Neue Normalität im Randmeer
Russlands Position hat sich in der Ostsee radikal verändert. Zu Sowjetzeiten beherrschte der Warschauer Pakt mit seinen Flotten weite Teile dieses Meeres. Heute ist Russland durch den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands an den Rand gedrängt und reagiert mit Aggression und Provokation. Regelmäßig kommt es zu Zwischenfällen.
Das Flottenmanöver „Ozean 2024“, das Russland im September abhielt, war nicht nur kontinent-umspannend, sondern auch das größte seiner Art seit Zerfall der Sowjetunion. Mehr als 400 Kriegsschiffe, 120 Flugzeuge und 90.000 Soldaten nahmen nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau daran teil – eine Übung der Superlative, wie sie die Welt seit drei Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Erprobt wurden Hochpräzisionswaffen und die Zerstörung feindlicher Stellungen. Die „Ozean“-Manöverreihe war schon zu Sowjetzeiten ein Fixpunkt im Machtgebaren des Kreml. Schon damals sollte der Welt gezeigt werden, wie kriegsbereit die Flotte des Riesenreichs war. Das Übungsgebiet lag damals wie heute im Arktischen Ozean, im Pazifik, im Mittelmeer – und in der Ostsee.
Geografisch gesehen ist die Ostsee ein kleines Randmeer, versteckt hinter dem Skandinavischen Gebirge und der Halbinsel Jütland, mehr Binnensee als Meer. Nur drei Zugänge verbinden die Ostsee mit dem Atlantik, einer schmaler als der andere: Großer und Kleiner Belt sowie Öresund. Nicht weniger als 30 Jahre dauert es, bis das Wasser der Ostsee einmal komplett ausgetauscht ist. So klein und geografisch randständig die Ostsee auch ist – für die angrenzenden Staaten ist sie von kaum zu überschätzender Bedeutung. So läuft beispielsweise der finnische Handelsverkehr zu 95 Prozent über die Ostsee. Selbst Russland exportiert nach wie vor ein Drittel seines Öls über die Ostsee. Für Polen, die baltischen Staaten, Finnland und Schweden stellt die Ostsee den einzigen Zugang zu den globalen Seewegen dar. Fundamentale Wirtschaftsinteressen sind hier eng verwoben mit militärischen Ambitionen.
Die Ostsee ist mit 377.000 Quadratkilometern Fläche ein wenig größer als Deutschland – aber auf ihrem Wasser und an ihren Ufern konzentriert sich ein Militärarsenal, das weltweit seinesgleichen sucht. Russland und die NATO stoßen hier auf engstem Raum direkt aufeinander. Das war schon im Kalten Krieg so, aber inzwischen haben sich die Gewichte durch die neuen NATO-Mitglieder von Polen bis Finnland stark zu Ungunsten Russlands verschoben, auch wenn seine Ostsee-Flotte mit 45 Kriegsschiffen und U-Booten und 3.000 Marinesoldaten noch immer die stärkste Marine in der Region ist.
Aggressivität und Provokationen
Moskau versucht seine verschlechterte strategische Position durch zunehmende Aggressivität auszugleichen. Die ständigen russischen Provokationen machen die Ostsee mehr und mehr zu einer gefährlichen Seeregion. „Die Ostsee wirkt bereits seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2014 wie ein Brennglas der angespannten Beziehungen zwischen der NATO und der Russischen Föderation“, so Julian Pawlak, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität und des Bundeswehr-Thinktanks GIDS in Hamburg im Gespräch mit loyal. Schon 2016 überflogen russische Bomber vom Typ SU-24 den US-Lenkwaffenzerstörer USS Donald Cook in der Ostsee, erinnert Pawlak.
Inzwischen melden Medien fast jede Woche irgendeinen Zwischenfall in der Region. So bewegen sich russische Militärflugzeuge ohne Flugplan, Transponderkennung und ohne Kontakt zur Flugsicherung im internationalen Luftraum. Mal handelt es sich um Aufklärer vom Typ IL-20M, mal um SU-24-Bomber. Zuweilen dringen die Russen sogar in nationale Hoheitsgebiete ein, wie im Juni geschehen, als ein russischer Bomber die schwedische Ostseeinsel Gotland überquerte. In den meisten Fällen verfolgt die NATO die russischen Rücksichtslosigkeiten passiv, zumal wenn sich die Maschinen unauffällig verhalten oder schnell wieder in den eigenen Luftraum zurückkehren. Immer öfter aber steigen Abfangjäger der Allianz auf und begleiten die ungebetenen Gäste – wie im Falle des Gotland-Zwischenfalls zwei schwedische Kampfjets. Mitte August stiegen deutsche Eurofighter auf, um mal wieder einen Russen am Himmel über der Ostsee in Augenschein zu nehmen. Sie bannen damit auch die Gefahr für den zivilen Luftverkehr, die von den russischen Geisterfliegern ausgeht.
