Mit Powerpoint gegen Piraten
Der Golf von Guinea ist eines der gefährlichsten Meere der Welt. Damit sich das ändert, bildet Oberstleutnant Michael Reinwald in Accra afrikanische Experten im Kampf gegen Piraterie und illegale Fischerei aus.
In Accra ist es schwülheiß. Staub und Benzingeruch wabern in der Luft. Müll türmt sich an den Straßenrändern. Und doch weiß Michael Reinwald, dass er genau hier sein will. „Ich habe mich in das Land und das KAIPTC verliebt“, sagt der Oberstleutnant in seinem Büro am Kofi Annan Peacekeeping Training Center (KAIPTC) in Accra. Der 57-Jährige ist Ausbildungsleiter und militärischer Berater, es ist seine letzte militärische Verwendung in der Bundeswehr vor dem Ruhestand.
Von Julia Egleder
Es ist 7.15 Uhr, Reinwald hat noch eine Dreiviertelstunde. Dann beginnt sein Lehrgang zum Thema „Sicherheit auf See und transnationales organisiertes Verbrechen“. Es ist ein zweiwöchiges Seminar. Reinwald hat mit einem Team internationaler Ausbilder die Kursinhalte zusammengestellt, Referenten ausgesucht und die Teilnehmer unter vielen Bewerbern ausgewählt. Heute steht „Piraterie und illegale Fischerei“ auf dem Kursprogramm. Im himmelblauen Hauptgebäude des Training-Centers ist es noch ruhig. Reinwald gehört immer zu den ersten, die da sind. Er wohnt in der Innenstadt von Accra und fährt jeden Morgen zehn Kilometer mit seinem Wagen durch den chaotischen Straßenverkehr der lebhaften Metropole zum Training-Center, vorbei an Kasernengebäuden der ghanaischen Armee, Straßenhändlern und halbfertigen Geschäftshäusern. Das Training-Center liegt direkt am Atlantik, von seinem Büro kann Reinwald das aufgewühlte Meer des Golfs von Guinea sehen.
Golf von Guinea: Hotspot der Piraterie
Der Golf gehört zu den gefährlichsten Meeren der Welt. Nirgendwo sonst gibt es so viele Piratenüberfälle. Reinwald ist auch in Ghana, damit sich das ändert. Jetzt druckt er aber erst einmal Teilnehmerlisten aus und liest sich das Programm für den heutigen Tag durch. Dann eilt er durch das Atrium des Training-Centers Richtung Seminarraum. Dabei kommt er an einem großen Foto von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder vorbei, das an die Wand des Gebäudes geheftet ist. Darüber steht „Gerhard Schröder Hall“, also „Gerhard-Schröder-Lehrsaal“. Das Training-Center wurde während der Kanzlerschaft von Schröder gebaut. Deutschland übernahm einen großen Teil der Baukosten und finanziert immer noch bestimmte Lehrgänge, etwa den Kurs zur Wahlbeobachtung, zur Reintegration von Milizkämpfern oder einen Menschenrechtskurs. Außer Reinwald sind zwei deutsche Polizisten als Dozenten und Lehrgangsleiter am Training-Center. Wer für die Afrikanische Union, für die Westafrikanische Wirtschaftsunion ECOWAS oder für die Vereinten Nationen in den Friedenseinsatz gehen will, muss sich hier ausbilden lassen.
Die Teilnehmer kommen hauptsächlich aus westafrikanischen Staaten. „Ich organisiere und leite Kurse. Ich bin praktisch ein ‚Mädchen für alles‘“, sagt Reinwald. Er lächelt dabei selbstironisch. Doch er nimmt seine Arbeit sehr ernst. Er erzählt, dass seine Frau extra heim nach Oberfranken geflogen sei, da sie wüsste, dass er sich voll und ganz auf seinen Lehrgang konzentrieren wolle. Normalerweise lebt er gemeinsam mit seiner Frau in Accra.
