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Sym­bol­bild: Die Ba­si­li­us-Ka­the­dra­le in Mos­kau in einer klir­rend kal­ten Win­ter­nacht.

Foto: Ni­ki­ta Kama­rov via un­s­plash.com

russ­land

Stil­voll ge­klei­de­te, junge, schö­ne Men­schen has­ten durch die Stra­ßen, in der Hand einen „Cof­fee to go“. Autos hupen, ge­steu­ert von ent­nerv­ten Fah­rern, die für ein paar Ki­lo­me­ter Stun­den brau­chen. Die Luft vi­briert von der Musik über­dreh­ter Sound­an­la­gen in teu­ren SUVs. Es stinkt nach Ab­ga­sen. Ein Mor­gen in Mos­kau, der grö­ß­ten Stadt Eu­ro­pas. Pral­les Leben, laut und hart.

Und doch ist da noch etwas an­de­res. Mos­kau ist die Stadt, die Furcht aus­löst. Furcht vor einem Krieg. Hier sitzt die Re­gie­rung von Wla­di­mir Putin, die mit ihrer un­be­re­chen­ba­ren und ag­gres­si­ven Po­li­tik vor allem in Ost­eu­ro­pa Ängs­te vor einem Kon­flikt aus­löst. Mit der An­ne­xi­on der Krim vor fünf Jah­ren hat sich zum erste Mal seit dem Zwei­ten Welt­krieg ein eu­ro­päi­scher Staat den Teil eines an­de­ren ge­walt­sam ein­ver­leibt. Bis heute fra­gen sich vor allem die ost­eu­ro­päi­schen Län­der, wer der nächs­te sein wird. „Wir be­rei­ten uns auf einen Über­fall vor“, sagte etwa der pol­ni­sche Prä­si­dent An­drej Duda kurz vor Be­ginn des rus­si­schen Ma­nö­vers „Zapad“ im Jahr 2017.

Die Nato und Russ­land ste­hen sich heute wie­der kon­fron­ta­tiv ge­gen­über. Als Re­ak­ti­on auf die An­ne­xi­on der Krim ist die west­li­che Mi­li­tär­al­li­anz zur Bünd­nis- und Lan­des­ver­tei­di­gung zu­rück­ge­kehrt. Ihre Mit­glie­der haben die Aus­ga­ben für die Streit­kräf­te er­höht und Trup­pen an der Ost­gren­ze des Nato-Ge­biets sta­tio­niert. Die Al­li­anz will dem Kreml auf diese Weise klar­ma­chen, dass er es im Fall eines An­griffs auf ein Mit­glied mit allen Bünd­nis­part­nern zu tun hätte. Es ist be­reits von einem „neuen Kal­ten Krieg“ die Rede. Was aber wol­len die Rus­sen? Was be­zwe­cken sie mit ihrer ag­gres­si­ven Po­li­tik? Die Ant­wor­ten dürf­ten sich vor allem in Mos­kau fin­den las­sen.

Die Sitze im „Air­port-Liner“ rie­chen wie neu. Die Bahn­stre­cke vom Mos­kau­er Flug­ha­fen Domo­de­do­vo in die In­nen­stadt wurde extra für die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft ge­baut. In der Metro gibt es kos­ten­lo­ses In­ter­net, so gut wie alle Fahr­gäs­te sind hier, 70 Meter unter der Erd­ober­flä­che, mit ihren Smart­pho­nes be­schäf­tigt. Oben drü­ber wird ge­baut: Von fast jedem Punkt der Stadt ist das neue Ban­ken­vier­tel „Mos­kau City“ zu sehen. Silb­rig schim­mern die Hoch­häu­ser aus Glas und Beton, zwi­schen denen Kräne Bau­ma­te­ria­li­en in den Him­mel hie­ven.