Ein besonders gefährliches Spiel treiben die Russen mit der Störung des GPS-Empfangs über der Ostsee. Vor allem in der Exklave Kaliningrad betreibt Moskau entsprechende Störanlagen. Die meisten GPS-Störungen werden im Bereich Estland und Lettland registriert, aber auch Finnland und Polen sind betroffen, manchmal auch Dänemark und der Nordosten Deutschlands. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hätten die Störungen signifikant zugenommen, sagen Experten. Laut der finnischen Agentur für Transport und Kommunikation Traficom gab es allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres 1.200 GPS-Störungen – eine dramatische Zunahme. Im vergangenen Jahr lag die Zahl bei 239, 2022 bei 65 und 2021 bei acht. Vor allem für die Luft- und die Schifffahrt sind GPS-Störungen gefährlich. Zuweilen müssen Piloten und Kapitäne auf ihr Wissen aus dem vordigitalen Zeitalter zurückgreifen und mit Karte und Kompass navigieren.
„Dreidimensionales Schach“
Auf See rücken Schiffe der russischen Marine westlichen Einheiten manchmal bedrohlich nah auf den Pelz. So geschehen kürzlich bei einer Ausbildungs- und Übungsfahrt des deutschen U-Boots U33 in der Ostsee. Ein russisches Aufklärungsschiff der Wischnja-Klasse war U33 ständig auf den Fersen, später kamen zwei auf die U-Boot-Jagd spezialisierte Korvetten der Stereguschtschij-Klasse hinzu, die Bojkij und die Soobrazitelnij – mit gefechtsmäßig aufgerüsteten Mannschaften. Sobald U33 abtauchte, hielt eine der Korvetten auf die Stelle zu, wohl in der Hoffnung, dem U-Boot das Sehrohr abzufahren. „Dreidimensionales Schach“ nennen die U-Boot-Fahrer das Katz-und-Maus-Spiel mit den Russen. Bislang ist es noch gut gegangen, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die Russen bei diesen Spielchen auch einmal ein NATO-Boot beschädigen und Menschenleben gefährden.
Erhöht wird diese Gefahr noch dadurch, dass Russland bestrebt ist, die Seegrenzen zu verschieben und somit Unklarheit schafft, wo internationale Regeln überhaupt noch gelten. Im Frühjahr veröffentlichte das russische Außenministerium einen Text, nach dem die noch zu Sowjetzeiten festgelegten Seegrenzen zu Finnland, Estland und Litauen wegen angeblicher kartografischer Ungenauigkeiten „angepasst“ werden müssten. Das Papier sorgte in der Region für Entsetzen. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis nannte es eine „offensichtliche Eskalation“ und forderte eine entschiedene Antwort des Westens.
Dass die Sorge um Grenzverschiebungen im Ostsee-Raum nicht nur auf russischen Stellungnahmen beruht, sondern diese handfest betrieben werden, zeigte sich zur selben Zeit, als Russen aus dem Grenzfluss Narva zu Estland mehrere Navigationsbojen entfernten. Sie sollten eigentlich die Schifffahrtsrouten dort markieren. Die estnischen Grenzschützer staunten nicht schlecht, als sie an einem Morgen im Mai entdeckten, dass 24 der 50 Bojen verschwunden waren. Estlands Grenzschutz-Chef Egert Belitsev sprach von „einem weiteren Akt der Provokation seitens Russlands“. Und die estnische Regierungschefin Kaja Kallas sah darin „ein breiteres Muster, bei dem Russland versucht, mit seinem Vorgehen Angst zu säen.“
Spionage unter dem Deckmantel der Forschung
Moskau will vor allem mögliche Schwachstellen des Westens identifizieren. Dazu betreibt es massiv Spionage entlang der Infrastruktur. Wie verletzlich die ist, hatte die Sprengung der Nordstream-2-Pipeline im September 2022 gezeigt – ein Vorfall, der bis heute trotz eines ergangenen Haftbefehls gegen einen Ukrainer nicht aufgeklärt ist. Ein internationales Rechercheprojekt mehrerer westlicher Medien hat kürzlich die Dimension der russischen Spionage in der Ostsee offengelegt. Als Forschungsschiffe getarnte Spionageboote durchkreuzen die Ostsee und kundschaften den Meeresboden mitsamt den dort liegenden Versorgungsleitungen und Kommunikationskabeln aus. An Bord sollen auch bewaffnete Kräfte sein.
