Putins langer Weg in den Krieg
Der Westen wollte mehr als 20 Jahre nicht sehen, mit wem er es bei Wladimir Putin zu tun hat. Dabei hat der keine Zweifel daran ge-lassen, dass er ein neues russisches Imperium will. Ihm war und ist jedes Mittel dafür recht. Der Krieg gegen das Nachbarland Ukraine zeigt: NATO und EU haben es mit einem unberechenbar gewordenen Gewaltherrscher zu tun, dessen Streitkräfte nicht nur Russlands Nachbarländer bedrohen, sondern ganz Europa. Wie konnte es dazu kommen?
Ich bin der reichste Mensch – an Gefühlen“, soll der russische Diktator Wladimir Wladimirowitsch Putin einmal gesagt haben. Wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, was er gerade fühlt, angesichts dessen, was er in der Ukraine anrichtet. Sieht er die Bilder des Leids von Frauen und Kindern, die Flüchtlinge, die zerstörten Wohnblöcke? Am 24. Februar hat Putin das Nachbarland überfallen. Seitdem tobt dort der erste flächendeckende Angriffskrieg in Europa seit mehr als 80 Jahren. Putin hat konsequent auf diesen Terror hingearbeitet, den der Westen zu Recht als eine Zeitenwende deutet. Das brutale Vorgehen Russlands verändert die geostrategische Situation grundlegend.
Die Ukraine ist das Kernland einer Region, die der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem tiefgründigen gleichnamigen Buch als „Bloodlands“, Blutland, bezeichnet hat. In der Tat: Wohl nirgends auf der Welt ist in den vergangenen hundert Jahren soviel Blut vergossen worden wie zwischen dem Finnischen Meerbusen und dem Schwarzem Meer, wie zwischen Kattowitz und Charkiw. Das Baltikum, Polen, Weißrussland, die Ukraine: Es ist das Schlachthaus Europas. Hier hat Josef Stalin zu Beginn der 1930er-Jahre 5,5 Millionen Menschen verhungern lassen, die meisten von ihnen Ukrainer, indem er ihnen das Getreide raubte, um es für die forcierte Industrialisierung der Sowjetunion auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Dieses Holodomor genannte erste große Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts ist in Deutschland kaum bekannt. Nur wenig später folgte 1937/38 Stalins „Großer Terror“, bei dem 700.000 Andersdenkende hingerichtet wurden.
Hier, in den „Bloodlands“, hat dann Hitler seinen völkischen Wahnsinn in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern auf die Spitze getrieben. Zeitgleich starben an der Ostfront und in ihrem Hinterland 20 Millionen Soldaten und Zivilisten in einem ideologischen Krieg, den es in dieser Form noch nicht gegeben hatte: einem Vernichtungskrieg. An nur zwei Tagen erschossen SS-Angehörige, unterstützt von der Wehrmacht, in der Schlucht von Babyn Jar bei Kyjiw am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.000 Juden – das größte Einzelmassaker im Zweiten Weltkrieg. Und jetzt herrschen mitten in diesen „Bloodlands“, auf dieser blutgetränkten Erde, wieder Krieg und Tod. Weil es ein einziger Mann so will, weil Wladimir Putin die Größe Russlands wiederherstellen will.
Vom vergessenen zum heißen Krieg
Erst vor einem halben Jahr erschien in loyal eine Titelgeschichte über den „vergessenen Krieg“ in der Ukraine. loyal war direkt an der Front im Donbass zwischen der freien Ukraine und den von Moskau gesteuerten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk. Wir berichteten vom gefährlichen Alltag der ukrainischen Soldaten, die in den Schützengräben voller Patriotismus für die Freiheit ihres Volkes eintraten. Was mag aus dem Gefreiten Maksym, dem Stabsunteroffizier Andrii, dem Oberleutnant Myhailo geworden sein, die loyal damals interviewte? Was mit dem Historiker Igor Kozlowskyi, der in seiner Heimatstadt Donezk 700 Tage lang unschuldig in einem Foltergefängnis von Separatisten festgehalten wurde und den wir in Kyjiw trafen? Er gab loyal bereitwillig Auskunft über seine Leidenszeit. Was geht in diesem Mann heute vor im Angesicht der russischen Truppen? Wir wissen es nicht. Es gibt keinen Kontakt mehr zu unseren Gesprächspartnern aus der Oktober-Ausgabe letzten Jahres.