Foto: Eg­le­der

Auf dem Ge­län­de der Lo­mo­nos­sow-Uni­ver­si­tät wacht das zen­tra­le Uni­ver­si­täts­ge­bäu­de aus der Sta­lin­zeit wie ein er­ho­be­ner Zei­ge­fin­ger über den Cam­pus. Hier haben No­bel­preis­trä­ger wie der Phy­si­ker Andrei Dmit­ri­je­witsch Sach­a­row ge­lehrt und ge­forscht. An die­sem Tag has­ten zen­tral­asia­tisch aus­se­hen­de Stu­den­tin­nen mit Kopf­tuch zu ihren Vor­le­sun­gen, wäh­rend sich junge Frau­en in Mi­ni­rö­cken mit Kom­mi­li­to­nen un­ter­hal­ten, die schwar­ze Heavy-Metal- Shirts tra­gen. Auf dem Cam­pus be­fin­det sich auch der Ar­beits­platz von Ev­ge­nij Bus­hin­skij (Foto links). Der Ex-Ge­ne­ral hat vor sei­ner Pen­sio­nie­rung zehn Jahre lang die Ab­tei­lung für in­ter­na­tio­na­le Ver­trä­ge im Mos­kau­er Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um ge­lei­tet. Kaum je­mand weiß die Be­zie­hun­gen Russ­lands zum Wes­ten bes­ser zu ana­ly­sie­ren als er. Bus­hin­skij, grau me­lier­tes Sakko, ak­ku­rat ge­stutz­te Haare, lehrt heute „Stra­te­gi­sche Stu­di­en“an  der Lo­mo­nos­sow. „Die Be­zie­hun­gen zum Wes­ten sind so schlecht wie nie zuvor“, sagt er. Selbst im Kal­ten Krieg seien sie bes­ser ge­we­sen. Da­mals hätte es im­mer­hin noch klare Re­geln, Ab­rüs­tungs­ver­trä­ge und of­fe­ne Ge­sprächs­ka­nä­le ge­ge­ben. Alles passé, so Bus­hin­skij.

„Ame­ri­ka­ner haben Russ­lands In­ter­es­sen mit Füßen ge­tre­ten“

Bus­hin­skij lässt kei­nen Zwei­fel daran, wen er für die ver­fah­re­ne Si­tua­ti­on ver­ant­wort­lich macht: die USA. Seit den 1990er Jah­ren hät­ten die Ame­ri­ka­ner die In­ter­es­sen der Rus­sen mit Füßen ge­tre­ten, bei den „In­ter­ven­tio­nen“ auf dem Bal­kan, im Irak, in Li­by­en. Tat­säch­lich hat Russ­land nach dem Zer­fall der So­wjet­uni­on an Macht und Ein­fluss auf der Welt­büh­ne ein­ge­bü­ßt. Mit der Wende in der DDR 1989 und dem Fall des Ei­ser­nen Vor­hangs zer­fiel die So­wjet-Gro­ß­macht. Die Folge waren Frei­heit, aber auch An­ar­chie und Chaos in Russ­land. Der­weil muss­te die Nato auf dem Bal­kan Kri­sen­ma­nage­ment be­trei­ben. Zu­gleich nahm sie die nach Si­cher­heit su­chen­den Län­der des frü­he­ren Ost­blocks auf.

Für Bus­hin­skij ist die Nato-Ost­erwei­te­rung eine Pro­vo­ka­ti­on. Die USA hät­ten die schwie­ri­ge rus­si­sche Lage dreist aus­ge­nutzt und ihren Ein­fluss­be­reich auf Polen, Ru­mä­nen und die bal­ti­schen Län­der aus­ge­wei­tet, sagt er. Das rus­si­sche „Ein­grei­fen“ in der Ukrai­ne vor fünf Jah­ren sieht er des­halb als längst fäl­li­ge Ge­gen­wehr Russ­lands an. „Den Ame­ri­ka­nern muss­te auf­ge­zeigt wer­den, dass jetzt Schluss ist“, er­klärt Bus­hin­skij mit Ge­nug­tu­ung in der Stim­me. Russ­land habe nicht ta­ten­los zu­se­hen kön­nen, wie die USA die Mai­dan-De­mons­tran­ten fi­nan­ziert und einen Putsch in der Ukrai­ne an­ge­zet­telt hät­ten. „Wir muss­ten die rus­sisch­spra­chi­ge Be­völ­ke­rung schüt­zen.“ Es sei le­gi­tim ge­we­sen, die Krim zu an­nek­tie­ren, sagt der Ex-Ge­ne­ral, und die Be­völ­ke­rung im Don­bas vor „der fa­schis­ti­schen ukrai­ni­schen Re­gie­rung“ zu schüt­zen.

