Und die Reserve?
Die Reserve spielt in den Wahlprogrammen der Parteien fast keine Rolle. loyal hat deshalb nachgefragt, wie sich die Parteien zur Bundestagswahl am 23. Februar gegenüber den Reservisten positionieren.
Die Sicherheitspolitik wird bei der Bundestagswahl in diesem Monat nicht die entscheidende Rolle spielen – im Gegensatz zu den Wahlkampfklassikern Wirtschaft und Soziales und möglicherweise auch Migration. Allerdings ist die Bundestagswahl 2025 die erste, die in Zeiten eines Krieges mitten in Europa stattfindet. Das verleiht Verteidigungsthemen durchaus eine größere Bedeutung als bei früheren Wahlen. Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Jasmin Riedl von Universität der Bundeswehr in München, die unter anderem zum politischen Wettbewerb forscht, stellt einen über alle Parteigrenzen hinweg geltenden Konsens fest, dass der russische Angriff auf die Ukraine thematisch bearbeitet werden muss. Riedl im Gespräch mit loyal: „Es gibt keine Partei, für die der Krieg nicht auf irgendeine Weise relevant ist.“ Sie müssen sich dazu verhalten – ob sie wollen oder nicht. Riedl spricht vom Krieg in der Ukraine als einem „exogenen Schock“ für die deutsche Politik. „Solche Schocks haben die Wucht, Politik zu ändern.“
Dies konnte man nach dem 24. Februar 2022, dem Überfall Russlands auf die Ukraine, auch in Deutschland beobachten: Bundeskanzler Olf Scholz (SPD) rief eine „Zeitenwende“ aus, die Bundeswehr bekam ein mit 100 Milliarden Euro ausgestattetes Sondervermögen, um die in den Jahrzehnten zuvor aufgelaufenen gröbsten Ausstattungsmängel zumindest halbwegs zu beheben. Die SPD blickte plötzlich teils kritisch, teils verschämt auf ihre jahrelang gepflegten Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, der sich als Gewaltherrscher entpuppt hat. Die Grünen – aus der Friedensbewegung hervorgegangen – wandelten sich zu Befürwortern von Waffenlieferungen an die Ukraine. Der „exogene Schock“ der russischen Aggression, von dem die Münchener Politikforscherin Riedl spricht, hat also einiges verändert in der deutschen Politik.
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Doch haben diese Schockwellen in den den Parteien auch abseits der Sonntagsreden über die großen Fragen der Sicherheitspolitik etwas verändert? loyal wollte es genauer wissen und schickte den Parteien beziehungsweise den Fraktionen und Gruppen im Bundestag einen gleichlautenden Fragenkatalog, in dem es insbesondere um die Reserve und die Wehrpflicht ging.
Militärische Bedeutung der Reserve
Die erste Frage war die nach der militärischen Bedeutung der Reserve. Hier scheint der „exogene Schock“ des russischen Überfalls auf die Ukraine voll durchgeschlagen zu haben. Alle Parteien betonen die große Bedeutung der Reserve für eine starke Bundeswehr und einen resilienten Staat. Der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Florian Hahn (CSU), nennt in diesem Zusammenhang als einziger ausdrücklich den Namen Wladimir Putins: „Wir brauchen eine leistungsfähige, personell und materiell umfassende Reserve für die Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr. Ohne sie gelingt keine glaubwürdige Abschreckung gegen Aggressoren wie Putin und keine durchhaltefähige Verteidigung.“
Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Falko Droßmann, betont die Verschiebung des Aufgabenspektrums: „Nachdem für die Reserve lange Zeit die Unterstützung der Bundeswehr bei der täglichen Auftragserfüllung und die Entlastung der aktiven Soldaten im Vordergrund stand, wandelt sich nun ihr Auftrag: Sie muss die Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit unserer Streitkräfte und den Schutz der kritischen Infrastruktur in einem Szenario der Landes- und Bündnisverteidigung sicherstellen.“ In dieselbe Richtung geht die Antwort der Grünen-Verteidigungspolitikerin Sara Nanni: „Ohne eine funktionierende Reserve gibt es keine dauerhaft durchhaltefähige Landes- und Bündnisverteidigung.“ Dietmar Bartsch von der Linkspartei belässt es bei der Aussage: „Militärisch spielt die Reserve auch eine wichtige Rolle.“
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Für den FDP-Verteidigungsexperten Alexander Müller hat die Reserve „eine zentrale Rolle beim schnellen Aufwuchs der Streitkräfte“. Die AfD, deren Antworten nicht aus dem Bundestag, sondern von der Bundesgeschäftsstelle kamen, schreibt: „Die militärische Bedeutung der Reserve liegt darin, im Verteidigungsfall die aktiven Verbände aufzufüllen, Reserveverbände aufzustellen sowie Aufgaben im rückwärtigen Raum sowie im Heimatkriegsgebiet zu übernehmen.“ Żaklin Nastić, verteidigungspolitische Sprecherin der Gruppe des BSW im Bundestag, wehrt sich gegen den Begriff „kriegstüchtig“: „Die Reserve ist elementarer Bestandteil der Landesverteidigung. Diesem Auftrag fühlen sich die Reservisten der Bundeswehr verpflichtet. Die Bundesrepublik ist in ihrer Geschichte gut damit gefahren, den Reservisten genau diese Rolle zuteilwerden zu lassen und sie nicht ‚kriegstüchtig‘ zu machen.“
Gesellschaftliche Rolle
Auf die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Reserve betont Unionsvertreter Florian Hahn, dass sie „ein wichtiges Bindeglied für die breite Verankerung der Truppe in der Gesellschaft“ sei. Der FDP-Abgeordnete Müller spricht fast wortgleich von einem „wichtigen Bindeglied zwischen Bundeswehr und Zivilgesellschaft“. Für Dietmar Bartsch (Linkspartei) helfen die Reservisten, „die Bundeswehr besser in der Bevölkerung zu verankern“. Laut Sara Nanni von den Grünen tragen Reservisten dazu bei, „dass die militärische Perspektive auf unsere Sicherheitspolitik breiter in der Gesellschaft diskutiert wird und klar wird, dass die Bundeswehr nicht sich, sondern unser Land und die freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigt.
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Der Reservistenverband wird in diesem Zusammenhang bei Falko Droßmann (SPD) ausdrücklich hervorgehoben: Die Reserve diene der Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft und sei die militärische Heimat der ausgeschiedenen Soldaten. „Dabei vertritt der Reservistenverband demokratische Werte und Normen. Seine Rolle bei der Demokratiebildung ist unverzichtbar.“ Die AfD sieht die gesellschaftliche Bedeutung der Reserve „in einer engen visuellen und ideellen Verbindung von Zivilgesellschaft und Militär“. Diese zeige sich unter anderem „in der Präsenz von Reservisten in der Öffentlichkeit, in der Nachbarschaft und in den Familien“. Dahinter verberge sich „der ideelle Gedanke, dass Streitkräfte nicht außerhalb der Gesellschaft stehen dürfen, dass die Sicherheit unseres Vaterlandes nicht geschenkt wird und dass jeder aufgerufen ist, als Verteidiger von Heim und Hof seinen Beitrag zu leisten“, so die Antwort der AfD auf die Frage von loyal.