Eines dieser Boote, die Goriglezhan, wurde den Berichten zufolge von der Bundespolizei mitten im Windpark Arcadis Ost 1 vor Rügen trotz abgestellten Transponders entdeckt und von dort verscheucht. Unter dem Deckmantel der hydrografischen Forschung, so die Recherchen, werden Daten- und Energiekabel, militärische Infrastruktur und Windparks ausspioniert. Auch Drohnen über Deutschland, so wie mehrfach über dem ChemCoast-Park Brunsbüttel gesichtet, einem großen Industriegebiet für Unternehmen der Chemie- und Mineralölwirtschaft, dürften von Russen gesteuert werden. Die Staatsanwaltschaft Flensburg ermittelt wegen des Verdachts der Agententätigkeit zu Sabotagezwecken. Auch über Bundeswehrliegenschaften wurden unidentifizierte Drohnen entdeckt. Auf dem NATO-Stützpunkt Geilenkirchen in Nordrhein-Westfalen, wo eine der beiden AWACS-Frühwarnflotten des Bündnisses stationiert ist, wurde Ende August wegen einer Drohnensichtung die Sicherheitsstufe „Charlie“ ausgerufen. Das bedeutet: Es ist ein Zwischenfall eingetreten oder es liegen Erkenntnisse vor, dass eine Form von terroristischen Aktionen gegen das Bündnis sehr wahrscheinlich ist.
Was jahrzehntelang undenkbar schien, ist inzwischen Wirklichkeit geworden: Aus Angst vor Moskau haben die traditionell neutralen Ostseeanrainer Schweden und Finnland Schutz unter dem NATO-Schirm gesucht und sind Mitglieder der Allianz geworden. Im Grunde ist die Ostsee seither ein NATO-Meer. Russland verbleibt nur noch ein Zipfel Zugang am hintersten Ende des Finnischen Meerbusens, wo Sankt Petersburg liegt, sowie die zwischen Polen und Litauen eingeklemmte Exklave Kaliningrad. Diesen großflächigen Kontrollverlust versucht es mit Aggressivität wettzumachen. Russland testet die Allianz, wo es nur kann. Der finnische Staatspräsident Alexander Stubb spricht in diesem Zusammenhang von einer „neuen Normalität“. Es ist eine gefährliche Normalität, denn aus ihr kann jederzeit ein schwerer militärischer Zwischenfall erwachsen, wenn nicht sogar ein Krieg Russlands mit dem Westen.
Zur Zeit der Blockkonfrontation im Kalten Krieg war die Lage in der Ostsee berechenbarer als heute, die Claims waren abgesteckt. Im Westen befand sich die NATO mit den Ostseeanrainern Norwegen, Dänemark und Bundesrepublik Deutschland. Die Aufgabe ihrer Marinen war im Ernstfall, die drei Ostsee-Ausgänge zu verschließen, damit die mächtige Sowjetflotte nicht in den Nordatlantik vordringen konnte. Jagdbomber, Minenleger, Schnellboote und U-Boote waren für den Westen damals das Mittel der Wahl. Die westliche Strategie war das, was man heute A2/AD nennt: anti access/area denial – das Dichtmachen von Räumen.