Foto: Artem Sa­pe­gin via un­s­plash.com

Mit sei­ner Wort­wahl und In­ter­pre­ta­ti­on der Er­eig­nis­se liegt Bus­hin­skij ganz auf Kreml-Linie. Die Les­art des Wes­tens aber, was in der Ukrai­ne pas­siert ist, sieht an­ders aus. Da­nach sind bei den Mai­dan-De­mons­tra­tio­nen im Win­ter 2013 vor allem die Bür­ger auf die Stra­ße ge­gan­gen, die eine de­mo­kra­ti­sche­re Ukrai­ne und eine An­bin­dung an EU und Nato woll­ten. Russ­land da­ge­gen habe sich mit der Krim den Teil eines sou­ve­rä­nen Staa­tes ein­ver­leibt. Das ist ein Völ­ker­rechts­bruch. Au­ßer­dem un­ter­stützt die rus­si­sche Re­gie­rung die Se­pa­ra­tis­ten in der Ost­ukrai­ne – haupt­säch­lich ma­fiö­se Kri­mi­nel­le, die einen Krieg be­gon­nen haben. Sol­che Ein­wän­de lässt Bus­hin­skij nicht gel­ten. Er schüt­telt dar­über un­wirsch den Kopf, muss dann aber zu sei­ner Vor­le­sung. Die Krim, sagt er zum Ab­schied, werde Russ­land nie wie­der her­ge­ben.

Bus­hin­skij war Mi­li­tär. Er hat sein Leben lang dem Staat ge­dient und ver­dankt der jet­zi­gen Re­gie­rung seine an­er­kann­te Stel­lung. Es war der der­zei­ti­ge Prä­si­dent, der die rus­si­sche Armee durch seine Po­li­tik der Auf­rüs­tung wie­der stark ge­macht hat. Doch wie denkt die rus­si­sche Be­völ­ke­rung über den Wes­ten? Sieht sie die ag­gres­si­ve Po­li­tik des Kreml ähn­lich un­kri­tisch wie Bus­hin­skij? Denis Vol­kov ist einer, der das sehr gut weiß. Er ar­bei­tet für das Le­va­da-Zen­trum, das re­gel­mä­ßig re­prä­sen­ta­ti­ve Um­fra­gen in ganz Russ­land durch­führt. Es gilt als ein­zi­ges un­ab­hän­gi­ges Um­fra­ge­in­sti­tut im Land. Re­nom­mier­te Me­di­en wie die „Wa­shing­ton Post“ und die „New York Times“ zi­tie­ren seine Um­fra­ge­er­geb­nis­se.

„Die Mehr­heit der Rus­sen will re­spek­tiert wer­den“

Das Le­va­da-Zen­trum be­fin­det sich nur einen Stein­wurf vom Kreml ent­fernt in einer be­lieb­ten Ein­kaufs­stra­ße. Hier rei­hen sich Mo­de­ge­schäf­te an Aus­stel­lungs­räu­me für Lu­xus­au­tos. Die Häu­ser, vor­mals Adels­pa­läs­te aus dem 19. Jahr­hun­dert, wir­ken wie frisch mit Farbe ge­tüncht. Doch das ist nur Fas­sa­de. Im Ein­gang zum Le­va­da-Zen­trum riecht es muf­fig, das Lin­ole­um ist ris­sig, über­all im Ge­bäu­de herrscht bau­li­cher Ver­fall. Fast schon ängst­lich öff­net Denis Vol­kov die ab­ge­schab­te Holz­tür. Da­hin­ter öff­net sich ein enger Gang, von dem win­zi­ge Büros ab­ge­hen, in denen Ti­sche ste­hen, die von Bü­chern und Ord­nern über­quel­len. Selbst der Flur ist mit Re­ga­len zu­ge­stellt.
Die schä­bi­gen Räum­lich­kei­ten haben einen Grund. Das In­sti­tut kämpft ums Über­le­ben. Seine Um­fra­ge­er­geb­nis­se ge­fal­len dem Re­gime nicht immer. Der Kreml hat das Le­va­da-Zen­trum als „aus­län­di­schen Agen­ten“ ein­ge­stuft, weil es auch Spen­den aus an­de­ren Län­dern er­hält. Re­gel­mä­ßig wer­den die Räum­lich­kei­ten von Si­cher­heits­kräf­ten durch­sucht, aus Angst vor recht­li­chen Pro­ble­men hat das In­sti­tut schon mehr­fach seine Ar­beit ein­ge­stellt. Doch Denis Vol­kov und Kol­le­gen geben nicht auf. Der rus­si­sche So­zio­lo­ge trägt Jeans und Woll­pul­li und möch­te, so macht er gleich klar, nicht über die Gän­ge­lung durch die Re­gie­rung reden, son­dern viel lie­ber über seine Ar­beit. „Die Mehr­heit der Rus­sen will wie­der re­spek­tiert wer­den“, sagt er. „Sie fühlt sich vom Wes­ten und vor allem von den USA er­nied­rigt.“ Das zeig­ten Um­fra­gen, die das In­sti­tut im ver­gan­ge­nen Jahr unter 1.600 re­prä­sen­ta­tiv aus­ge­wähl­ten Bür­gern durch­ge­führt hat.