Umfang
Konkret nach dem notwendigen Umfang der Reserve gefragt, antwortete Falko Droßmann von der SPD: „Wir orientieren uns an der vom Generalinspekteur genannten Größenordnung von 260.000 beorderten Reservisten. Das stellt aus Sicht der SPD die Forderungen der NATO sicher.“ Die Personaldaten aller Reservisten, die der Wehrüberwachung unterliegen, sollten auf den neuesten Stand gebracht und vom Personalmanagementsystem der Reservisten in das der Bundeswehr überführt werden.“
Florian Hahn, Unions-Sprecher für Verteidigung, schrieb: „Kurzfristig sind die bislang geplanten rund 260.000 Soldaten in Reservestrukturen zusammen mit den 203.000 Aktiven schon allein eine Herausforderung.“ Diese Reserve sei vorrangig für den Heimatschutz und für Sicherungsaufgaben vorgesehen. „Langfristig muss es aber das Ziel sein, Reserven analog zu den aktiven Verbänden zu haben, die personell und materiell sowie durch umfassende Ausbildung das gleiche Fähigkeitsprofil wie die aktiven Verbände aufweisen.“
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Alexander Müller (FDP) spricht von „etwa 930.000 dienstleistungspflichtigen Angehörigen der Reserve“, die ein „erhebliches Reservoir“ darstellten, von denen jedoch nur 34.000 Reservisten Dienst in regelmäßigen Übungen leisteten. Die FDP wolle hier eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Dienst erwirken, um so die Zahl zu erhöhen. „Die starre Altersgrenze bei 65 Jahren wollen wir lockern. Wenn wir es schaffen, dass 100.000 Reservisten regelmäßig üben, wäre das ein wichtiger Schritt nach vorn.“
Für Sarah Nanni (Grüne) soll sich die Zielgröße der Reserve an den Vorgaben der NATO orientieren. Die „nötigen finanziellen Anstrengungen für eine einsatzbereite, wachsende Reserve müssen seriös gegenfinanziert sein,“ schreibt sie. Für eine belastbare Personal-, Alters- und Fähigkeitsstruktur müssten allerdings noch die rechtlichen Strukturen und Anreize geschaffen werden. „Hier hinken wir aktuell leider noch sehr hinterher.“
Die AfD verweist auf ein 2019 parteiintern erarbeitetes Konzept, in dem folgende Zahlen zu finden sind: eine von einem „Kommando Reservisten“ geführte Truppenreserve von rund 56.000 beorderten Reservisten und eine Territorialreserve von rund 50.000 Reservisten. Desweiteren eine in der Verantwortung des Bundesamtes für das Personalwesen der Bundeswehr liegende Personalreserve von rund 54.000 Reservisten sowie eine allgemeine Reserve von „ca. 100.000 verfügbaren Reservisten, beides überwacht und als gepflegter Datenbestand geführt“.
Dietmar Bartsch von der Linkspartei räumt ein, dass die Linke als zweitkleinste Gruppe im Bundestag keine personellen Ressourcen habe, um den Umfang der Reserve seriös zu berechnen. Żaklin Nastić vom BSW nennt ebenfalls keine Zahlen und schreibt stattdessen, dass die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine verstärkt diskutiert werde. „NATO-Befürworter und Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes haben diesen Krieg und die daraus resultierende Stimmung genutzt, um die Bundeswehr aufzurüsten.“
Bewaffnung
Bei der Frage, ob die Reserve über den jetzigen Stand hinaus bewaffnet werden müsste – zum Beispiel mit Maschinengewehren, Panzerfäusten und Drohnen – sieht Żaklin Nastić vom BSW „aktuell aus verteidigungspolitischer Perspektive“ keinen Grund, die bisherige Ausbildung von Reservisten zu ändern. Für Dietmar Bartsch (Linkspartei) besteht für eine weitergehende Bewaffnung „kein Bedarf“. Der AfD genügt die gegenwärtige Ausrüstung für eine Reserve, die Schutz- und Sicherungsaufgaben übernehmen soll. Jedoch habe die AfD eine andere Vorstellung von Reserve; diese sei „unmittelbar mit der Wehrpflicht verbunden, daher muss die Ausrüstung und Bewaffnung entsprechend bereitgestellt werden“.
