Personal, wo bist du?
Die Bundeswehr hat ein massives Personalproblem. Es bewerben sich zu wenige junge Menschen, viele springen wieder ab und diejenigen, die schon länger dabei sind, verpflichten sich oft nicht weiter. Eigentlich sollte die Bundeswehr bis zum Jahr 2031 auf 203.000 Soldaten anwachsen. Experten meinen: ein total unrealistisches Ziel.
Es klingt eindrucksvoll: Bis 2025, also bis in zwei Jahren, soll eine komplette Division des Heeres voll aufgestellt sein. Eine Division, das sind 10.000 bis 30.000 Soldaten. Das kündigte Kanzler Scholz vergangenen Juni auf dem NATO-Gipfel in Madrid an. Die Division 2025 ist vor allem ein Versprechen an die NATO: Wenn Russland die NATO-Mitglieder im Osten angreifen sollte, dann wäre die deutsche Division schnell zur Stelle. „Kaltstartfähig“ solle die Division deshalb auch sein, so der Kanzler. Also von jetzt auf gleich verlegen können.
Kenner der Bundeswehr halten diese Vorgaben für völlig unrealistisch. Niemand weiß, wo so schnell die Ausrüstung für eine „kaltstartfähige“ Division herkommen soll. Aber abgesehen vom Gerät: Wie soll „Kaltstartfähigkeit“ in Sachen Personal funktionieren? loyal hat mit einigen Soldaten gesprochen, die nicht namentlich genannt werden wollen. Der Tenor: Es herrscht großer Ärger darüber, dass sich noch niemand Gedanken gemacht hat, was erhöhte Einsatzbereitschaft konkret für sie heißt.
Wer ist überhaupt körperlich einsatzfähig, also fit genug für den Kampf an der Ostflanke? Wie viele können schnell weg von Familie und anderen Verpflichtungen? Was machen alleinerziehende Soldaten oder Soldatenpaare mit ihren Kindern, wenn sie von jetzt auf gleich an die Ostflanke geschickt werden? Die Bundeswehr hat auf diese Fragen noch keine Antworten. Sie weiß nicht einmal, wie fit jeder einzelne Soldat ist oder wie schnell er im Notfall von zu Hause weg kann. Es gibt darüber keine Daten. Geschweige denn Pläne, was man mit denjenigen macht, die körperlich nicht den Anforderungen genügen oder die keine Möglichkeiten haben, ihre Kinder oder pflegebedürftigen Verwandten anderweitig betreuen zu lassen.
Massives Personalproblem
Die Bundeswehr macht stattdessen Pläne zu Umschichtungen im Personalkörper und der Neuaufstellung von Einheiten. Für das Verteidigungsministerium ist klar, dass Personal für die Division 2025 auch aus der Sanität, der Streitkräftebasis oder dem Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum kommen muss. Unter anderem beabsichtigt das Ministerium, ein zusätzliches Logistikbataillon mit rund 1.000 militärischen Dienstposten, zwei zusätzliche ABC-Abwehrkompanien mit etwa 700 militärischen Dienstposten und eine zusätzliche Feldjägerkompanie mit rund 200 militärischen Dienstposten aufzustellen. Nur: Wo soll all das Personal herkommen?
Denn klar ist: Die Bundeswehr hat ein massives Personalproblem. Woran es nicht fehlt, sind wohltönende Zielvorgaben: Neben der Division 2025 gibt es ja noch das Ziel, die Bundeswehr bis 2031 auf 203.000 Soldaten aufwachsen zu lassen. Diese Marke hatte bereits die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen vor vier Jahren ausgegeben. Im Moment zählt die Bundeswehr knapp über 183.000 Soldaten und auf diesem Niveau dümpelt sie jetzt schon seit mehreren Jahren.
Und es wird nicht besser werden, eher schlechter: Denn es bewerben sich immer weniger Menschen bei der Bundeswehr. Im vergangenen Jahr waren es 43.900 Personen, die Soldat werden wollten. Zwischen den Jahren 2010 und 2022 waren es immer zwischen 52.000 und 59.000 gewesen. Ein massiver Bewerberschwund. Die Gründe für den Bewerberrückgang liegen auf der Hand: Wegen des demografischen Wandels gibt es einfach weniger Schulabgänger als früher. Und den wenigen, die es gibt, steht eine unendliche Auswahl an verschiedenen Berufsmöglichkeiten zur Verfügung. Nicht nur die Bundeswehr sucht nach Personal, das tun auch fast alle anderen Bundesbehörden und zivilen Arbeitgeber.
