Personalnot macht erfinderisch
Die Bundeswehr soll bis 2031 auf 203.300 Soldaten anwachsen – ein ambitioniertes Ziel. Wie schlägt sich die Bundeswehr im Ringen um neues Personal? Gar nicht so schlecht. loyal hat den Weg potenzieller Bewerber vom Erstkontakt bis zur Einstellung nachvollzogen – mit einem Selbstversuch.
Was haben das Metal-Festival „Wacken Open Air“ und das maritime Volksfest „Warnemünder Woche“ gemeinsam? Auf diesen beiden sonst sehr verschiedenen Veranstaltungen geht die Bundeswehr auf Personalschau. In Infomobilen touren Berater durch Deutschland und suchen das Gespräch mit potenziellen Bewerbern. Das Interesse am Dialog wachse, sagt Karriereberaterin und Oberstabsfeldwebel Melanie Große. Auf dem Seglertreffen „Hanse Sail“ führte das mobile Team zuletzt täglich „teilweise eine dreistellige Anzahl an Gesprächen“ durch. Mit einem Kraftfahrer zusammen besetzt sie eines der bundesweit elf Personalwerbe-Fahrzeuge, die zu Veranstaltungen aller Art ausschwärmen.
Im Inneren des ausgebauten LKW, der gerade auf dem Gelände der Berliner Dahme-Spree-Kaserne parkt, stehen Infomaterialien und Bildschirme bereit, die sich per Touch bedienen lassen – und über die verschiedenen Einsatzbereiche bei der Bundeswehr informieren sollen. Die Schlüsselmomente spielten sich aber meistens vor dem Fahrzeug ab, sagt Große. An Stehtischen kommen Interessenten mit Beratern ins Gespräch – von einer interessierten Nachfrage bis zur tiefer gehenden Beratung. Daneben gehe es oft auch darum, Vorbehalte von Eltern oder gar Großeltern auszuräumen. „Die merken dann schnell, dass wir Soldaten nicht unbedingt so sind, wie es das Klischee oder Vorurteil sagt“, so Große. Vielen sei auch gar nicht bewusst, wie viele zivile Einsatzmöglichkeiten es bei der Bundeswehr gibt. „Wir sind nicht nur der Erstkontakt für potenzielle Bewerber, sondern machen hier auch viel Öffentlichkeitsarbeit“, fasst Große ihre Erfahrungen im Infomobil zusammen.
Die Beratung
Wer sich nach dem unverbindlichen Austausch für den Arbeitgeber Bundeswehr interessiert, kann sich in einem der 110 Karriereberatungsbüros zum Beratungsgespräch anmelden. Allein in Berlin haben die rund 70 Berater nach Angaben des Dezernats Werbung und Beratung im ersten Halbjahr 2024 mehr als 8.500 einstündige Erstberatungsgespräche geführt. Das sind mehr als im Vorjahr, und auch die Anzahl an Bewerbungen stieg zuletzt an. Sind die Beratungen also so überzeugend, dass sich trotz eines angespannten Personalmarkts mehr Kandidaten bewerben? Um das herauszufinden, rufe ich bei der Karriere-Hotline der Bundeswehr an.
Ich bin 30 Jahre alt und habe Philosophie studiert, stelle ich mich der Beraterin am Telefon vor. Nicht die besten Voraussetzungen für eine Karriere bei der Bundeswehr, denke ich mir. Doch die Beraterin ist nicht abgeschreckt: Für eine zivile Laufbahn könne man zu diesem Studienhintergrund keine Ausschreibung identifizieren, sagt sie zwar. Da betone ich meine Offenheit für eine militärische Ausbildung. Dass ich kein Sportsoldat mehr werde, sei mir klar, sage ich, aber ich würde mich gerne für mögliche Karriereoptionen als Soldat beraten lassen. Ohne weitere Nachfragen bekomme ich in der Folgewoche einen Termin in einem Beratungsbüro in Köln.
Nach einem Vorstellungsgespräch über meine Interessen und Präferenzen erhalte ich dort eine Einführung in die Truppengattungen und Verwendungsbereiche der Bundeswehr. Ich lerne den Unterschied zwischen kämpfender und kampfunterstützender Truppe und wie der Dienst eines Protokollsoldaten im Wachbataillon oder eines Gebirgsjägers aussieht. Für mich käme zum einen eine Ausbildung als Reserveoffizier innerhalb des Wehrdienstes infrage, sagt die Beraterin. „Unser Herr Lindner“ sei ja auch Reservist, wirbt die engagierte Beraterin und meint damit Finanzminister Christian Lindner. Wenn ich mir aber etwas Verbindlicheres für mehrere Jahre vorstellen könne, empfehle sich eine reguläre Offizierslaufbahn. Ich würde aufgrund meines Studienabschlusses mit Silberlitze und Dienstgrad Oberfähnrich einsteigen. Die Beraterin legt direkt das Einstiegsgehalt auf den Tisch: 3.227,85 Euro. Dass ich Philosophie studiert und bisher als Journalist gearbeitet habe, löst keine weiteren Fragen aus. Sie schätzten es, wenn Offiziersanwärter bereits eine akademische Ausbildung mitbringen und freuen sich über Quereinsteiger, sagt die Beraterin.
Ich werde noch auf die hierarchischen Strukturen innerhalb der Bundeswehr und die hohe Mobilität, die der Dienst erfordert, hingewiesen. Mit einer Unterschrift verpflichte ich mich außerdem der Treue zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Insgesamt bin ich positiv überrascht. Die Beratung war sehr informativ und empathisch. Trotzdem: Ich will weiterhin Journalist bleiben und nicht zur Bundeswehr gehen.