Bruch der Kooperation
Der Warschauer Pakt hingegen war offensiv ausgerichtet: Die Marinen der Sowjetunion, Polens und der DDR wären im Ernstfall zur Vereinigten Ostseeflotte verschmolzen, die versucht hätte, eine Verbindung zur sowjetischen Nordflotte herzustellen. Dazu war die Anlandung in Schleswig-Holstein und die Eroberung der Halbinsel Jütland vorgesehen, weshalb der Warschauer Pakt umfangreiche amphibische Kräfte vorhielt. Die Planungen des Warschauer Pakts sahen vor, das ist seit der Öffnung der Archive bekannt, dass Verbände Polens, der Nationalen Volksarmee der DDR und der Sowjetarmee innerhalb kürzester Zeit bis in die Niederlande, ja sogar bis an die französische Kanalküste vorstoßen sollten, auch unter Einsatz einer großen Zahl taktischer Atombomben.
„Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kehrte Ruhe in die Ostsee sein“, sagt Korvettenkapitän Helge Adrians, der zurzeit als Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin forscht, zu loyal. „1994 startete die NATO das Partnership-for-Peace-Programm. Zu den ersten Mitgliedern zählte Russland. Es nahm in der Folge an gemeinsamen Manövern teil, wie etwa der US-Übung BALTOPS.“ In jener Zeit waren russische Kriegsschiffe auch gern gesehene Gäste bei der Kieler Woche. Das ist längst vorbei. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 durch Russland führte zu einem Bruch der Kooperation. „Die Ostsee hat sich daraufhin wieder zu einem Meer der Konfrontation entwickelt“, sagt Adrians.
Das Problem für den Westen: Während die russische Flotte in der Ostsee ihre offensiven Fähigkeiten behalten und teilweise sogar, etwa durch Marschflugkörper, erneuert hat, gab es auf NATO-Seite in den vergangenen 30 Jahren keine signifikante Entwicklung der Fähigkeiten. Adrians weist darauf hin, dass sich Dänemark von seiner gesamten U-Boot-Flotte sowie den Anti-Schiff-Flugkörpern und Deutschland sich von seinen Marine-Jagdbombern getrennt hat. Auch anderswo sieht es düster aus: „Polens Marine altert zusehends, die Marinen der baltischen Staaten sind klein und basieren hauptsächlich auf westlichen Zuwendungen“, so Adrians. Polens Ambition, die mächtigste NATO-Landmacht in Europa werden zu wollen, steht im krassen Gegensatz zur Vernachlässigung seiner Marine.
NATO verstärkt Präsenz
Allerdings zeigt die NATO insgesamt verstärkt Präsenz. Vier internationale Battlegroups sind allein im Baltikum präsent. Schweden beabsichtigt, demnächst ein Bataillon nach Lettland zu entsenden, Deutschland will eine Kampfbrigade in Litauen stationieren. Dies ist dringend geboten, denn die kleinen Armeen der baltischen Staaten reichen zur Verteidigung keinesfalls aus. Weil sie über keine Luftwaffe verfügen, übernahm die NATO dort bereits vor geraumer Zeit das Air Policing, an dem sich auch immer wieder die deutsche Luftwaffe beteiligt. In Finnland entsteht ein NATO-Hauptquartier unter schwedischer Führung, das für die Verteidigung der Nordflanke zuständig sein soll. Es wird das seit 1999 bestehende Multinationale Korps Nordost der NATO im polnischen Stettin ergänzen, das für Polen und das Baltikum zuständig ist. In Deutschland wurde soeben ein taktisches NATO-Hauptquartier eröffnet, das die NATO-Seestreitkräfte in der Ostsee führt.
Als Hinzugewinn für die Sicherheit im Ostseeraum kann der NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands gar nicht hoch genug eingeschätzt werden – nicht nur in Bezug auf den Ostseeraum, sondern darüber hinaus durch die Nähe zu den russischen Stützpunkten auf der Halbinsel Kola, maßgeblicher Standort von Russlands nuklearer Zweitschlagsfähigkeit. Die gefürchtete Suwalki-Lücke, die schmale Landverbindung zwischen den NATO-Mitgliedern Polen und Litauen, die als schwer zu verteidigen gilt, treibt den NATO-Planern durch den Beitritt Schwedens und Finnland inzwischen weniger Sorgenfalten auf die Stirn. Im Kriegsfall könnte jetzt nämlich Estland über Finnland versorgt werden und Lettland und Litauen aus Schweden über dessen Insel Gotland. Adrians weist allerdings darauf hin, dass dafür der Luft- und Seeraum abgesichert sein müsste, und es müssten genügend Transportschiffe zur Verfügung stehen.