Hilfe zur Selbsthilfe
Reinwald erreicht den Seminarraum in einem der auf dem Campus verteilten modernen Gebäude. Fast alle Teilnehmer sind schon da. Es sind 30 Männer und Frauen, die meisten kommen aus Ghanas Nachbarländern, etwa aus Benin, Gambia oder der Elfenbeinküste. Viele tragen die Uniform ihrer Armee, andere bunt gemusterte Hemden oder lange Kaftane. Sie arbeiten entweder für die Marine ihres Landes, für die Hafensicherheit oder verschiedene Ministerien. Als Reinwald die Teilnehmer auswählte, stellte er sich folgende Fragen: Welche Stellen sind wichtig, um Piraterie vor Ort bekämpfen zu können? Wer soll sich in Zukunft besser mit wem absprechen? Die entsprechenden Experten lädt er dann ein. Sie sollen sich in den zwei Kurswochen kennenlernen und Vertrauen zueinander fassen. „Hier in Westafrika sind persönliche Beziehungen besonders wichtig“, sagt Reinwald. Wer sich kenne, der rufe sich auch mal an, wenn bei ihm vor der Küste etwas Verdächtiges geschehe, erklärt er. Ein gemeinsames Vorgehen der Anrainerstaaten gegen Piraterie, das möchte Reinwald mit diesem Lehrgang erreichen. Deshalb bietet er in der knappen Freizeit auch gemeinsame Ausflüge für die Teilnehmer an. In ein paar Tagen steht eine Stadtrundfahrt durch Accra auf dem Programm.
Der Weltenbummler
Reinwald ist so etwas wie ein Vagabund. Sein Lebenslauf zählt 22 internationale Einsätze, Verwendungen, Aufträge und Lehrgänge. Er war für die UN im Südsudan und in Georgien, für die Nato in Mazedonien und Lissabon. Dabei hätte er selbst nicht gedacht, dass er einmal ein Weltenbummler werden würde. Nach dem Abitur kam Reinwald als Zeitsoldat und Reserveoffizieranwärter für zwei Jahre zur Bundeswehr. Er entschied sich schnell dafür, Berufssoldat zu werden und ging zur Artillerietruppe. „Mein Ziel war es, Bataillonskommandeur bei der Artillerie zu werden“, sagt Reinwald. Doch als es so weit gewesen wäre und Reinwald zur Beförderung anstand, war der Kalte Krieg vorbei und die Artillerie auf ein Minimum zusammengeschmolzen. Es habe so gut wie keine Bataillonskommandeursstellen mehr gegeben, sagt Reinwald. Es liegt kein Bedauern in seiner Stimme.
Denn ihm bot sich unverhofft eine andere Chance. Anfang der 2000er Jahre wurden deutsche Soldaten als Militärbeobachter in UN-Friedenseinsätzen gesucht. Reinwald meldete sich sofort. Dass ihm die Arbeit im Ausland mit internationalen Partnern Spaß machte, hatte er schon bei einer Großübung in den USA Ende der 1990er Jahre bemerkt. Reinwald kennt die Vorbehalte vieler Soldaten gegen UN-Missionen: Im Vergleich zu Nato-Einsätzen seien diese unorganisierter und schwieriger. Er sagt: „Entweder man liebt die UN oder man hasst sie. Ich liebe sie.“
Die Arbeit mit Menschen aus der ganzen Welt sei unglaublich bereichernd. In der Ausgestaltung seiner Arbeit sei er bei UN-Verwendungen meist viel freier als bei Nato-Missionen. Er habe immer das Gefühl gehabt, im Team besonders viel erreichen zu können, sagt er. Er finde es zudem schön, nicht nur in Kasernen zu leben und zu arbeiten, sondern selbstbestimmt inmitten der Bevölkerung des Einsatzlandes. Auch wenn das heiße, dass er für Unterkunft, Wäsche und Verpflegung selbst sorgen müsse, sagt er schmunzelnd.