Foto: Na­ta­lya Le­t­un­o­va via un­s­plash.com

Die Um­fra­ge hat Er­geb­nis­se zu­ta­ge ge­för­dert, die den Wes­ten be­un­ru­hi­gen müs­sen. Die meis­ten Be­frag­ten, sagt Vol­kov, hiel­ten einen mi­li­tä­ri­schen Kon­flikt mit den USA und ihren Ver­bün­de­ten für un­ver­meid­lich. Viele Rus­sen mein­ten, dass die Ame­ri­ka­ner ihnen den Wie­der­auf­stieg nach dem Chaos der 1990er Jahre nicht gönn­ten und ihr Land klein hal­ten woll­ten. Die An­ne­xi­on der Krim, so Vol­kov, sähen viele Bür­ger des­halb auch nicht als eine Ver­let­zung des Völ­ker­rechts, wie es der Wes­ten tut, son­dern als Zei­chen neuer rus­si­scher Stär­ke und Selbst­be­stim­mung. Nie zuvor, be­rich­tet Vol­kov, seien Pu­tins Be­liebt­heits­wer­te so hoch ge­we­sen wie nach der Be­set­zung der Krim.

Schwel­gen in Er­in­ne­rung an alte Stär­ke

Das hat durch­aus auch etwas mit Nost­al­gie zu tun. Wie in kaum einem an­de­ren Land schwel­gen die Rus­sen in der Er­in­ne­rung an alte Stär­ke. Die Zeit, als die So­wjet­uni­on eine Welt­macht war, ist stets in den Köp­fen prä­sent, auch der jun­gen Rus­sen, die sie gar nicht er­lebt haben. Die rus­si­schen Me­di­en be­rich­ten aus­führ­lich von den Er­run­gen­schaf­ten der eins­ti­gen Union der so­zia­lis­ti­schen So­wjet­re­pu­bli­ken (UdSSR). Sie habe, so heißt es immer wie­der mit gro­ßem Pa­thos, die deut­sche Wehr­macht be­zwun­gen, den ers­ten Mensch und den ers­ten Sa­tel­li­ten ins Welt­all ge­bracht und die erste In­ter­kon­ti­nen­tal­ra­ke­te ge­baut. Wla­di­mir Putin weiß den Hang sei­ner Lands­leu­te zur Nost­al­gie treff­lich zu nut­zen. Der Zer­fall der So­wjet­uni­on, sagte er vor sie­ben Jah­ren, sei die grö­ß­te geo­po­li­ti­sche Ka­ta­stro­phe des 21. Jahr­hun­derts ge­we­sen. Damit spricht er heute noch vie­len Men­schen aus dem Her­zen.
„Die Mehr­heit der Rus­sen fühlt sich vom Rest der Welt un­ver­stan­den und ver­ra­ten“, sagt der De­mo­skop Denis Vol­kov. Die Sank­tio­nen des Wes­tens nach 2014 sähe sie als un­ge­recht­fer­tig­te Be­stra­fung an. Seine leise Stim­me und der mo­no­to­ne Ton, in dem er spricht, ver­ra­ten nicht, wie Vol­kov selbst dazu steht. Trotz der Nost­al­gie wüss­ten die Rus­sen je­den­falls, dass sie wirt­schaft­lich nicht mit EU und USA mit­hal­ten könn­ten, sagt er. Des­halb ruh­ten ihre Hoff­nun­gen immer stär­ker auf der Armee. Sie solle ihnen auf dem in­ter­na­tio­na­len Par­kett auf an­de­re Weise wie­der Re­spekt ver­schaf­fen. „Die Armee ist die an­er­kann­tes­te In­sti­tu­ti­on im Land“, er­klärt Vol­kov.