In jeder strategischen Überlegung zu einem künftigen Krieg im Ostseeraum spielt Gotland eine entscheidende Rolle – auf russischer Seite ebenso wie auf westlicher. Gotland liegt mitten in der Ostsee und ist mit 3.000 Quadratkilometern etwa so groß wie Rügen. Seit 200 Jahren herrscht dort Frieden, sogar im Ersten und Zweiten Weltkrieg war das der Fall. Doch der russische Krieg in der Ukraine hat in Schweden zu einem Umdenken geführt. Die Bevölkerung hat einen starken Verteidigungswillen, die Regierung setzt knallhart auf Abschreckung gegenüber Russland.
Gotland ist als Insel ein „unsinkbarer Flugzeugträger“ und ein Schlüsselobjekt zur Beherrschung der gesamten Ostsee. Schon 2018 begann Schweden, die Insel zu remilitarisieren. Stockholm hat angekündigt, die Militärpräsenz auf seiner wichtigsten Insel massiv zu verstärken. Waren 2023 dort 400 Mann stationiert, so sollen in den kommenden Jahren 4.500 Soldaten dauerhaft verlegt werden. Schon heute sind Leopard-2-Panzer, CV-90-Schützenpanzer und U-Boote der Gotland-Klasse Teil des Abschreckungsszenarios rund um Gotland.
In diesem Sommer übten 12.000 NATO-Soldaten aus 19 Ländern auf der Insel. Dass Russlands Machthaber Putin ein Auge auf Gotland geworfen hat, zeigte schon eine Stabsrahmenübung der russischen Ostseeflotte 2015. Dabei wurde trainiert, wie Gotland im Handstreich zu nehmen sei, um die Bewegungsfreiheit der NATO in der Ostsee einzuschränken und einen strategisch äußerst günstigen Vorposten für das nur 350 Kilometer entfernte Kaliningrad zu gewinnen. Damals war Schweden noch neutral. Heute würde Russland bei einem Angriff auf Gotland den NATO-Bündnisfall auslösen.
Die zweite strategisch extrem wichtige Region im Ostseeraum ist die Oblast Kaliningrad, das am weitesten in den Westen vorgeschobene Territorium Russlands. Das Gebiet beiderseits des Flusses Pregel ist Teil des früheren Ostpreußens und fiel der Sowjetunion nach der Niederlage des Dritten Reichs in die Hände. Hauptstadt ist Kaliningrad, das frühere Königsberg. Die Exklave ist mit 15.000 Quadratkilometern Fläche etwas kleiner als Thüringen und hat keine direkte Landverbindung zu Russland. Von der Russischen Föderation ist es durch Litauen beziehungsweise Polen und Weißrussland getrennt. Die Küste ist 160 Kilometer lang. In der Oblast Kaliningrad leben rund 950.000 Menschen.
„Bewaffnete Faust in der Ostsee“
Kaliningrad galt schon zu Sowjetzeiten als „bewaffnete Faust der UdSSR an der Ostsee“. Im Kalten Krieg waren dort sage und schreibe 500.000 Soldaten stationiert. Auch heute ist es ein hochmilitarisierter Bezirk, obwohl Russland wegen der Invasion in der Ukraine Truppen aus dem Ostseeraum abgezogen hat. Russland kann von hier aus militärisch sowohl auf die polnische als auch auf die litauische Ostseeküste direkt einwirken – und zwar von der Seeseite aus ebenso wie vom Land her. Es kann die Suwalki-Lücke schließen, indem es einen Keil zwischen Litauen und Polen bis zur weißrussischen Grenze treibt. Und es hat in Kaliningrad atomar bestückbare Mittelstreckenraketen der Typen Iskander-M und Sarmat stationiert, die in weniger als zwei Stunden Berlin, Leipzig oder Kopenhagen erreichen können. Darüber hinaus verlegte Moskau 2022 Hyperschallraketen vom Typ Kinchal in die Oblast. Dass der Westen angesichts der Bedrohung durch diese Waffen nun seinerseits mit der Stationierung von amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörpern und Standard-Missile-6-Raketen in Deutschland reagiert, ist nur folgerichtig.