Von den wenigen Bewerbern werden mehr genommen
Die Personaler der Bundeswehr behelfen sich damit, das vorhandene Bewerberaufkommen „besser abzuschöpfen“, wie es in Bundeswehrdeutsch heißt. Sprich: Von den vorhandenen wenigen Bewerbern nehmen sie einfach mehr. Im vergangenen Jahr wurden 18.770 Personen neu bei der Bundeswehr für den militärischen Dienst eingestellt. Die Bundeswehr nimmt also fast jeden zweiten Bewerber. Personalchefs in zivilen Unternehmen würden bei dieser Quote die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Um einen passenden neuen Mitarbeiter zu finden, gilt eine Quote von vier Bewerbern auf eine Stelle als absolutes Minimum. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei so wenig Bewerbern wirklich die qualifiziertesten und motiviertesten in die Bundeswehr kommen, ist gering.
Obwohl die Bundeswehr aus den vorhandenen Bewerbungen bereits sehr viele einstellt, sind immer noch zahlreiche Dienstposten unbesetzt. Zum Stichtag 31. Dezember 2022 gab es von den 117.987 militärischen Dienstposten oberhalb der Laufbahn der Mannschaften 18.692 unbesetzte Dienstposten. Das entspricht 15,8 Prozent. Derartig hohe Lücken gibt es seit Jahren. Bei den Unteroffizieren sind in manchen Bereichen sogar fast 40 Prozent der Dienstposten unbesetzt. Besonders schlimm ist es in der Marine, und da vor allem bei den seegehenden Einheiten. Es gibt nicht mehr viele junge Menschen, die wochenlang auf engstem Raum auf See verbringen wollen. Dementsprechend niedrig sind die Bewerberzahlen, vor allem bei den Unteroffizieren und Mannschaften.
Die wenigen Marinesoldaten, die es noch gibt, müssen deshalb oft eine hohe Last schultern. Der Bericht der Wehrbeauftragten gibt ein Beispiel: Weil er fast ohne Pause in Übungen und Auslandseinsätzen unterwegs war, hatte ein Obermaat im Jahr 2021 noch keinen einzigen Urlaubstag seiner ihm zustehenden 28 Tage verbraucht. Dazu hatte er so viel Überstunden gemacht, dass er weitere 78 Stunden Anspruch auf Dienstbefreiung und 15 Tage Freistellung vom Dienst angesammelt hatte. In der Summe also fünf Wochen frei zusätzlich zu seinem ihm zustehenden Urlaub. Die Überlastung des bestehenden Personals ist nicht nur untragbar für die betroffenen Soldaten selbst. Überlastete Soldaten werden auch kaum für die Bundeswehr als Arbeitgeber werben. Das ist schlecht: Denn am besten funktioniert Personalwerbung immer noch, wenn das bestehende Personal positiv über die eigene Arbeit spricht und als Multiplikator in Sachen Personalwerbung wirkt.
An den Werbemaßnahmen liegt es nicht
An der Personalwerbung, die die Bundeswehr selbst verantwortet, liegt es jedenfalls nicht, dass sich nur wenige junge Menschen bewerben. „Die Marketingmaßnahmen der Bundeswehr zur Personalwerbung sind gut gemacht und auf die Zielgruppe zugeschnitten“, sagt Sascha Stoltenow. Der Kommunikationsberater verfolgt die Werbekampagnen der Bundeswehr seit Jahren. Dem YouTube-Kanal „Bundeswehr Exclusive“, auf dem Serien wie „Die Rekruten“ oder „Mali“ laufen, folgen über 500.000 Personen. Kampagnen auf Instagram oder TikTok erreichen regelmäßig Millionen junge Männer und Frauen. Beim Trendence Schülerbarometer, bei dem im Jahr 2022 über 20.000 Schülerinnen und Schüler zu ihren Wunscharbeitgebern befragt wurden, belegte die Bundeswehr für die Karriereseite und ihre Stellenanzeigen den ersten Platz und den zweiten für ihren Social-Media-Auftritt. Insgesamt lag sie auf Platz zwei bei den beliebtesten Arbeitgebern. Noch vor BMW und Adidas.