Foto: Alina Grub­nyak via un­s­plash.com

Das Sys­tem Putin be­ruht auf ab­so­lu­ter Herr­schaft. Wer den Prä­si­den­ten und seine Po­li­tik öf­fent­lich kri­ti­siert, muss Angst um Job und Leben haben. Die Jour­na­lis­tin Anna Po­lit­kowska­ja etwa, die das mi­li­tä­ri­sche Vor­ge­hen Russ­lands im Kau­ka­sus kri­ti­sier­te, wurde 2004 er­mor­det. Alex­an­der Nem­zow, einer der Haupt­red­ner bei den Pro­tes­ten gegen die ver­fas­sungs­wid­ri­ge Wie­der­wahl von Wla­di­mir Putin als Prä­si­dent im Jahr 2012, wurde vor vier Jah­ren auf einer Brü­cke über die Mosk­wa er­schos­sen.

Eine au­to­ri­tä­re Herr­schaft, die kei­nen Wi­der­spruch dul­det, hat in Russ­land seit Jahr­hun­der­ten Tra­di­ti­on. Ob es die Zaren waren, die Kom­mu­nis­ten oder nun Putin – die rus­si­schen Macht­ha­ber setz­ten schon immer auf Re­pres­si­on. Doch die Härte gegen An­ders­den­ken­de sehen viele Rus­sen nicht ne­ga­tiv. Um­fra­gen zei­gen, dass weite Teile der Be­völ­ke­rung Wla­di­mir Putin bis heute dank­bar sind, dass er nach den chao­ti­schen Jah­ren unter Prä­si­dent Boris Jel­zin wie­der Ord­nung schaff­te und Russ­land auf die welt­po­li­ti­sche Bühne zu­rück­führ­te.

Foto: Eg­le­der

Alex­an­der Golts (Foto links) ist Mi­li­tär­jour­na­list und damit Ex­per­te in einem Be­reich, in dem sich die ak­tu­el­le Re­gie­rung gern be­son­ders stark prä­sen­tie­ren möch­te. Die Armee ist der neue Stolz der Rus­sen, auf ihren Er­fol­gen grün­det ein er­heb­li­cher Teil der Macht Pu­tins. Je­mand wie Golts ist da nicht gut ge­lit­ten. Golts ar­bei­tet seit den 1980er Jah­ren als Fach­jour­na­list und kann ein­schät­zen, was die rus­si­sche Armee wirk­lich kann. Er sagt es auch vor in­ter­na­tio­na­len Jour­na­lis­ten und schrieb es bis vor kur­zem auf der Nach­rich­ten­sei­te „Yez­hed­nev­nyi zhur­nal“ (Ta­ges­zei­tung). Vor an­dert­halb Jah­ren schal­te­ten die Be­hör­den dann von einem Tag auf den an­de­ren seine Web­site ab. Golts ver­lor Job und Ein­kom­men. Das Tref­fen mit ihm fin­det im ehe­ma­li­gen Re­dak­ti­ons­ge­bäu­de statt, in dem jetzt ein Ka­ba­rett mit klei­nem Café un­ter­ge­bracht ist. Golts wirkt ge­beugt und lä­chelt sel­ten. Die Ent­wick­lun­gen des zu­rück­lie­gen­den Jah­res haben ihn mit­ge­nom­men. Ein Wun­der, dass er das Ri­si­ko ein­geht, sich mit einer aus­län­di­schen Jour­na­lis­tin zu tref­fen.