Seit 2014 gibt es jene Front in der Ostukraine, und Tausende sind dort ums Leben gekommen. In Kyjiw erinnert eine Gedenkmauer an die seit der völkerrechtswidrigen Abtrennung dieser Gebiete und der auf der Krim gefallenen ukrainischen Soldaten. Wie lange wird sie noch stehen, diese Stein gewordene Anklage gegen die russische Aggression, sollte Kyjiw fallen? Jeden Tag ertönte im Verteidigungsministerium eine Glocke, gab es Salutschüsse für die Toten. Heute gibt es niemanden mehr, der Plaketten an der Gedenkmauer anbringt, niemanden, der die Glocke schlägt, niemanden, der Salut schießt. In der Ukraine stehen alle wehrfähigen Männer in einem verzweifelten Kampf gegen übermächtige russische Invasoren, die das Land mit einer Orgie an Gewalt überziehen.
Aus dem „vergessenen Krieg“ ist ein heißer Krieg geworden, der auch Deutschland, Westeuropa, die ganze NATO bedroht. Der Westen ist nach Putins Überfall auf die Ukraine in der Realität aufgeschlagen wie ein Marathonläufer, der ungebremst gegen eine Betonplatte rennt. Dieser Krieg zeigt auf bitterste Weise, wie naiv der Westen 20 Jahre lang war. Die deutschen Pazifisten und Putin-Fans stehen in den Trümmern ihres Weltbilds.
Putin im Aufwind
Wladimir Putin ist am 7. Mai 2000 russischer Präsident geworden. Ein vormaliger KGB-Agent, der sich seinen Zynismus und seine Brutalität im Kalten Krieg antrainiert hat. Er hat Zug um Zug seine Macht ausgebaut und es zum Alleinherrscher gebracht, der in einer abgeschotteten Welt lebt und offenbar jeden Bezug zur Realität verloren hat. Den unter seinem Vorgänger Boris Jelzin dominierenden Oligarchen hatte er gleich zu Beginn seiner Herrschaft den Kampf angesagt. Der Deal war, dass sie sich künftig aus der Politik heraushalten sollen, dafür durften sie weiterhin das tun, was vor ihnen die kommunistische Nomenklatura und noch früher die Adligen getan haben: das russische Volk und das Land ausbeuten. Wer sich, wie der Oligarch Michail Chodorkowski, weiter in die Politik einmischte, kam ins Lager. Chodorkowski verbrachte zehn Jahre Haft in Sibirien und Karelien und lebt heute in London.
Als nächstes würgte Putin die aufkeimende Zivilgesellschaft ab. Kritiker wurden entweder umgebracht, auch mit chemischen Kampfstoffen, oder – wie zuletzt der Aktivist Alexej Nawalny – nach Schauprozessen wegen fadenscheiniger Vorwürfe ins Lager gesteckt. Die Medien: gleichgeschaltet. Die Organisation Memorial, die die Verbrechen Stalins erforschte: verboten. Das Parlament: eine Akklamationsbude für Putins Ideen. Polizei und Geheimdienste: Kraken, deren Arme tief in die Gesellschaft greifen und jegliches Aufbegehren sofort abwürgen. Putins Regime schreckt selbst vor der Verhaftung von Greisen nicht zurück, die die 872-tägige Leningrader Hungerblockade der Wehrmacht überlebt haben und heute gegen den Ukraine-Krieg demonstrieren. 2021 begrub der Diktator die letzten Reste der Demokratie und erlaubte sich durch eine neue Verfassung das Weiterregieren bis 2036. Dann wäre der heute fast 70-Jährige 84 Jahre alt und würde den greisen Männern folgen, die schon die Sowjetunion heruntergewirtschaftet haben. Ein schwacher Trost ist, dass Putins Herrschaft wohl so lange nicht dauern wird. Diktatoren sterben selten friedlich im Bett.
