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Reaktivierung nicht in Sicht

Zehn Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht erteilt die Politik einer Wiedereinführung eine Absage. Die Bundeswehr muss ihre Personalprobleme aus eigener Kraft lösen.

Diese Szene haben Millionen junge Männer erlebt, als sie zum Wehrdienst eingezogen wurden: die Einkleidung

(Foto: Christian Thiel/imago stock&people)

Dienstpflichtwehrdienst

Es ist eine Entscheidung, die auch heute noch Emotionen auslöst: die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland zum 1. Juli 2011, die nun zehn Jahre zurückliegt. Vorangegangen war eine jahrzehntelange erbitterte Debatte zwischen Gegnern und Befürwortern. Ironie der Geschichte: Am Ende sorgte mit Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ein CSU-Politiker für das vorläufige und wahrscheinlich auch endgültige Aus des verpflichtenden Wehrdienstes. Obwohl die Unionsparteien am stärksten darauf gedrungen hatten, den Pflichtdienst aufrechtzuerhalten.

Die Entscheidung zur Aussetzung traf der Bundestag im März 2011 – im Juli 2011 trat das Gesetz in Kraft. Die Aussetzung war Teil der Streitkräftereform, mit der die Bundeswehr von damals rund 255.000 auf 185.000 Soldaten verkleinert werden sollte. Dabei betonte zu Guttenberg immer wieder, die Wehrpflicht sei lediglich ausgesetzt und nicht abgeschafft worden. Im sogenannten „Spannungs- oder Verteidigungsfall“ können junge Männer weiterhin auch gegen ihren Willen einberufen werden. Denn Artikel 12a des Grundgesetzes bleibt bestehen, in dem es heißt: „Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.“

„Ich halte es weiterhin für geboten und richtig, dass wir uns die verfassungsrechtliche Grundlage zur Wehrpflicht erhalten. Das ist eine wichtige und kluge Entscheidung mit Blick auf Szenarien, die wir heute sicher nicht ganz absehen können“, sagte der CSU-Verteidigungsminister damals in einer Bundestagsdebatte. Inzwischen sind solche Szenarien näher gerückt: Russland ist für die NATO wieder ein Gegner, seit der Annexion der Krim ist die Landes- und Bündnisverteidigung wieder der Kern deutscher Wehrpolitik. Die kürzlich von der Verteidigungsministerin vorgelegten Reformvorschläge betonen diesen Aspekt.

1990, nach der Wiedervereinigung, schrumpfte die Truppe zunächst drastisch. Das gab der Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen der Bundesrepublik, der DDR und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges vor. Darin wurde die Obergrenze der Bundeswehr auf 370.000 Soldaten festgelegt. 1989 dienten noch 510.000 Soldaten. Dass mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes auch das Argument für die Wehrpflicht wegfiel, darauf wies der damalige Bundespräsident Roman Herzog schon 1995 auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr in München hin: „Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges, ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können. Gesellschaftspolitische, historische, finanzielle und streitkräfteinterne Argumente können dann ruhig noch als Zusätze verwendet werden. Aber sie werden im Gespräch mit dem Bürger nie die alleinige Basis für Konsens sein können.“

Unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg wurde die Wehrpflicht vor zehn Jahren ausgesetzt. Hier der Minister beim Abschreiten einer Ehrenformation gemeinsam mit Generalinspekteur Volker Wieker (Foto: Bienert/Bundeswehr)

Das war eine Argumentation, die beinahe 20 Jahre folgenlos blieb. Und dennoch war die veränderte sicherheitspolitische Lage später das Hauptargument der Unionsparteien, warum sie nach langem Ringen doch für die Aussetzung stimmten, sagt heute Henning Otte, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. „Wir brauchen nicht mehr die schnelle Präsenzarmee wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern wir sind heute Teil eines Bündnisses mit Einsatzgebieten außerhalb unserer Landesgrenzen. Und dies war weiterhin ein Indiz dafür, dass die Wehrpflicht eines Tages vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden könnte. Da war es unser politischer Gestaltungsanspruch, die Fäden in der Hand zu behalten.“

Ein Handlungsdruck, der viele Befürworter der Wehrpflicht stark geschmerzt hat. Auch Henning Otte: „Ich selbst war auch ein Anhänger der Wehrpflicht, weil es für die Persönlichkeit eines jeden Einzelnen von Vorteil war. Außerdem hatten wir dadurch eine gute Durchmischung, aber nochmals: Der Auftrag der Bundeswehr ist nicht, die Schule der Nation zu sein oder Defizite aufzufangen nach dem Motto ‚Dieser Dienst hat noch keinem geschadet‘, sondern es ging darum, einen sicherheitspolitischen Auftrag zu erfüllen.“

