Neue Politik zur Energiesicherheit
Deutschland und Europa versuchen, sich eine widerstandsfähige Energielandschaft gegen Russland und China zu schaffen. Ein schwieriges Unterfangen.
Die Sicherung der künftigen Energieinfrastruktur Deutschlands und Europas wird herausfordernd. Das zeigt ein Blick auf Kartierungen zu den geplanten Windkraftparks in der Nordsee. Die gesamte Ausschließliche Wirtschaftsszone (AWZ) der Bundesrepublik erscheint hier nicht mehr als Meer, sondern als Stadtplan eines dichten Industrieparks zur See, in dem Offshore-Anlagen mächtige Blöcke bilden, mit Zufahrtsstraßen auf dem Wasser dazwischen.
Diese kommende Energie-Metropole nebst Pipelines, Datenkabeln und LNG-Terminals läge in der Obhut des Maritimen Sicherheitszentrums in Cuxhaven. Das ist eine Kooperationsplattform, wie sie für den deutschen Föderalismus typisch ist. Das Zentrum versammelt wie ein Gesandtenkongress alle Akteure der Seesicherheit auf Augenhöhe. Von der Deutschen Marine über die Bundespolizei bis zu den Wasserschutzpolizeien der Länder. Nach dem Prinzip Angebot und Nachfrage bringt hier jeder seine Fähigkeiten ein. Die zwei großen Schwächen dabei sind: Die Werkzeuge der Bund- und Länderakteure sind weder abgestimmt noch ausgelegt auf den Schutz von Energieinfrastrukturen. Und es fehlt an Aufklärungstechnik zur Überwachung von Kabeln und Pipelines unter Wasser.
„Infrastruktur lag nicht im Blick“
Die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) hat ihren Fokus auf einem reibungslosen Fluss der Seehandelsströme des Exportweltmeisters. Dafür verfügt sie über eine kleine Flotte an Spezialschiffen mit Sonartechnik für Fahrrinnenkontrolle, Hindernis- und Wracksuche. Diese Schiffe werden, wenn verfügbar, auch zur Überwachung von Seegebieten genutzt, so die WSV gegenüber loyal. Die Wasserschutzpolizei Niedersachsen, einer der Hauptakteure beim deutschen Küstenschutz, besitzt zwar auch Sonartechnik, aber nur auf einem Kleinstboot zum Auffinden von Personen. Marineinspekteur Jan Christian Kaack wiederum äußerte im Interview mit der FAZ: „Russlands Marine kann so eng über dem Meeresgrund navigieren, dass sie sich der elektromagnetischen Aufklärung unserer Überwassereinheiten entzieht. Unsere kritische Infrastruktur lag nicht in unserem Blick.“ Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine erhöhten die NATO-Marinen massiv ihre Präsenz in der Ostsee. Eine abschreckende Wirkung auf denjenigen, der Deutschlands Nordstream-Pipelines attackierte, hatte das nicht.
Was der Bundesrepublik fehlt, ist ein Gesamtkonzept zum Schutz seiner Energieinfrastruktur. Allein der Bund ist erst dabei, seine Vielstimmigkeit zu konsolidieren. Führendes Ministerium für KRITIS (Kritische Infrastruktur) ist das Innenressort. Das hat dazu im Oktober 2022 einen gemeinsamen Koordinierungsstab der Bundesressorts aufgestellt. Diese hatten bis dahin noch nicht einmal einen strukturierten Austausch zu KRITIS, den der Stab nun ermöglichen soll.
Die Basis für ein KRITIS-Gesamtkonzept würde das so genannte Dachgesetz schaffen, dessen Entwurf seit Februar dem Bundestag vorliegt. Es soll verpflichtende Risikobewertungen, Mindeststandards für die meist privatwirtschaftlichen Betreiber und ein Störungs-Monitoring einführen. Das wäre die Ausgangslage, um festzustellen, welche Fähigkeiten und Techniken für die hoheitlichen Schutz- und Abwehrakteure wie Polizeien und Marine sinnvoll wären.
NATO stellt Koordinierungsstelle auf
Auch die NATO setzt nun an der Wurzel an, sich nämlich mit den Unternehmen ins Benehmen zu setzen, die die Energieinfrastruktur bauen und betreiben. Seit Februar stellt die Allianz in ihrem Brüsseler Hauptquartier eine Koordinierungszelle dafür auf, geleitet von Generalleutnant a. D. der Bundeswehr Hans-Werner Wiermann. Ein NATO-Vertreter zu loyal: „Herr Wiermann wird globale Wirtschaftsakteure mit zivilen und militärischen Gegenparts zusammenbringen, um potenzielle gemeinsame Schutzmaßnahmen zu erörtern. Desweiteren sucht er den Kontakt zu Unternehmen, die an State-of-the-Art-Technologien arbeiten, zum Beispiel im Bereich Lagebilderstellung.“
Wie umfassend der Beitrag der NATO zur Sicherheit der Energieinfrastruktur wird, muss sich noch zeigen. So erörtert die Allianz zurzeit einen Ausbau ihres Central Europe Pipeline Systems (CEPS) zur neuen Ostflanke. Es dient dazu, die treibstoffhungrigen NATO-Luftstreitkräfte mit Kerosin zu versorgen. Fragen dazu wollte das zuständige Logis-tikkommando der Bundeswehr nicht beantworten – „aufgrund der aktuellen Entwicklungen der weltpolitischen Lage und der daraus resultierenden militärischen Sicherheitsvorgaben“. Schwerpunkt der NATO dürfte jedoch die wachsende Infrastruktur, gerade auch für Energie, zur See werden.
Die russische Krim-Annexion 2014 war Anstoß für die NATO, wieder die Nachschub- und Kommunikationstrassen im Atlantik zwischen den USA und Europa sichern zu wollen. Dafür stellte die NATO 2019 das Joint Force Command in Norfolk in Virginia, USA, auf. Doch die Marinestrategie der NATO ist veraltet, sie stammt noch von 2011 aus der Zeit der Antiterror-Kriege. Auch hat die NATO keine „Seabed Strategy“ mit Blick auf Energie- und Ressourcensicherheit. Eine solche schuf sich im vergangenen Jahr NATO-Mitglied Frankreich. Paris sieht sich unter besonderem Handlungsdruck. Schließlich verfügt es mit seinen verstreuten Inselterritorien im Indopazifik über die größte Ausschließliche Wirtschaftszone weltweit.
Drängendes Thema – vor allem für Deutschland
Der offene russische Angriffskrieg gegen die Ukraine macht Energiesicherheit zum drängenden Thema der Militärallianz, vor allem aus der Perspektive Deutschlands. Das bezog 2021 noch satte 52 Prozent seines Gases vom russischen Aggressor. Inzwischen ist Deutschlands Hauptgaslieferant der NATO-Partner Norwegen mit 33 Prozent, so die Bundesnetzagentur.
Öffentlichkeitswirksam besuchten im März NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeinsam Troll A, Norwegens Hauptförderplattform für Gas in der Nordsee. Beide haben eine EU-NATO-Taskforce zur Resilienz kritischer Infrastruktur ins Leben gerufen. Sie soll der gemeinsamen Abstimmung dienen. Jedoch liegt der Schwerpunkt der Union bei der Energiesicherheit nicht auf militärischer Abschreckung, sondern auf dem geoökonomischen Überbau. Ein zentraler Pfeiler für Energiesicherheit in Europa ist die Diversifizierung. Dafür hat die Kommission den EU-Staaten vor Kurzem einen „Critical Raw Materials Act“ vorgelegt. Das Gesetz soll dafür sorgen, dass es für seltene und strategische Rohstoffe diverse, belastbare Bezugswege gibt.
Hier geht es vor allem um eine potenzielle Gefahr durch den strategischen Rivalen der Westmächte: China. Die „Werkbank der Welt“ dominiert Abbau und Verarbeitung zahlreicher Rohstoffe. Von der Leyen bei ihrer letzten Rede zur Lage der EU: „Heute kontrolliert China die weltweite Verarbeitungsindustrie. Fast 90 Prozent der Seltenen Erden und 60 Prozent des Lithiums werden in China verarbeitet.“
Auf den Europäern lastet ein doppelter Druck. Zum einen spitzt sich die Konfrontation zwischen China und Europas Schutzmacht USA seit Jahren zu. Washington versucht, den Rivalen zunehmend von wichtigen Technologiefeldern auszugrenzen. Zum anderen brauchen die Europäer China dringend für ihr Vorhaben, die erneuerbaren Energien auszubauen, um autark von fossilen russischen Energieträgern zu werden. So dominiert China die Weltproduktion bei Solarpanels. Praktisch alle Technologien der Energiewende benötigen spezielle metallische Rohstoffe und Industriemineralien, bei denen das Reich der Mitte eine zentrale Stellung einnimmt.
Graphit und Aluminium die Achillesferse
Im militärischen Bereich sind mit Blick auf China Graphit und Aluminium die Achillesferse, so jüngst eine Studie der Denkfabrik The Hague Centre for Strategic Studies. Beide finden nahezu überall in der Rüstung Verwendung – vom Kampfjet bis zur Artilleriemunition. China baut 69 Prozent des natürlichen Graphits weltweit ab und ist Hauptlieferant für den synthetisch erzeugten. Bei Aluminium ist das Land mit 46 Prozent dominanter Weltproduzent, gefolgt von Russland mit sieben Prozent.
Allerdings sind sich die Europäer nicht einig, was die gemeinsame Gestaltung einer neuen Energiesicherheitspolitik angeht. Ungarn verlängerte soeben seine Gaslieferverträge mit Russland. Frankreich setzt seine Atomkooperation mit Russland fort, wo es Brennstäbe seiner Atomkraftwerke aufbereiten lässt. Frankreich könnte zwar Umwandlung und Anreicherung von Uran selbst leisten. Allerdings würde ein Ausstieg aus den Verträgen mehr Geld in Putins Kassen spülen als deren Erfüllung, so Energieministerin Agnès Pannier-Runacher.
Generell sieht sich die französische Regierung durch den Ukraine-Krieg bestätigt, weiter auf die im Land traditionell stark vertretene Atomkraft zu setzen. Deutschland nahm seine letzten Kernkraftwerke im April vom Netz, Frankreich will sechs neue bauen. Allerdings fehlen Paris bereits die Mittel zum Erhalt seiner bestehenden, maroden Atomkraftwerke – ein Grund, warum das Land erpicht darauf ist, Käufer für seine Atomtechnologie zu finden. Hier kommt wieder Ungarn ins Spiel. Das will sein einziges Atomkraftwerk Paks mit dem russischen Atomkonzern Rosatom ausbauen. Doch deswegen blockiert Deutschland die Ausfuhr eines Kontrollsystems von Siemens dazu. Nun erklärten Paris und Bukarest, ihre Atomkooperation zu vertiefen. Auch Polen will in die Atomkraft einsteigen, mit Technik aus den USA und Südkorea. Aus Sicht Warschaus ist dies eine sinnvolle Diversifizierung seiner Energiequellen.
Trotz des erklärten Ziels der EU, rasch und umfassend auf erneuerbare Energien umzustellen, gilt Gas weiter als Brückenenergie. Schon Deutschland wollte mit den Nordstream-Pipelines davon profitieren. Doch kriegsbedingt sind die Gas-Hubs an der Ostflanke passé. Das wollen die Länder nutzen, die über die Gas-Terminals an Europas Südflanke verfügen. Italien und Spanien versuchen gerade, neue Pipelineprojekte für Gas aus Nordafrika oder aus LNG-Terminals zu realisieren.