In den 22 Jahren seiner Machtausübung hat es Putin nicht vermocht, die russische Wirtschaft aufzurichten und den Lebensstandard der Russen zu heben. Russische Produkte sind auf dem Weltmarkt nicht gefragt. Der Staat lebt wie ein Entwicklungsland vom Export seiner Rohstoffe, von Öl, Gas und Kohle. Die russische Wirtschaftskraft betrug schon vor der Annexion der Krim 2014 nur 12,7 Prozent der der USA; seitdem ist sie noch weiter gesunken auf jetzt 7,2 Prozent. Im Vergleich zur Wirtschaftsleistung der EU lag sie 2013 bei 12,9 Prozent, heute bei 10,9 Prozent. Die nun nach dem Überfall auf die Ukraine verhängten historisch einmaligen Sanktionen dürften die russische Wirtschaft über kurz oder lang ruinieren. Gewachsen ist allein der Wehretat – in Putins Regierungszeit um das Sechsfache.
Warnungen zuverlässig ignoriert
Russland stellt seit Jahren die größte Bedrohung für die europäische Sicherheit dar. Warnungen von westlichen Militärs wurden von der Politik zuverlässig ignoriert. Der britische Oberbefehlshaber General Mark Carleton-Smith stellte 2018 fest, dass Moskau jede Verwundbarkeit und Schwäche des Westens ausnutzen würde. Der russische Generalstabschef Walerij Gerassimow verkündete im selben Jahr die später als Gerassimow-Doktrin bekannt gewordene Militärstrategie der komplexen Zwangsausübung, nach der der Gegner mit allen Methoden von innen und außen heraus zu schwächen sei – mittels Fake News, Einmischung in Wahlen, Forcierung von Migration und Cyberangriffen auf kritische Infrastruktur, ebenso durch eine erdrückende Übermacht an konventionellen Waffen bis hin zum Atomwaffenarsenal.
Putin spielte alle diese Möglichkeiten immer wieder durch: Cyberangriffe auf westliche Institutionen, unter anderem auf den Bundestag. Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahlen. Gewährenlassen des Putin-Vasallen Lukaschenko in Weißrussland beim Einsatz von Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika als menschliche Waffen. Einmarsch in Georgien 2008 und auf die Krim 2014, Annexion von Territorien bis hin zum aktuellen Krieg in der Ukraine und der Drohung mit Atombomben. Zuletzt der Einsatz von Hyperschallwaffen. Russischer Gewaltexport auch in Syrien, wo Putin den Kriegsverbrecher Präsident Assad an der Macht hält. Oder neuerdings in Mali, wo Putins Söldner den Putschisten Oberst Assimi Goïta stützen. Von Syrien und Mali aus kann Putin Migrationsströme gezielt nach Westeuropa lenken, ganz wie es ihm passt.
Spätestens seit 2009 versucht der KGB-Mann im Kreml den verlorengegangenen Großmachtstatus Russlands wieder herzustellen, indem er ein „nahes Ausland“ definiert, dessen Staaten er nur eine eingeschränkte Souveränität zubilligt. Georgien, die Ukraine und Moldawien gehören zu diesem virtuellen Zarenreich. Er kaschiert seine Großmachtambitionen mit dem erlogenen Narrativ von der Einkreisung Russlands durch die NATO. Doch nicht die NATO ist an Russlands Grenzen herangerückt, sondern ehemalige Ostblockstaaten und Sowjetrepubliken haben sich nach leidvollen Erfahrungen von dem aggressiven Nachbarn im Osten abgewandt und Schutz bei der NATO gesucht. Nicht die NATO bedroht Putins Kleptokratie, sondern die funktionierende Demokratie in Staaten wie Litauen, Lettland, Estland, Polen und nicht zuletzt der Ukraine. Sie sind die wahre Gefahr für Putins Totenhaus. Nichts fürchtet Putin so sehr wie die Freiheit; deshalb unterdrückt er nicht nur sein eigenes Volk, sondern er versucht mit Gewalt auch andere Völker daran zu hindern, den Weg der Freiheit zu gehen. Dabei benutzt er aus der Luft gegriffene Begründungen wie die der „Entnazifizierung“ der Ukraine. Das ist paranoid. Der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyi ist Jude.