Den gab es allerdings schon seit dem Mauerfall nicht mehr. 2010 dienten noch 240.000 Soldaten in der Bundeswehr. Nach den Plänen des Verteidigungsministeriums sollte die Truppe auf 185.000 Männer und Frauen verkleinert werden. Im Fokus standen neue Aufgaben: Auslandseinsätze, etwa im Kosovo und in Afghanistan. Außerdem sollte die Truppe professioneller werden, mit mehr erfahrenen, länger dienenden Soldaten. Die Argumentation des damaligen Verteidigungsministers lautete: „Bei einem geringeren Gesamtumfang der Streitkräfte würde die Ausbildung von Grundwehrdienstleistenden zu viele Berufs- und Zeitsoldaten binden.“ Denn damals gab es zwischen 20.000 und 30.000 Ausbilder für Wehrdienstleistende. Außerdem sollte, wie so oft, Geld gespart werden – und zwar jährlich eine Milliarde Euro. Dafür hatte zu Guttenberg 2010 eine Bundeswehr-Strukturkommission eingesetzt. Die Aussetzung der Wehrpflicht war Teil ihrer Empfehlungen.

Zuvor war die Dauer des Wehrdienstes stetig reduziert worden – von 18 Monaten in den 1960er-Jahren auf sechs Monate kurz vor der Aussetzung. Der Grund: Es kamen so viele Kinder zur Welt, dass nicht alle jungen Männer eingezogenen werden konnten. Damit gab es praktisch keine Wehrgerechtigkeit mehr. Am Ende wurden nur noch 13 Prozent eines Jahrganges in die Bundeswehr einberufen. Die Hälfte der jungen Männer leistete weder Wehr- noch Zivildienst. Der dauerte meistens länger – in den letzten Jahre vor Ende des Kalten Kriegs sogar fünf Monate länger. Die Begründung war, dass Wehrdienstleistende später noch Reserveübungen machen würden, also insgesamt mehr als die reine Wehrdienstzeit bei der Truppe seien, was jedoch längst nicht alle taten. Für Wehrdienstgegner war die Sache klar: Die längere Dienstzeit sollte junge Männer davon abhalten, zu verweigern. Dennoch stieg die Zahl der Zivildienstleistenden stetig an. 2009 gab es etwa nur 68.000 Wehrdienstleistende, aber 90.000 Zivis.

Der Bundesfreiwilligendienst hat den Zivildienst ersetzt: ein Bufdi beim Einsatz im Fahrdienst der Johanniter-Unfallhilfe (Foto: imago images/epd)

Die Zahl der Verweigerungen stieg vor allem, nachdem 1984 die mündliche Gewissensprüfung abgeschafft wurde und man seine Begründung schriftlich einreichen konnte. Eine Neuerung, für die Wehrpflichtgegner wie Peter Tobiassen lange gekämpft hatten. Er leitete damals die Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und erinnert sich an die Verzweiflung und Ohnmacht vieler Verweigerer. Auch seine eigene Gewissensprüfung in den 1970er-Jahren ist Tobiassen noch sehr präsent. Der junge Mann sah sich damals vier alten Männern in Uniform gegenüber: „Die hatten alle Kriegserfahrungen, hatten alle den Zweiten Weltkrieg miterlebt und mussten verarbeiteten, dass das, was sie da gemacht hatten, wirklich falsch gewesen ist. Und dann kamen da diese 18-jährigen Schnösel, die sagten: Das kann man aber mit seinem Gewissen überhaupt nicht vereinbaren. Das war die größtmögliche Hürde, die da aufgebaut wurde: Man stellte deren Lebensleistung in Frage und sollte sie dann noch überzeugen, gegen den Mainstream der Politik.“

Damit meint Tobiassen den Kalten Krieg und die Angst davor, von russischen Panzerverbänden überrollt zu werden. Ob jemand diese Gewissensprüfung bestand oder nicht, sei reine Willkür gewesen, kritisiert der Aktivist. Auch bei ihm wurde in der ersten Anhörung seine Verweigerung nicht anerkannt, in einem Berufungsverfahren allerdings schon – mit derselben Begründung. Die Aussetzung der Wehrpflicht sieht Tobiassen als Erfolg. Am 24. März 2011 wurde das Wehrrechtsänderungsgesetz vom Bundestag beschlossen, mit den Stimmen der damaligen schwarz-gelben Koalition und der Grünen. SPD- und Linksfraktion stimmten gegen den Gesetzesentwurf der Regierung. Die Linken wollten die Wehrpflicht ganz abschaffen; die SPD kritisierte, dass eine Reform, die nur Sparen zum Ziel habe, der Bundeswehr schade.
Die Aussetzung hatte allerdings nicht nur für die Bundeswehr Folgen: Auch bei den Wohlfahrtsverbänden ging die Angst um, ihre Aufgaben ohne Zivildienstleistende nicht mehr stemmen zu können. 78.000 Zivis arbeiteten zuletzt noch in Altenpflege, Behindertenhilfe oder in Krankenhäusern. Rainer Hub von der Diakonie blickt auch selbstkritisch auf die Zeit zurück: „Wer bis zum jüngsten Tag mit Zivis plant, der macht von seiner Organisationsentwicklung her einen Fehler. Natürlich haben wir Fehler gemacht.“ Kritisch sei es vor allem in den Behindertenwerkstätten und bei Fahrdiensten geworden.