In der NATO wird Kaliningrad als geostrategisches Problem wahrgenommen und als feindliche Festung inmitten heimischen Gebiets angesehen. Aus russischer Perspektive stehen den Vorteilen der weit westlich gelegenen Basis allerdings erhebliche Nachteile entgegen, die der NATO zum Vorteil gereichen. Truppenzuführungen sind nur über See oder auf dem Luftweg möglich. Trotz stark ausgebauter Flugabwehr wäre Kaliningrad schwer zu verteidigen oder bei einer Blockade zu versorgen. Eine see- und landseitige Blockade Kaliningrads durch die NATO läge daher auf der Hand. Kaliningrad könnte auch von See her ins Visier der NATO genommen und gleichzeitig von zwei Seiten im Norden und im Süden, aus Litauen und aus Polen, in die Zange genommen werden. Würde die NATO nach einem russischen Angriff auf die Allianz Kaliningrad einnehmen, würde das Bündnis einen erheblichen Teil des russischen Militärpotenzials im Ostseeraum neutralisieren. Kein Wunder also, dass Moskau Kaliningrad als „verwundbares Problem“ ansieht, wie GIDS-Analytiker Pawlak gegenüber loyal sagt: eine gefährdete Insel mitten in Feindesgebiet.
Seeweg endet nicht in Sankt Petersburg
Vor einem vergleichbaren Problem steht Russland auch an seinem anderen Ostsee-Zugang, in Sankt Petersburg. Dort sieht es sich den NATO-Mitgliedern Finnland und Estland gegenüber. Einer Blockade des Finnischen Meerbusens durch die NATO könnte Russland nur entgehen, indem es die Wasserwege im Hinterland von Sankt Petersburg nutzt. Dort hätte Russland anders als in Kaliningrad zumindest einen Hinterausgang, schreiben Göran Swistek und Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik in einer Analyse von Januar 2023 zur Geopolitik im Ostseeraum. Denn: „Der Seeweg endet nicht in Sankt Petersburg, sondern setzt sich über Flüsse, Seen und Kanäle nach Süden ins russische Kernland, nach Norden zum Weißen Meer fort – einem Nebenmeer der Arktis, die immer eisfreier wird.“ Und tatsächlich hat Russland auch schon erfolgreich geübt, kleinere Kriegsschiffe über diese inneren Wasserwege von der Ostsee ins Weiße Meer zu verlegen. Da der maritime Güterverkehr in Sankt Petersburg nach Recherchen der Autoren aber bei 300 Millionen Tonnen liegt, darf bezweifelt werden, ob Russland im Ernstfall diesen Umschlag allein durch Binnenschiffe im Hinterland ausgleichen könnte.
So martialisch, aggressiv und provokant Russland auch im Ostseeraum auftritt – die Beispiele Kaliningrad und Sankt Petersburg zeigen, dass Putins Imperium verletzlich ist. Auf die Frage von loyal nach der größten Verwundbarkeit Russlands verwies Sicherheitsexperte Michael Paul von der SWP jedoch auf etwas ganz anderes: Die größte Verwundbarkeit Russlands liege, so Paul, „politisch und militärisch im autoritären System, das keinen Widerspruch duldet und beratungsresistent ist und daher mehr und mehr Fehlentscheidungen produziert.“
Podium zum „Hotspot Ostsee“
Der Reservistenverband hat sich auf der Münchener Sicherheitskonferenz im vergangenen Jahr in einer Podiumsdiskussion mit der Situation im Ostseeraum beschäftigt. Überschrieben war die Veranstaltung mit dem Titel „Hotspot Ostsee – Zur strategischen Dimension der maritimen NATO-Ostflanke“. Verbandspräsident Oberst d.R. Prof. Dr. Patrick Sensburg hob die Bedeutung der Ostsee für Europa, ja für die globale Machtbalance hervor: „Die wachsende Spannung im Ostseeraum konnte schon seit Jahren wahrgenommen werden. Die Russische Föderation hat sich zum Ziel gesetzt, ihren Einfluss auf die Staaten an ihren Westgrenzen auszudehnen.“ Dabei spiele die Ostsee eine wichtige Rolle. An der Diskussion nahmen neben Sensburg der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur, sein finnischer Kollege Mikko Savola, Flotillenadmiral Sascha Helge Rackwitz, der Militärhistoriker Sönke Neitzel und Verbands-Vizepräsident für Sicherheitspolitik Oberst a.D. Joachim Sanden teil.