Putin hat zwar die eigene Armee auf Kosten seines Volkes hochgerüstet, aber er ist auch ein strategischer Opportunist. Die relative Macht der russischen Streitkräfte wäre heute nicht so beängstigend, wenn der Westen sich nicht 30 Jahre lang ununterbrochen die Friedensdividende von 1989/90 ausgezahlt und seine Streitkräfte zum Teil, wie in Deutschland geschehen, auf unbrauchbare Reste zurückgefahren hätte. Die auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 zugesagte Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens im Bündnis wurde – auch auf Druck Deutschlands – nie umgesetzt. Für Putin war das ein Zeichen der Schwäche. Als die USA 2014 zwei Kampfbrigaden aus Europa abzogen, bestärkte es ihn in seiner Einschätzung, dass der Westen gar nicht mehr in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen. Mit jeder Verkleinerung der Truppenstärke der NATO wuchs die Gefährlichkeit und Überlegenheit der russischen Militärmacht.
Die Schwäche des Westens
Putins Sicht auf den Westen ist zutiefst von Verachtung geprägt. Für ihn sind westliche Politiker Schwächlinge. In Deutschland sieht er eine dekadente Gesellschaft, die jede noch so kleine Minderheit hofiert, die leistungsstarke Mittelschicht aber drangsaliert und demotiviert. Deutschland ist für ihn, den Homophoben, ein Lala-Land, in dem Homo- und Transsexuellen mehr Beachtung geschenkt wird als Bundeswehrsoldaten. Ein Land, in dem die Polizei delegitimiert wird, indem Journalisten schreiben dürfen, dass Polizisten „Bastarde“ seien und auf den Müll gehörten. Vermutlich frohlockte Putin über die deutsche Friedensbewegung, die immer nur demonstriert, wenn es gegen Amerika geht. Dass Deutschland 2015 eine Million Migranten einreisen ließ, war für Putin ein Grund zur Zufriedenheit: Der Feind destabilisierte sich selbst, so sah er es, und die Deutschen begrüßten naiverweise auch noch das Problem, das sie sich ins Land holten, mit Schildern, auf denen „Refugees welcome“ stand. Besser hätte es in Putins Denken gar nicht laufen können. Zuvor hatte er Syrien als Truppenübungsplatz und Waffentestgelände missbraucht. Sein Kriegsminister Sergei Schoigu verkündete damals, man habe dort 312 neue Waffen getestet. Darunter waren auch geächtete Waffen wie Streu-, Brand- und Vakuumbomben. So wie jetzt auch wieder, wurden schon in Syrien Schulen, Krankenhäuser und Wohngebiete bombardiert und Städte dem Erdboden gleichgemacht. Es war das Training für die Kriegsverbrechen, die russische Soldaten nun im Krieg gegen die Ukraine verüben.
Deutschland ist aus Putins Perspektive auch dumm genug, sich auf die gefährliche Wette einzulassen, dass Windmühlen den Strom für eine hochindustrialisierte, digitalisierte Gesellschaft der Zukunft liefern könnten. Während Putin selbst auf Atomenergie setzt, spülten ihm die deutschen Ausstiege aus Kernkraft und Kohle und die daraus folgende Sucht nach immer mehr russischem Gas Milliarden in die Kasse, die er für die Modernisierung seiner Armee verwenden konnte. Politiker und Putin-Versteher von den linken und rechten Rändern des politischen Spektrums bis in pazifistische Kreise der SPD und der Grünen warfen sich ihm an die Brust. Angesichts der Weigerung der SPD bis zur letzten Bundestagswahl, bewaffnete Drohnen zum Schutz deutscher Soldaten anzuschaffen, dürfte Putin sich die Hände gerieben haben. Kurz: Die Bundesrepublik war für den Wolf Putin ein naives Geißlein, das seine Wehrpflicht abschafft, keinen Wehrwillen erkennen lässt, seine Bundeswehr ruiniert und vom Weltfrieden träumt.