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Die FDP befürwortet eine zusätzliche Bewaffnung. Alexander Müller schreibt dazu: „Eindeutig ja! Es ist ja der Sinn der Reserve, im Spannungsfall sehr schnell, idealerweise sofort, an seinem jeweiligen Waffensystem einsetzbar zu sein.“ Sarah Nanni von den Grünen verweist darauf, dass die Ausstattung von den Aufgaben abhänge. „Seit der Zeitenwende liegt der Schwerpunkt wieder auf Landes- und Bündnisverteidigung. Jetzt müssen wir die Voraussetzungen schaffen, um notwendiges modernes Material und Gerät für die Reserve zu beschaffen.“
Auch die Union betont, dass Art und Umfang der Reserve sich aus den militärischen Notwendigkeiten ableiteten. „Es braucht nicht nur eine personelle Durchhaltefähigkeit, sondern auch eine materielle“, schreibt Florian Hahn. Außerdem müsse die „Ausbildungslandschaft“ neu gedacht werden: „Wir brauchen schnell erlern- und bedienbare Waffensysteme und müssen die Komplexitätsfalle auch hier vermeiden.“
Falko Droßmann (SPD) verweist darauf, dass das MG bereits zur Soll-Ausstattung der Sicherungstruppenteile gehöre. „Die Forderung nach zusätzlicher Ausrüstung ist dennoch berechtigt.“ Er verweist hier insbesondere auf die Drohnenabwehr und die Verlegefähigkeit der Heimatschutzregimenter.
Wehrpflicht
Eng verbunden ist die Reserve mit der Wehrpflicht, das haben die Zahlen der Reserve nach Aussetzung der Wehrpflicht 2011 gezeigt. loyal hat deshalb die Parteien auch nach ihrer Haltung zur Wehrpflicht gefragt. Falko Droßmann von der SPD bedauert, dass Deutschland aktuell nicht einmal über die Daten derjenigen verfüge, die bereits gedient haben, um sie im Falle einer Krise heranziehen zu können. Die Aufwuchsfähigkeit wurde nach Aussetzung der Wehrpflicht „zerschlagen“, schreibt Droßmann. „Es geht also erst einmal um einen realistischen Wiederaufbau von grundlegenden Fähigkeiten, bevor wir über eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen im militärischen oder zivilen Bereich sprechen.“ Die SPD setze im Übrigen „zuerst auf einen Freiwilligendienst“.
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Dass 2011 die Wehrerfassung abgeschafft wurde, haben die Grünen seinerzeit kritisiert. Angesichts der russischen Aggression habe die Bundeswehr heute keine Zeit und keine Ressourcen, ein solches System wieder aufzubauen. Laut Sarah Nanni setzen die Grünen daher auf „niedrigschwellige Maßnahmen (Erfassungsbogen) zur Stärkung des Freiwilligen Wehrdienstes“. Für die FDP ist laut Alexander Müller eine allgemeine Dienstpflicht „weder mit dem Grundgesetz vereinbar, noch ist eine Form der Zwangsverpflichtung sinnvoll. Die beste Leistung erbringen Menschen nicht aus Zwang, sondern wenn sie innerlich überzeugt sind.“
Florian Hahn (CSU) sieht in der Wehrpflicht einen „wesentlichen Beitrag zum Schutz Deutschlands vor Gefahren von außen“. Die Union befürwortet nach seinen Worten eine „aufwachsende Wehrpflicht, die wir perspektivisch zu einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr weiterentwickeln könnten.“ Aus dem Kreis der Gemusterten sollten zunächst nur diejenigen einberufen werden, die ihre Bereitschaft dazu signalisiert haben. Die Dauer des Wehrdienstes sollte „eine solide Grundbefähigung ermöglichen“.
Die AfD verweist darauf, dass für eine allgemeine Dienstpflicht das Grundgesetz geändert werden müsste. Eine solche Änderung würde jedoch gegen völker- und europarechtliche Verbote der Zwangsarbeit verstoßen. Eine Wiederbelebung der Wehrpflicht könnte nur mit der „üblichen Bürgerpflicht zur Verteidigung des Staates“ begründet werden. Die Wehrpflicht bis 2011 könne dabei nicht einfach reaktiviert werden, weil sie sich nur an Männer richtete, was einen Verstoß gegen die Gleichberechtigung darstelle. Daher ist aus Sicht der AfD „die Wehrpflicht dahingehend zu novellieren, dass sie für alle deutschen Staatsbürger gelten muss, den Wehrpflichtigen aber ein größtmögliches Maß an Freiwilligkeit einräumt“.