Aus dem Zivildienst wurde der Bundesfreiwilligendienst „Bufdi“, das Freiwillige soziale Jahr (FSJ) blieb bestehen. Heute gibt es knapp 40.000 Bufdis, rund 52.000 FSJ-ler und rund 8.000 freiwillig Wehrdienstleistende. Damit ist nur etwa die Hälfte der eingeplanten Stellen besetzt. Das zeigt, dass der freiwillige Wehrdienst nicht gut angenommen wird. Ein Problem nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die Reserve. Um mehr Reservisten zu bekommen, hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ein sogenanntes „Deutschland-Jahr“ konzipieren lassen, den „Wehrdienst im Heimatschutz“: sieben Monate aktive Dienstzeit plus fünf Monate lang Reserveübungen, verteilt über sechs Jahre. Im April starteten die ersten Freiwilligen.

Rekruten beim Überwinden der Hindernisbahn. Wer heute zum „Bund“ geht, tut dies freiwillig (Foto: Janine Schmitz/photothek/imago)

Auch das neue Reservistenkonzept soll helfen: Ab Oktober werden ausscheidende Soldaten automatisch sechs Jahre lang auf passende Reservedienstposten eingeplant und zu Übungen eingeladen. Das klingt nicht nach einer Reaktivierung der Wehrpflicht. Denn einerseits bleiben die Gründe für die Aussetzung bestehen. Andererseits sei die Bundeswehr auf eine Reaktivierung gar nicht vorbereitet, sagt Siemtje Möller, verteidigungspolitische Sprecherin der SPD: „Wir würden die Bundeswehr massiv damit überfordern, wenn wir die Wehrpflicht wieder einführten. Weil es für Wehrpflichtige keine Unterbringung, keine Ausbildungskapazitäten und auch keine Einsatzszenarien gibt – wo soll man die Wehrpflichtigen einsetzen, wenn wir hauptsächlich von einer Einsatzarmee sprechen.“ Denn Wehrpflichtige wurden nicht in Auslandseinsätze geschickt. Dabei kennt Möller auch die Stimmen aus der Truppe, die der Wehrpflicht hinterhertrauern: „Wenn ich da heute als Fachpolitikerin draufblicke, sehe ich schon die Personalnöte der Bundeswehr und weiß, dass sie sich wünschen, dass eben auch wieder ein gewisser Zuwachs durch die Wehrpflicht entstehen könnte. Weil es einfach wie so ein Läusekamm ist: Dann bleibt halt auch etwas hängen, und das ist das Personal, was ihnen heute händeringend fehlt.“ Aber Möller sagt: Die Bundeswehr solle sich nicht wünschen, was sein könnte, sondern mit dem arbeiten, was man bekommt.

Dabei hatte die Wehrbeauftragte Eva Högl von der SPD im Juli 2020 die Aussetzung der Wehrpflicht im Hinblick auf die rechtsextremistischen Vorfälle beim Kommando Spezialkräfte einen „Riesenfehler“ genannt. Henning Otte lässt das Argument nicht gelten und sagt: „Nicht der Wehrpflichtige hat die Aufgabe, die Bundeswehr vor Extremismus zu schützen, sondern der Vorgesetzte und das Bundesverteidigungsministerium.“ Außer CDU/CSU und SPD sind auch Grüne, FDP und Linke gegen eine Reaktivierung der Wehrpflicht – nur die AfD will sie wieder
Jenseits einer Wehrpflicht steht auch eine Dienstpflicht für alle Männer und Frauen zur Debatte. Das schließen jedoch sowohl Henning Otte als auch Siemtje Möller aus. Sie fordern stattdessen mehr Anreize für Freiwillige. So könnte der Freiwilligendienst als Wartesemester fürs Studium angerechnet werden, ein Viertel Rentenpunkt mehr ergeben oder eine kostenlose Monatskarte für den Nahverkehr mit sich bringen.
Trotz regelmäßiger Sommerlochdebatte: Eine Reaktivierung der Wehrpflicht ist nicht in Sicht. Es zeigt sich stattdessen: Die Aussetzung war gerecht und geboten. Sie hat zwar das Personalproblem der Bundeswehr verschärft – aber dieses Problem muss die Bundeswehr selbst lösen. Eine Begründung für einen derart gravierenden Eingriff in die Grundrechte kann die Personalnot nicht sein.

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