Deutschlands besonderes Interesse
Im Seminarraum übernimmt jetzt Kakra Addison den Unterricht. Er ist Admiral im Ruhestand und Experte für Pirateriebekämpfung. Der Ghanaer hat 37 Jahre lang der Marine seines Landes gedient. In Stakkato-Englisch erklärt Addison die aktuellen Piraterie-Entwicklungen. Es gäbe zwei Hotspots in Afrika, zum einen den Golf von Aden bei Somalia und zum anderen, weitgehend von westlichen Medien unbeachtet, den Golf von Guinea. Dort nähmen die Piratenangriffe immer weiter zu, berichtet Addison. Allein vor der Küste Nigerias wurden im vergangenen Jahr 36 Piratenangriffe gemeldet. Es sei davon auszugehen, dass mindestens 70 Prozent der Übergriffe gar nicht gemeldet würden und die Dunkelziffer daher immens hoch sei. Die Piraten entführten die Schiffe aber nicht mit kompletter Mannschaft, um dann Lösegeld für ihre Freilassung zu fordern, wie das vor Somalia der Fall ist. Mit Sturmgewehren und Panzerfäusten bewaffnet, raubten sie die Schiffe vielmehr aus und agierten dabei besonders aggressiv. Ölfrachter haben die Piraten besonders im Visier. Was kümmert das Deutschland? Reinwald flüstert, um Kakra Addison nicht zu stören: Die ohnehin schon äußerst armen Länder entlang des Golfs von Guinea würden durch die Piraterie wichtiger Einkommensquellen beraubt. Im Endeffekt steige damit auch der Migrationsdruck auf Europa.
Vor der Küste Somalias
„Wie sieht es vor Somalia aus?“, fragt Addison in die Runde. Vor zehn Jahren geriet das Horn von Afrika durch Piratenüberfälle, Entführungen und Geiselnahmen in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Es meldet sich Fartun Ibrahim, eine junge Frau mit fein geschnittenem Gesicht, das von einem dunkelroten Kopftuch umhüllt ist. Sie stammt aus Somalia und ist als „Maritime Officer“ für die UN-Mission in ihrem Land zuständig. „In Somalia scheint es nur so, als wäre das Problem der Piraterie ausgemerzt“, sagt sie. Ibrahim kennt sich aus. Sie berät ihre Regierung bei der Pirateriebekämpfung. Zwar seien die Übergriffe auf Frachtschiffe in den vergangenen Jahren rückläufig gewesen, erklärt sie. So wachten nun gut ausgerüstete private Sicherheitsdienste an Bord großer Frachter. Auch die internationalen Flottenverbände wie die EU-Marinemission „Atalanta“ wirkten abschreckend auf Piraten. Doch Fartun Ibrahim warnt: Zuletzt hätten die Angriffe wieder zugenommen. „Die Gründe für die Piraterie vor der somalischen Küste wurden nicht beseitigt“, erklärt sie. Die hohe Arbeitslosigkeit, die chaotischen Verhältnisse infolge des Bürgerkriegs und die illegale Fischerei, die den Fischern ihre Lebensgrundlage nehme, spielten den Piraten in die Hände. Aktuell komme auch noch eine Hungersnot hinzu. Die Regierung von Somalia, sagt Fartun Ibrahim seufzend, sei immer noch zu schwach, um gegen die Piraten vorzugehen. Sie spricht dabei engagiert und mit Vehemenz in der Stimme, so als ob sie es gewöhnt ist, sich in einer männerdominierten Welt durchzusetzen.
Michael Reinwald verfolgt die Diskussion von seinem Platz am anderen Ende des Seminarraums aus. Er mischt sich nicht ein, obwohl auch er eigene Erfahrungen bei der Piratenbekämpfung gemacht hat. Zwei Jahre lang war er als Desk-Officer im Nato-Hauptquartier in Lissabon eingesetzt, von wo aus die Antipirateriemission „Ocean Shield“ geführt wurde. Doch referieren möchte er nur ungern über Piraterie. „Wir suchen dafür immer lokale Experten, die kennen sich besser mit den Problemen vor Ort aus“, sagt er. Er hält sich zurück, verteilt Arbeitsblätter oder korrigiert Formatierungsfehler auf den Power-Point-Folien der Referenten.