Es liegt also weder an den Werbemaßnahmen der Bundeswehr noch an einer grundsätzlichen Unbeliebtheit der Truppe, dass sich so wenige für eine Karriere bei der Bundeswehr entscheiden. „Die Ursachen liegen tiefer, nämlich in der Kultur und in den Prozessen der Bundeswehr“, so Stoltenow. Oft vergrault die Bundeswehr Interessenten schon auf dem Weg zur Einstellung. Etwa wenn in den Karrierecentern unrealistische Versprechungen zu den zukünftigen Einsatzmöglichkeiten gemacht werden, das Personalamt immer neue Dokumente fordert oder die Bewerbungen über Monate nicht bearbeitet werden. Diese Missstände kritisiert die Wehrbeauftragte in ihrem aktuellen Bericht – wie auch ihr Vorgänger Hans-Peter Bartels das schon viele Jahre immer wieder getan hat.
Auch ein Problem: Sind die Bewerber schließlich in der Bundeswehr – entweder als Freiwillig Wehrdienstleistende oder als Zeitsoldaten – brechen viele in der sechsmonatigen Probezeit ihren Dienst wieder ab. Auch hier sind die Zahlen zu hoch: 21 Prozent der Rekruten verlassen die Bundeswehr schon in den ersten Monaten wieder, beim Heer sind es sogar 33 Prozent. Warum? Während die Freiwillig Wehrdienstleistenden häufig private Gründe, ein alternatives Jobangebot, Überforderung oder andere Vorstellungen vom Dienst angeben, werden die Abbruchgründe bei den Zeitsoldaten erst gar nicht wahrheitsgetreu erfasst.
Freiwilliger Wehrdienst nicht beliebt
Apropos Freiwilliger Wehrdienst: Im vergangenen Jahr machten zum Stichtag 31. Dezember 9.163 Frauen und Männer freiwilligen Wehrdienst. Die Zielmarke liegt bei 12.500 Soldaten, diese wurde also klar verfehlt. Das liegt an den wenigen Bewerbern. Insgesamt gab es vergangenes Jahr nur 10.400 Bewerbungen auf den Freiwilligen Wehrdienst. Davon nahm die Bundeswehr also fast alle. Weil so wenige freiwillig Wehrdienst leisten wollen, gibt es im Verteidigungsministerium schon Überlegungen, die Zielmarke auf 8.000 neue Rekruten abzuschmelzen.
Der Freiwillige Wehrdienst ist also nicht besonders beliebt. Doch taugt er wenigstens zum Rekrutierungsinstrument? Verpflichten sich also viele der Wehrpflichtigen länger, wenn sie die Bundeswehr erst einmal kennengelernt haben? Jein. Insgesamt 2.318 von 9.163 Freiwillig Wehrdienstleistenden verpflichteten sich im vergangenen Jahr länger, das sind etwas mehr als ein Viertel. Marineinspekteur Jan Christian Kaack sagte vor einigen Monaten, er fände die Reaktivierung der Wehrpflicht auch deshalb gut, weil die Bundeswehr früher 70 Prozent der Längerdiener aus der Wehrpflicht gezogen habe. Von so einer Quote ist die Bundeswehr derzeit weit entfernt.
Die Bundeswehr täte gut daran, sich zu einem wirklich attraktiven Arbeitgeber zu wandeln. Einem Arbeitgeber, bei dem junge Menschen freiwillig und gerne arbeiten wollen. Dazu gehören: weniger Bürokratie, flexiblere Arbeitszeiten, eine bessere Vereinbarkeit von Dienst und Familie und tatsächlich vorhandenes Gerät für Ausbildung und Dienstalltag. Im Bericht der Wehrbeauftragten findet sich eine weitere Idee: die Anzahl der Bundeswehrstandorte zu reduzieren, auf attraktivere und zentralere Orte. Der Vorschlag könnte für Diskussionen sorgen.