Die Situation an der ukrainischen Grenze hat sich nach dem jüngsten russischen Truppenaufmarsch vorerst beruhigt. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrii Melnyk, sieht die Kriegsgefahr aber keineswegs gebannt. Im Interview mit loyal findet der Diplomat ungewöhnlich deutliche Worte für Wladimir Putin – aber auch für die deutsche Haltung zu dem Konflikt.
Wie stellt sich die Situation an der ukrainisch-russischen Grenze dar, nachdem der russische Präsident Putin einen Teil seiner Truppen wieder zurückverlegt hat?
Die Lage ist nach wie vor sehr angespannt. Nur ein geringer Teil der russischen Truppen wurde abgezogen. Schwere Waffen sind dort geblieben, wo sie in den vergangenen Wochen hingebracht wurden. Das macht uns große Sorgen, die Kriegsgefahr ist nicht gebannt.
Liegen Ihnen Erkenntnisse darüber vor, was das russische Säbelrasseln überhaupt sollte?
Das war nicht nur eine Drohgebärde von russischer Seite. Wir gehen davon aus, dass die Möglichkeit eines erneuten großangelegten Angriffs auf die Ukraine real bestanden hat und weiterhin existiert. Es ging Putin nicht nur darum, die neue US-Regierung und die Bundesregierung zu testen. Putin hatte 100.000 bis 120.000 Soldaten an unseren Grenzen zusammengezogen, ausgerüstet mit modernsten Waffen. Unsere Armee besteht insgesamt nur aus 246.000 Soldaten. Ein massiver Überfall Russlands auf die Ukraine ist leider jederzeit möglich.
Will Präsident Putin die Ukraine erobern?
Sein Plan ist nach wie vor, die Ukraine als unabhängigen Staat zu eliminieren. Das ist sein wahnsinniges Ziel. Die westliche und demokratische Orientierung meines Landes ist Putin ein Dorn im Auge, auch weil sie seine totalitäre, korrupte Gewaltherrschaft bedroht.
Wie sieht es an der Grenze zu Weißrussland aus?
Mit Belarus gibt es von Seiten der Ukraine keine Probleme, wir sehen in diesem Nachbarn keinen Gegner. Deshalb ist unsere gemeinsame, über 1000 Kilometer lange Grenze quasi eine offene Flanke. Wir nehmen aber natürlich die verstärkte Unterstützung Putins für den weißrussischen Präsidenten Lukaschenko mit großer Sorge wahr sowie die immer engere Zusammenarbeit der beiden. Am größten bleibt die Gefahr einer neuen Kreml-Aggression aus dem Süden, von der okkupierten Krim.
Ist die Ukraine militärisch überhaupt zu verteidigen?
Unsere Armee ist den Russen in allen Bereichen zwar dramatisch unterlegen – sowohl quantitativ als auch qualitativ. Nichtsdestotrotz hat Putin die Verteidigungsfähigkeit der Ukrainer massiv unterschätzt und sich die Zähne ausgebissen.
Die Ukraine strebt unter den Schutzschirm der NATO. Das ist für Ihr Land sogar ein Staatsziel, denn die NATO-Mitgliedschaft ist in der ukrainischen Verfassung festgeschrieben. Aber wie realistisch ist dieses Ziel?
Die Sicherheit unserer Bevölkerung können wir nur in einem Verteidigungsbündnis wie der NATO erreichen. Leider ist das für unsere deutschen Partner eine Zumutung, weil sie fürchten, Putin damit zu provozieren. Dieses Dilemma ist jedoch weit hergeholt. Denn es ist auch im ureigenen Interesse der Bundesrepublik, die Ukraine, die ja politisch und kulturell fester Bestandteil der westlichen Wertegemeinschaft ist, in die NATO und auch in die Europäische Union möglichst rasch zu integrieren.
Wieso glauben Sie das?
Weil nur auf diese Weise der von Putin künstlich konstruierte Konflikt mit der Ukraine befriedet und ein neuer flächendeckender Krieg in Europa noch vermieden werden kann. Nur eine Ukraine unter dem Schutzschirm der NATO, die einen eigenen Beitrag leistet, würde Russland von weiteren Eroberungen abhalten. Die baltischen Staaten oder auch Polen sind ja die besten Beispiele für die stabilitätsfördernde und friedenssichernde Rolle der NATO. Moskau wagt nur anzugreifen, wenn es davon ausgehen kann, dass es den Konflikt beherrscht. Solange die Ukraine nicht in der Allianz ist, solange dieses bedrohliche Machtvakuum besteht, werden wir immer wieder Opfer des russischen Expansionswahns bleiben, mit brandgefährlichen Folgen für den gesamten Kontinent. Und das kann unmöglich im Sinne Deutschlands oder auch der USA liegen.
Bekommen Sie genug Unterstützung von der Bundesregierung, was Ihren Wunsch angeht, der NATO beitreten zu wollen?