Ausbildungszentrum in Hammelburg
Gleichwohl ist Reinwald ein begeisterter Dozent. Am Vereinte- Nationen-Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Hammelburg war er vier Jahre lang Hörsaalleiter der internationalen Lehrgänge. Dabei bildete er mit möglichst realistischen Szenarien Experten der Bundeswehr, der OSZE oder des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze für ihre Auslandseinsätze aus. Mit seinem Ausbilderteam habe er zum Beispiel fast 50 Mal eine fiktive Geiselnahme oder das Verhalten an Checkpoints durchgespielt, erinnert sich Reinwald.
Auslandseinsatz folgt auf Auslandseinsatz
Die Jahre am UN-Ausbildungszentrum verbrachte Reinwald in Hammelburg und reiste nur selten. Doch dann ging es wieder Schlag auf Schlag. Wenn er von einem Auslandseinsatz zurückkehrte, kamen meist sofort die nächsten Anfragen. Mitte 2012 waren die Reinwalds aus Portugal wieder in ihr Haus bei Bayreuth gezogen. Sie hatten gerade ausgepackt, als der neue Auftrag kam. „Ich sollte in den Südsudan gehen“, berichtet Reinwald. Seiner Ehefrau brachte er es schonend bei. „Ich habe zu ihr gesagt: Setz Dich mal hin, ich muss Dir was sagen. Ich soll in den Südsudan“. Seine Frau fragte ihn: „Wann? In zwei Monaten?“ Reinwald antwortete: „Nein, in zwei Wochen“. Nie sei es ihm in den Sinn gekommen, den Auftrag abzulehnen. In den Südsudan konnte seine Frau nicht mitreisen, das Land ist gefährlich. Doch sonst begleitete sie ihn nicht nur nach Ghana, sondern auch nach Portugal.
Piraterie bekämpfen
Mehrere Stunden sind vergangen und die Kursteilnehmer diskutieren immer noch engagiert. „Wie können wir Piraterie bekämpfen?“, fragt Addison in die Runde. Die Teilnehmer sammeln Vorschläge. Mit mehr Patrouillen im Golf von Guinea schlägt ein Mitglied der ghanaischen Küstenwache vor. Mit besserer technischer Ausstattung der Marine, vor allem moderneren Radaranlagen, regt ein Marinesoldat aus der Elfenbeinküste an. Einig sind sich die Teilnehmer darin, dass es zuallererst aber besserer Absprachen zwischen den beteiligten Ländern und gemeinsamer Übungen bedürfe, um die Piraterie wirkungsvoller bekämpfen zu können.
Kein Heimweh
Bereits ein Jahr lang arbeitet und lebt Oberstleutnant Reinwald mit seiner Frau nun in Ghana. Was vermisst er von zu Hause? Deutsches Brot? „Nein, ich bringe mir Backmischungen mit und backe mein eigenes Brot“, sagt er. Das Joggen in freier Natur und frischer Luft? Nein, wenn er ein Stück aus Accra he rausfahre, könne er auch die Natur genießen. Das ist dann zwar nicht das fränkische Hügelland, aber der tropische Urwald sei auch faszinierend, erklärt er.
Fünf weitere Jahre in Accra?
Die Leidenschaft, sich für das Gemeinwesen einzusetzen, hat Reinwald an seine Kinder vererbt. Seine Tochter hat gerade ihren Studienabschluss als Stabsärztin bei der Bundeswehr gemacht. Sein Sohn ist bei der Bundespolizei. Und auch Reinwald ist noch lange nicht reif für die Rente. Eigentlich laufe sein Vertrag mit den UN noch mehr als zwei Jahre, sagt er. „Dann wäre ich 59 Jahre alt und könnte in Pension gehen. Aber ich würde gerne verlängern“, sagt er. Maximal fünf weitere Jahre könnte er dann in Accra bleiben. Doch auch danach wolle er nicht „nur“ den Ruhestand genießen. Vielmehr plane er, als Wahlbeobachter in Krisengebiete zu gehen. „Wenn einen die Leidenschaft für internationale Friedenseinsätze einmal gepackt hat, dann wird man sie nicht mehr los“, sagt Michael Reinwald.