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BSW und Linke lehnen eine Wehrpflicht ab. Żaklin Nastić vom BSW schreibt: „Heranwachsende dürften nicht für den vermeintlichen Personalmangel und die deutsche Aufrüstungspolitik herangezogen und benutzt werden.“ Der verteidigungspolitische Sprecher der Linkspartei, Dietmar Bartsch, empfiehlt in der Antwort auf die entsprechende Frage, anstatt „viel Geld für F-35 auszugeben, könnte die Bundeswehr zum Beispiel daran arbeiten, dass es auf allen Standorten Damentoiletten, ausreichend und menschenwürdig ausgestattete Duschen und Toiletten für alle Bundeswehrangehörigen gibt“.
Kaum klare Vorstellung, viel vage Formulierung
von Björn Müller
Ein Blick in die Wahlprogramme zeigt: Die Parteien legen ganz unterschiedlichen Wert auf die Kernpunkte der Verteidigung.Bei zentralen Fragen der Sicherheitspolitik wie Rüstung sind jedoch alle Parteien schwach aufgestellt.
Mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die NATO-Quote von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung von einer Zielmarke zum Mindestaufwand geworden. Deutschland erreichte 2024 das Zwei-Prozent-Minimum mit circa 70 Milliarden Euro Militärausgaben dank des Sondervermögens. Allerdings ist das Sondervermögen für das gedacht, was in den letzten Dekaden an Wehrkraft abgebaut wurde. 2027 wird es ausgegeben sein. Klar ist, dass ein erheblicher Aufwuchs an Truppen und Material seitens der NATO geplant wird. Laut Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist es möglich, dass die Zielstruktur der Bundeswehr von 203.000 auf 230.000 Soldaten ausgebaut werden muss. Von 2028 an hält er einen Wehretat von mindestens 80, eher 90 Milliarden Euro für nötig. Der Minister betont, entscheidend sei die Summe – ein Verweis darauf, dass in der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik die zwei Prozent des BIP auch geringer ausfallen könnten.
Bekenntnis: Zwei Prozent und mehr
Zum NATO-Mindestziel von zwei Prozent bekennen sich CDU/CSU und SPD in ihren Wahlprogrammen. In der Formulierung der Union liegt Offenheit für mehr. Bei den Sozialdemokraten wird hervorgehoben, die zwei Prozent dauerhaft erzielen zu wollen. Am klarsten befürworten Liberale und vor allem die Grünen einen Ausbau der Verteidigungsausgaben. Auch im Wahlprogramm der FDP wird das NATO-Mindestziel genannt. Dort heißt es: Sollte die NATO höhere Ziele vereinbaren, müssten auch diese erfüllt werden.
Die Grünen halten es für nötig, „dauerhaft deutlich mehr als zwei Prozent des BIP in unsere Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit“ zu investieren. Ihr Kanzlerkandidat Robert Habeck hält 3,5 Prozent für sinnvoll. Bei der AfD heißt es vage, die Bundeswehr müsse „finanziell gut ausgestattet sein“. AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel äußerte, dass dafür fünf Prozent des BIP nötig werden könnten. Das BSW und die Linke lehnen das Zwei-Prozent-Ziel für die NATO ab und wollen die Wehrausgaben senken.