Die Kommunikation
Wie viele Interessenten sich tatsächlich nach einem Beratungsgespräch beim Arbeitgeber Bundeswehr bewerben, lässt sich nicht sagen. Was sich aber sagen lässt: Zum Stichtag 15. Juli haben sich nach Angaben von Verteidigungsminister Boris Pistorius 15 Prozent mehr Menschen für den militärischen Dienst beworben als zum selben Zeitpunkt im Jahr 2023. Und: In den vergangenen Jahren gab einen Kurswechsel in der Beratung. „Weniger reine Information, mehr Kommunikation“ ist das Motto, sagt Wolfgang Grenzer, Dezernatsleiter des Dezernats Werbung und Beratung in Berlin.
„Der Karriereberater unterscheidet sich vom Wehrdienstberater, den wir früher hatten“, so Grenzer. „Er muss die Gelegenheit nutzen, nicht nur zu beraten – und das ist der Unterschied zu früher – sondern die jungen Menschen auch zu überzeugen und zu begeistern, um am Ende des Gesprächs den Funken überspringen zu lassen.“ Deshalb werden die Berater heute nicht nur fachlich, sondern auch im Bereich der Kommunikation ausgebildet. Das habe ich bei meinen Beratungen auch gemerkt. Darüber hinaus vermutet Grenzer, dass die stärkere Präsenz der Bundeswehr in sozialen Netzwerken sowie ein allgemein wachsendes Interesse an sicherheitspolitischen Themen zu einer höheren Nachfrage nach Beratungen und mehr Bewerbungen bei der Bundeswehr geführt haben.
Das Assessment
Wer nach dem Beratungsgespräch die Bewerbungsunterlagen einreicht, wird im besten Fall in ein Assessmentcenter eingeladen. Für die Anreise gibt es Bahngutscheine. Wer wegen einer längeren Anfahrt schon am Vortag anreist, kann kostenfrei in einer Stube auf dem Gelände des Karrierecenters übernachten. Auch Verpflegung aus der Truppenküche steht zur Verfügung – buchstäblich ein Vorgeschmack auf den angestrebten Dienst.
Bewerber für den Freiwilligen Wehrdienst durchlaufen nach dem Empfang im Karrierecenter eine ärztlichen Untersuchung zur Prüfung der körperlichen Eignung. In einem Vorstellungsgespräch wird die charakterliche Eignung zum Dienst an der Waffe geprüft. Die Assessmentkommission besteht aus einem Offizier und einem Psychologen. „Man hat hier eine hohe Verantwortung dem Dienstherren der Bundeswehr und der Bundesrepublik Deutschland gegenüber“, sagt Prüfer Hauptmann H. „Und es geht darum, jungen Menschen Chancen zu eröffnen“, ergänzt Diplompsychologin K. Der Bewerber bekommt nach kurzer Unterredung der Prüfer einen vorläufigen Zulassungsbescheid.
Das Assessment für Zeitsoldaten dauert einen Tag länger als das Auswahlverfahren für die Freiwilligen Wehrdienstleistenden. Ein adaptiver Computertest mit logischen und mathematischen Aufgaben zur Prüfung der geistigen Eignung sowie ein Sporttest zur Feststellung der Fitness kommen dazu. Die Ansprüche an die Bewerber wurden dabei nach unten angepasst: Für eine als ausreichend bewertete Leistung müssen Bewerber den Klimmhang für fünf Sekunden halten und einen Kilometer in sechseinhalb Minuten laufen.
Die Eignungsfeststellung für Offizierbewerber dauert noch einen weiteren, also insgesamt drei Tage lang. Ein Vortrag zu einem gesellschaftspolitischen Thema, ein Gruppensituationsverfahren und gegebenenfalls eine Studienberatung stehen zusätzlich für die Zeitsoldaten in anderen Laufbahngruppen auf dem Plan. Auch hier wurden die Hürden gesenkt und das Höchstalter von 29 Jahren für eine Offizierslaufbahn mit Studium aufgehoben. Heute kann man sich auch als 50-Jähriger für die Offizierslaufbahn bewerben. Personalnot macht nicht nur erfinderisch, sondern zwingt auch zur Anpassung.
Am Abschluss des Bewerbungsprozesses steht die Sicherheitsüberprüfung durch den Militärischen Abschirmdienstes sowie die Einplanung. Der Einplaner versucht die Wünsche des Bewerbers mit den Möglichkeiten entsprechend den Prüfungsergebnissen und mit den Bedarfen der Streitkräfte in Einklang zu bringen.
Der Personalmarkt
Der Personalmarkt ist demografisch angeschlagen. Viele Arbeitgeber buhlen um eine begrenzte Anzahl potenzieller Bewerber. Gleichzeitig soll die Anzahl der Soldaten in der Bundeswehr wachsen. Da spielt die Personalwerbung eine Schlüsselrolle.
Mit der 2023 eingerichteten „Task Force Personal“ hat das Verteidigungsministerium eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Die Förderung von Nachwuchswerbung durch Infomobile, eine attraktive Arbeitgeberkommunikation sowie eine zügige Abwicklung der Assessmentverfahren gehören dazu. Das Personalproblem scheint anderswo zu liegen. Einerseits ist da die Finanzierungslücke. Es fehlen Planstellen selbst für noch aktive Offiziere, wie das Ministeriums kürzlich bestätigte. Zweitens liegt die Abbrecherquote bei den neuen Soldaten in den ersten sechs Monaten laut einem Bericht von Militärjournalist Thomas Wiegold bei 27 Prozent. Er zitiert Oda Döring, Abteilungsleiterin für Personal im Verteidigungsministerium auf einer Veranstaltung der FDP-Bundestagsfraktion im September: „Selbst die beste Personalgewinnung kann das nicht kompensieren.“