stationiert. Hier liegen die wichtigsten amerikanischen Führungskommandos. Unser Land bleibt, sinnbildlich gesprochen, der europäische Auflagepunkt für die transatlantische Brücke, auch, wenn wir nicht mehr Frontstaat sind wie im Kalten Krieg. Aber hier würden auch heute wieder amerikanische Verstärkungsverbände anlanden und dann durch Deutschland hindurch nach Osten verlegen. Unser Land ist also die logistische Drehscheibe für die kollektive Verteidigung der NATO in Zentraleuropa. Wir spielen eine entscheidende Rolle für Versorgung, Verkehrsführung und Sicherung von Verbündeten beim Aufmarsch. Polen schließt an Deutschland an. Wir sollten also besonders eng militärisch zusammenarbeiten, als Tandem. Dies ist aus politischen Gründen nur schwer möglich. Die derzeitige polnische Regierung misstraut uns und setzt vor allem auf die USA. In der NATO läuft die Kooperation nach meiner Erfahrung allerdings reibungslos.

Zusammengefasst: Was ist für Sie das wichtigste Signal, das vom Vilnius-Gipfel ausgeht?
Ich sehe derer drei: Erstens, die Ukraine wird in absehbarer Zeit NATO-Mitglied, die NATO unterstützt sie intensiv auf dem Weg dorthin. Zweitens, die NATO bereitet konsequent die Verteidigung des gesamten Bündnisgebiets gegen alle Bedrohungen vor. Und drittens, durch den Beitritt Finnlands und jetzt auch Schwedens entsteht im Norden ein kohärenter Großraum unter NATO-Schutz; die NATO wird größer und stärker – eine strategische Niederlage für Putin.

Danke für das Gespräch!


Heinrich Brauß ist Senior Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Der Generalleutnant a. D. gilt als dezidierter Kenner der NATO. Brauß war von 2013 bis 2018 Beigeordneter Generalsekretär bei der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung sowie Abteilungsleiter der Defence Policy and Planning Division im Internationalen Stab der Allianz in Brüssel.

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