Ignoriert: Bessere Rüstung für Europa
Eine starke und effiziente Rüstung ist die Kardinalfrage für Deutschland und Europa in der Verteidigungspolitik. Sie stellt sich angesichts der Bedrohung durch Russland und des Drucks der USA auf die Europäer, mehr für die eigene Sicherheit zu tun. In den Wahlprogrammen spiegelt sich das allerdings nicht wider. Bei Union, FDP und SPD gibt es die tradierte Ambition nach europäischer Rüstung über den etablierten EU-Werkzeugkasten wie zum Beispiel die PESCO-Programme. Die zentrale Debatte in EU und NATO um ein europäisches Rüstungsindustrieprogramm und dessen Finanzierung wird nicht aufgegriffen. Lediglich die Grünen positionieren sich hier. Sie fordern eine „gemeinsame finanzielle Kraftanstrengung“ der Europäer über Kredite wie zu Pandemiezeiten, wo ein Corona-Hilfsfonds aufgelegt wurde.
Die AfD möchte dagegen eine „autonome“ wehrtechnische Industrie Deutschlands. Die Linke will Waffenproduktion auf zivile Güter umstellen. Das BSW lehnt eine intensivierte europäische Rüstung ab. Geht es um den Rüstungsexport, so wollen CDU/CSU einen europäischen Binnenmarkt für Verteidigungsgüter schaffen und darüber gemeinsame Ausfuhrregeln etablieren. Auch die Grünen befürworten einheitliche europäische Regeln, allerdings explizit restriktive. Die Liberalen sehen den Rüstungsexport als Werkzeug, um Deutschlands Allianzen zu stärken, und sogar als Mittel, um geopolitisch wichtige Regionen zu stabilisieren. Eine europäische Vereinheitlichung wird im Wahlprogramm nicht angesprochen.
Die SPD strebt eine „koordinierte Rüstungsexportpolitik“ der Europäer an. Die Hauptlobbyforderung der deutschen Wehrindustrie – bessere Finanzierungsmöglichkeiten für die Branche – schaffte es in die Wahlprogramme von Liberalen und Union. Bei Letzterer findet sich zudem der Plan, Großprojekte aus dem Beschaffungsamt herauszulösen, und einer eigenen Agentur zu übertragen. Das soll Vorhaben wie das Luftkampfsystem FCAS besser steuerbar machen. Ebenso sollen Produktionskapazitäten für eine „Drohnenarmee“ aufgebaut werden. Beides sind Forderungen der CSU mit Blick auf Bayern, wo Deutschlands Luftfahrt- und Drohnenindustrie ihren Schwerpunkt hat.
Dürftig: Ukraine-Waffenhilfe
Eine strategische Waffenhilfe, das heißt der Aufbau einer Rüstung mit hohen Stückzahlen, um die Ukraine ernsthaft in eine Position der Stärke gegen den Aggressor zu versetzen, wird es laut den Wahlprogrammen wohl auch unter einer neuen Koalition nicht geben. Die SPD legt sich fest, den Marschflugkörper Taurus grundsätzlich nicht liefern zu wollen. Die Lieferung von Waffen an die Ukraine müsse zudem generell mit „Besonnenheit und Augenmaß erfolgen“.
Die Liberalen wollen zwar den Taurus liefern. Doch schon im nächsten Satz heißt es in ihrem Wahlprogramm, die gesamte Ukraine-Hilfe solle „auskömmlich“ gestaltet werden. Auskömmlich bedeutet laut Duden „ausreichend zum Lebensunterhalt“. Zudem fordern die Liberalen eine bessere internationale Verteilung des Beistands, haben ihren Fokus also auf einer Entlastung Deutschlands. Die Grünen schreiben: „Dabei stehen wir fest an ihrer Seite – mit diplomatischer, finanzieller, humanitärer und militärischer Unterstützung.“ Also Beistand, aber nur so wie bisher. Bei CDU/CSU heißt es: „Daher unterstützen wir die Ukraine mit allen erforderlichen diplomatischen, finanziellen und humanitären Mitteln sowie mit Waffenlieferungen.“ Augenfällig ist, dass Waffenlieferungen explizit vom Attribut „allen erforderlichen“ ausgenommen werden. BSW, Linke und die AfD lehnen Waffenhilfe für die Ukraine ab. Die AfD-Delegierten des Wahlparteitags stimmten sogar mit großer Mehrheit dagegen, Russland und Diktator Putin im Wahlprogramm für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen.