Eine neue Schlacht um Aleppo
Der erneute Fall Aleppos an die Rebellen könnte das Machtgefüge in Syrien nachhaltig verändern. Während Assad und seine Verbündeten unter Druck stehen, formiert sich die Opposition in einer seltenen Einigkeit.
Zwischen 2012 und 2016 stand Aleppo im Fokus des syrischen Bürgerkriegs. Die Stadt war jahrelang von Rebellen besetzt, bis der syrische Machthaber Baschar al-Assad Aleppo in einer blutigen Schlacht Ende 2016 zurückeroberte. Nun ist Aleppo erneut zum Schauplatz des Bürgerkrieges geworden. Rund acht Jahre nach der Rückeroberung durch die Regierungstruppen haben Rebellen die Stadt und weite Teile des Umlandes Ende November erneut unter ihre Kontrolle gebracht.
Der Zeitpunkt ist nicht zufällig, denn das syrische Regime ist so geschwächt wie lange nicht mehr. Während Russland Assad 2016 bei der Rückeroberung Aleppos mit seiner Luftwaffe unterstützte, erhielten die syrischen Bodentruppen Unterstützung durch schiitische Milizen, organisiert von der Hisbollah und dem Iran. Heute haben sich die Machtverhältnisse verschoben. Zwar flogen russische Jets bereits Angriffe gegen die Rebellen, doch Russland kann in der aktuellen Situation nur begrenzte Ressourcen bereitstellen. Der Krieg in der Ukraine bindet erhebliche militärische Kapazitäten und lenkt Moskaus Aufmerksamkeit von Syrien ab.
Schiitische Milizen, insbesondere die Hisbollah, sind durch den anhaltenden Krieg mit Israel und interne Verluste erheblich geschwächt. Der Iran, traditionell einer der engsten Verbündeten Assads, kämpft seinerseits mit wirtschaftlichen und militärischen Belastungen, die sich durch den Konflikt mit Israel verschärfen.
Zerfall Syriens in unterschiedliche Einflussgebiete
Der seit 2011 andauernde Bürgerkrieg hat Syrien in diverse Einflussgebiete zersplittert, die von unterschiedlichen Akteuren kontrolliert werden. Die syrische Regierung unter Präsident Baschar al-Assad kontrolliert weite Teile des Westens und Zentrums des Landes, einschließlich der Hauptstadt Damaskus. Im Nordwesten, insbesondere in der Provinz Idlib, dominieren verschiedene Rebellengruppen unter dem Schutz der Türkei, die 2017 in den Norden Syriens einmarschiert war, um den Einfluss kurdischer Milizen an der syrisch-türkischen Grenze einzudämmen. Entlang der nördlichen Grenze hat die Türkei Pufferzonen eingerichtet. Diese Gebiete werden von der Türkei und mit ihr verbündeten syrischen Oppositionsgruppen kontrolliert. Im Nordosten Syriens haben kurdische Kräfte, hauptsächlich die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), autonome Gebiete etabliert. Diese Regionen werden von der Autonomen Administration Nord- und Ostsyriens verwaltet. Die SDF wurden in der Vergangenheit von den USA im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat unterstützt.
Syriens Regierung plante Offensive in Idlib
Trotz seiner geschwächten Partner hat das Assad-Regime seit Mitte November seine Angriffe auf die Rebellengebiete im Nordwesten Syriens intensiviert. Truppenbewegungen deuteten darauf hin, dass das Regime erneut eine Offensive plante, um die letzten verbliebenen Oppositionshochburgen in der Region Idlib zu erobern.
Lange Zeit war die Opposition durch interne Machtkämpfe und ideologische Unterschiede geschwächt. Die Kämpfer, die sich gegen Präsident Baschar al-Assads autokratische Herrschaft stellen, bestanden aus einem uneinheitlichen Patchwork rivalisierender Rebellengruppen. Doch nun hat eine bemerkenswerte Einigung stattgefunden: Unter Führung der Organisation Hayat Tahrir al-Sham vereinten sich die Rebellengruppen und starteten am 27. November eine gemeinsame Bodenoffensive gegen das Assad-Regime unter dem Namen „Abschreckung der Aggression“.
„Es ist unsere Pflicht, unser Volk und sein Land zu verteidigen“, sagte Oberstleutnant Hassan Abdulghany, Sprecher des Kommandos für militärische Operationen der syrischen Opposition, in einer Videoerklärung. „Es ist jedem klar geworden, dass die Milizen des Regimes und ihre Verbündeten, einschließlich der iranischen Söldner, dem syrischen Volk einen offenen Krieg erklärt haben.“
Hayat Tahrir al-Sham führt Rebellion an
Hayat Tahrir al-Sham ist eine ehemalige Al-Qaida-Ablegergruppe, die sich 2017 von ihrem Mutterverband löste und mittlerweile die Kontrolle über Idlib übernommen hat. Ihr Name, übersetzt „Organisation zur Befreiung der Levante“, erinnert an ihre Ursprünge im syrischen Bürgerkrieg. Die Wurzeln von Hayat Tahrir al-Sham liegen in der al-Nusra-Front. Diese wurde 2011 von irakischen Dschihadisten des Islamischen Staates im Irak (ISI) als Gegenspieler Assads in Syrien gegründet. Al-Nusra entwickelte sich zur größten Rebellengruppe im syrischen Bürgerkrieg. Ursprünglich eng mit dem ISI verbunden, zerstritt sich die al-Nusra-Front 2013 mit ihrer Mutterorganisation, als diese eine Fusion zwischen al-Nusra und dem ISI erzwingen wollte. Stattdessen schwor die al-Nusra-Front Al-Qaida die Treue.
Unter ihrem Anführer Abu Mohammed al-Julani eroberte die al-Nusra-Front große Territorien im Norden Syriens. Sie agierte zunehmend wie eine Regierung, erhob Steuern und bot rudimentäre öffentliche Dienste an. 2016 folgte eine strategische Neuausrichtung: Die Nusra-Front benannte sich in Jabhat Fatah al-Sham um und kappte öffentlich die Verbindungen zu Al-Qaida, um internationale Akzeptanz zu gewinnen. Ihr Schwerpunkt lag nun auf der Sicherung und Verwaltung der eroberten Gebiete. Der Kampf gegen Assad geriet in den Hintergrund.
2017 ging aus dieser Entwicklung schließlich Hayat Tahrir al-Sham hervor, die andere islamistische und gemäßigte Gruppen absorbierte. Hayat Tahrir al-Sham etablierte Verwaltungsstrukturen in Idlib, kooperierte mit westlichen Hilfsorganisationen und ließ internationale Journalisten einreisen, um ihre Legitimität zu stärken. Zudem kooperierte sie mit der Türkei, die 2017 in Idlib einmarschierte, um einen vorübergehenden Waffenstillstand aufrecht zu erhalten.
2020 brachen heftige Kämpfe um Idlib aus, nachdem Regierungstruppen versuchten die Provinz wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein von Russland und der Türkei vermittelter Waffenstillstand zwischen dem Assad-Regime und den Rebellengruppen sorgte schließlich für eine bröckelige Waffenruhe. Diese nutzte Hayat Tahrir al-Sham, um ihre Strukturen zu professionalisieren. Die Gruppe verbesserte ihre militärischen Fähigkeiten und baute ihre Autorität aus, sodass sich andere Rebellengruppen in der Region ihr anschlossen.
Türkei stärkt Rebellengruppen
Die Türkei spielt bei dem Erstarken der Organisation eine Schlüsselrolle. Türkische Militärbasen und Artillerie schützen die von Hayat Tahrir al-Sham besetzten Territorien vor Angriffen der Assad-Regierung, während humanitäre Hilfe, Treibstoff und militärische Ausrüstung aus der Türkei nach Idlib fließen. Beobachter vermuten eine stillschweigende Zusammenarbeit zwischen Hayat Tahrir al-Sham und der Türkei – auch in der aktuellen Eskalation. „Ohne eine türkische Duldung und vielleicht sogar türkische Unterstützung wäre diese Offensive gar nicht möglich gewesen“, sagt Nahostexperte Guido Steinberg in einem Interview mit der Tagesschau.
Experten glauben, dass die Türkei diese Entwicklung auch als Druckmittel gegenüber dem Assad-Regime einsetzt, um eigene strategische Interessen durchzusetzen – insbesondere in Bezug auf die Eindämmung kurdischer Autonomiebestrebungen im Norden Syriens. „Ich vermute, dass die Türkei längerfristig große Teile von Nord- und Ostsyrien einer zumindest indirekten Kontrolle unterwerfen und damit vor allem das kurdische Autonomiegebiet im Nordosten Syriens in Schach halten oder sogar beseitigen will. Dort herrscht nämlich ein Ableger der türkischen PKK“, sagt Steinberg.
Eine Ungewisse Zukunft für Syrien
Eine Rückeroberung Aleppos stellt das Assad-Regime vor enorme Herausforderungen. Während der Verlust der Stadt einen massiven strategischen Rückschlag bedeutet, birgt die neue Situation auch Gefahren für die Rebellen. Aleppo ist kulturell und politisch heterogener als die von Hayat Tahrir al-Sham kontrollierten Gebiete in Idlib. Es wird für die Gruppierung schwer sein, die Stadt auf ähnliche Weise zu verwalten wie ihre bisherigen Hochburgen, glaubt auch Dareen Khalifa, Syrien-Experte bei der International Crisis Group. „Sie wissen, dass sie Aleppo nicht so regieren können, wie sie Idlib regieren“, erklärt sie in einem Beitrag der New York Times. „Sie werden die Art und Weise, wie sie Dinge durchsetzen, ändern müssen.“
Insbesondere die alawitischen, christlichen und kurdischen Minderheitenviertel Aleppos, die traditionell regimetreu sind, könnten sich als Brennpunkte von Widerstand und Unruhe erweisen. Sie erschweren aber auch eine Rückeroberung der Stadt durch Assads Truppen. „Es wird sehr schwierig für das Regime, in diesen Teilen der Stadt beispielsweise mit Luftwaffe oder schwerer Artillerie anzugreifen, weil sie damit letzten Endes ihre eigene Machtbasis bekämpfen“, so Nahostexperte Steinberg.
Während der Vormarsch der Rebellen Richtung Damaskus weitergeht, haben Verbündete des Assad-Regimes Hilfe in Aussicht gestellt. Als wie effektiv sich diese Hilfe erweist, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.