Reif zum Abschuss
Der Diktator wartete geduldig auf seine Chance. Die sah er in den schlimmen Jahren der Trump-Administration in den USA kommen, als sich die amerikanische Gesellschaft selbst zerfleischte und der Hasardeur Donald Trump die NATO an den Rand des Zusammenbruchs führte. „Hirntod“ nannte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das nordatlantische Bündnis. Dann führte auch noch der Brexit Putin das Chaos eines vollends verrückt gewordenen Westens vor Augen. Der maximal demütigende Abzug der NATO aus Afghanistan im August war für ihn der letzte Beweis, dass dieser Westen am Ende sei.
Nun rückte der Zeitpunkt seines Angriffs näher. Nach der Merkel-Ära musste sich in Berlin eine neue Bundesregierung erst finden. Diese Ampelkoalition war zunächst sicherheitspolitisch ambitionslos, ja sie verwässerte sogar das Zwei-Prozent-Ziel zu einem Drei-Prozent-Ziel, in das alles Mögliche von Entwicklungshilfe über Diplomatie bis Bundeswehr einfloss. Frankreich steht mitten im Präsidentschaftswahlkampf, und in den USA regiert ein Präsident, der seine wichtigsten Wahlkampfversprechen aufgrund knapper Mehrheiten und Widerstand in den eigenen Reihen nicht durchbekommt – aus russischer Sicht eine lahme Ente. Den ultimativen Anstoß zur Invasion in die Ukraine gab der aus Putins Sicht erfolgreiche Einsatz russischer Truppen im Rahmen des östlichen Militärbündnisses OVKS Anfang des Jahres in Kasachstan. Dort halfen sie, einen Volksaufstand niederzuschlagen. Schließlich war auch noch die Jahreszeit günstig, die „Bloodlands“ in der Ukraine waren gefroren und für russische Panzer befahrbar. Das ukrainische Brudervolk war reif zum Abschuss.
Der Traum vom neuen Zarenreich
Putins Großmachtanspruch gegenüber der Ukraine brauchte allerdings nicht nur die militärische Hardpower, die er jetzt im Nachbarland ohne jeden Skrupel einsetzt, sondern auch einen ideologisch-historischen Überbau. Den schuf er im vergangenen Jahr, als er in einem merkwürdigen Aufsatz unter dem Titel „Einheit der Russen und der Ukrainer“ nachzuweisen versuchte, dass die Ukrainer eigentlich Russen seien und die Ukraine zu Russland gehöre. Dabei bezog er sich auf das Reich des Kiewer Rus, ein altslawisches Großreich, das im Mittelalter auf dem Territorium der heutigen Ukraine entstand und aus dem die drei ostslawischen Völker Russen, Weißrussen und Ukrainer hervorgegangen sind. Sie bilden in Putins Kopf nach wie vor eine großrussische Nation. Seine Argumentation ist so absurd, als würde hierzulande heute jemand die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1229 fordern. Damals regierten die Staufer, und Florenz und Nizza gehörten zum Heiligen römischen Reich deutscher Nation.
Im Mittelpunkt von Putins Geschichtsbild findet sich die These von der tausendjährigen russischen Staatlichkeit, in der nur autoritäre Herrscher Garanten für Selbstbehauptung waren. Sie bewähren sich in immerwährenden Auseinandersetzungen mit dem Westen. Der schlimmste dieser Verbrecher, Stalin, steht für Putin in einer Reihe mit Peter dem Großen, Katharina der Großen – und ihm, Putin, selbst. Der Untergang der Sowjetunion ist für ihn, wie er einmal schrieb, „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Das allein sagt alles über diesen Mann. Nach dem Zusammenbruch habe der Westen die Ordnung des Kalten Kriegs, in der die Russen als Führungsnation der Sowjetunion Weltrang besaßen, in Frage gestellt.
Diesen Weltrang versucht er nun wiederherzustellen, indem er die Ukraine, ein Nachbarland überfällt, das nichts als in enger Anbindung an den freien Westen leben möchte. In Putins Denken von russischer Weltgeltung ist die Ukraine nicht das einzige Land, das Moskaus Großmannssucht im Wege steht. Weitere Länder müssen in der kruden Logik des russischen Diktators zwingend folgen. So gesehen dürfte die Ukraine nicht das letzte Opfer von Putins Imperialismus sein. Zur Erinnerung: Die sowjetische Einflusssphäre reichte im Kalten Krieg bis Helmstedt.