Wir würden uns viel mehr Mut und Unterstützung aus Berlin wünschen. Während des Bukarester NATO-Gipfels 2008 hat auch Deutschland, hat Bundeskanzlerin Merkel persönlich die Verpflichtung übernommen, sich dafür einzusetzen, dass die Ukraine und Georgien NATO-Mitglieder werden. Seitdem sind 13 lange Jahre vergangen, davon sieben schreckliche Jahre Krieg in der Ukraine, der nun – kaum zu glauben – für uns länger als der Zweite Weltkrieg dauert. Aus der klugen politischen Entscheidung der NATO-Staaten von 2008 ist nichts Konkretes erfolgt. Wir fordern, dass die damals in Aussicht gestellten Beitrittsverhandlungen noch 2021 beginnen.
Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass die NATO so zurückhaltend ist, obwohl sie sich zur Aufnahme der Ukraine bekannt hat? Ist es so, dass die NATO nicht in einen Konflikt hineingezogen werden möchte?
Niemand würde das so sagen, aber genauso ist es. Man blendet in Berlin einfach aus, dass die Ukraine ein zutiefst europäisches Land der westlichen Welt war und ist. Die Entfernung von Berlin nach Kyjiw beträgt knapp 1300 Kilometer, bis zu meiner Heimatstadt Lwiw, zu deutsch Lemberg, sogar weniger als 900 Kilometer. Zwischen Berlin und Paris sind es 1000 Kilometer. Das heißt, dass wir auch rein geografisch viel näher liegen als manche hier denken. Daher dürfen die Europäer den perfiden russischen Krieg in der Ukraine, der über 14.000 Menschenleben gefordert hat, nicht einfach ignorieren. Es wäre definitiv ein Gewinn für die Sicherheit ganz Europas, wenn die Ukraine möglichst rasch Mitglied der NATO wäre. Es würde auch ein starkes Signal nach Moskau senden: Putin würde endlich erkennen, dass er sich nicht alles erlauben kann und dass seine verbrecherische Strategie, die Ukraine vom Rest Europas zu trennen und sie mit russischen Soldatenstiefeln zu zertrampeln, endgültig gescheitert ist.
Sie bauen mit den Briten zusammen zwei neue Stützpunkte – einen am Schwarzen Meer und einen am Asowschen Meer. Es geht um eine Investition von zwei Milliarden Pfund. Mit London läuft es besser als mit den Ländern der EU.
Das ist richtig. Wir kaufen bei den Briten Korvetten und andere Schiffe für den Ausbau unserer Flotte. Wir müssen in unsere Verteidigung massiv investieren. Es ist sehr schade, dass die Deutschen dabei als Moralapostel an der Seite stehen. Wir hätten gerne modernste deutsche Waffensysteme gekauft, die zu den besten der Welt gehören. Das ist aber aus politischem Opportunismus nicht möglich, was wir bedauern. Dieses Tabu in Berlin muss gebrochen werden. Genau wie Israel hat die Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung. Es geht ja um Defensivwaffen. Die Deutschen liefern uns immerhin wertvolles Gerät im medizinischen Bereich; unsere verwundeten Soldaten werden in Bundeswehrkrankenhäusern behandelt. Dafür sind wir sehr dankbar. Nur: Es wäre auch im deutschen Interesse, uns bei der Modernisierung unserer Verteidigung mit Waffensystemen schon heute zu unterstützen. Andernfalls nimmt sich Deutschland selbst die Möglichkeit, mitzureden. Die Briten sehen das anders, übrigens auch die Amerikaner, die Türken und andere Partner.
Wenn Ihr Wunsch nach einer NATO-Mitgliedschaft unerfüllt bleibt, halten Sie sich dann die Option offen, wieder atomar aufzurüsten? Die Ukraine hat 1994 auf Atomwaffen verzichtet und erhielt dafür Sicherheitsgarantien von den großen Atommächten – unter anderem auch von Russland. Diese Garantien waren, wie die Reaktionen auf die russische Aggressionen von 2014 bis heute gezeigt haben, nicht viel wert. Wird also die Ukraine wieder eigene Atomwaffen anschaffen?
Die meisten Ukrainer sind der Meinung, dass unser Verzicht auf die Atomwaffen ein fataler Fehler war. Wir stehen heute mit leeren Händen da. Denn Russland als der weltweit stärkste Nuklearstaat hat mittlerweile über sieben Prozent des Territoriums der Ukraine militärisch besetzt. Andere Garantiemächte haben diese Invasion nicht verhindert. Das bedeutet einen enormen Vertrauensverlust, auch für das nukleare Nichtverbreitungsregime. Nicht nur die Atommächte, auch Deutschland hat die Ukraine gleich nach der Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit massiv unter Druck gesetzt, damit wir unser Nukleararsenal loswerden. Daher trägt auch die Bundesrepublik Deutschland eine besondere historische Verantwortung für die ukrainische Souveränität und muss uns helfen, schnellstmöglich NATO-Mitglied zu werden. Was die Wiedererlangung des Nuklearstatus betrifft, möchte ich unsere deutschen Freunde vorerst beruhigen: Trotz der Rückschläge steht dieses Thema für uns aktuell nicht auf der Tagesordnung.
Herr Botschafter, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.