 

„Rus­si­sche Streit­kräf­te denen der Nato in kei­ner Weise ge­wach­sen“

„Die rus­si­schen Streit­kräf­te sind den Trup­pen der Nato in di­rek­ter Kon­fron­ta­ti­on in kei­ner Weise ge­wach­sen“, sagt Golts. Bei der An­zahl der Sol­da­ten, bei Menge und Qua­li­tät von Flug­zeu­gen und Schif­fen könne Russ­land dem Wes­ten nicht das Was­ser rei­chen, ob­wohl die Streit­kräf­te in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren um­fas­send mo­der­ni­siert wur­den. Ei­ni­ge Waf­fen­sys­te­me seien in­zwi­schen wie­der Welt­spit­ze, etwa das Luft­ab­wehr­sys­tem S400, das Kampf­flug­zeug Su-35 und die neuen Hy­per­schall­glei­ter. Doch zu grö­ße­ren Er­obe­run­gen sei die Armee nicht fähig. Dafür habe sie nicht ge­nü­gend Per­so­nal und Ma­te­ri­al. Für schnel­le, kurze Ein­grei­f­ope­ra­tio­nen im rus­si­schen Um­feld je­doch sei sie per­fekt aus­ge­rüs­tet und trai­niert, sagt Golts.

Eine Ope­ra­ti­on die­ser Art führ­te Russ­land auf der Krim durch. Man­che ost­eu­ro­päi­sche Nato-Län­der be­fürch­te­ten dar­au­hin, als nächs­tes dran zu sein. „Wir brau­chen eine glaub­wür­di­ge Ab­schre­ckung, damit Russ­land nicht eines Tages ein an­de­res Land at­ta­ckiert, so wie es die Ukrai­ne an­ge­grif­fen hat“, sagte erst jüngst wie­der Lett­lands Prä­si­dent Rai­monds Vejo­nis. Lett­land hat eine ge­mein­sa­me Gren­ze mit Russ­land und eine rus­sisch­spra­chi­ge Min­der­heit. Es rei­chen heute ein paar Hun­dert ver­deckt ope­rie­ren­de Sol­da­ten, um in einem Land wie die­sem für Un­ru­he zu sor­gen. Die bal­ti­schen Staa­ten sor­gen sich des­halb auch we­ni­ger vor einer groß an­ge­leg­ten rus­si­schen In­va­si­on, son­dern viel­mehr vor den Fake News aus Mos­kaus Troll­fa­bri­ken, die wie Gift auf die Be­völ­ke­rung wir­ken. Die Ant­wort der Bal­ten be­steht daher nicht nur aus mi­li­tä­ri­scher Auf­rüs­tung und hoher Alarm­be­reit­schaft, son­dern auch aus Ein­rich­tun­gen, die den Kampf im In­ter­net füh­ren und Me­di­en nach er­fun­de­nen Nach­rich­ten durch­su­chen. Gleich­wohl be­steht die Ge­fahr, dass eine lokal be­grenz­te „ver­deck­te“ Ope­ra­ti­on Russ­lands eine Es­ka­la­ti­ons­spi­ra­le aus­löst.

Wenn eine Es­ka­la­ti­on zur nächs­ten führt…

Das sieht auch Mi­li­tär­ex­per­te Alex­an­der Golts so. „Den Ers­ten Welt­krieg woll­te auch kei­ner “, sagt er. Doch eine Es­ka­la­ti­on habe zur nächs­ten ge­führt und zu einer Do­mi­no­re­ak­ti­on, die in einen er­bar­mungs­lo­sen Ver­nich­tungs­kampf der Welt­mäch­te mün­de­te. Was da­mals das für alle zuvor un­vor­stell­ba­re Ge­met­zel in den Grä­ben Frank­reichs war, könn­te heute der Nu­kle­ar­krieg sein. Nie­mand will ihn, und doch könn­te er pas­sie­ren. Golts sieht dafür vor allem einen Grund. Der Kreml wisse, dass die rus­si­schen Streit­kräf­te der Nato kon­ven­tio­nell un­ter­le­gen seien, sagt er. Des­halb setze Putin ver­stärkt auf Nu­kle­ar­waf­fen. Gleich­zei­tig täten dies aber auch die Ame­ri­ka­ner, Chi­ne­sen und an­de­re Staa­ten.

Die neue nu­klea­re Rüs­tung ist auch des­halb pro­ble­ma­tisch, weil vor allem Rus­sen und Ame­ri­ka­ner kaum noch mit­ein­an­der spre­chen. Frü­her gab es dafür Gre­mi­en, die für Ver­trau­en ge­sorgt haben, zum Bei­spiel den Nato-Russ­land-Rat. Er wurde nach der An­ne­xi­on der Krim aus­ge­setzt. Seit zwei Jah­ren tagt er zwar wie­der. Doch auf der Ar­beits­ebe­ne gibt es kaum Ko­ope­ra­tio­nen, wie sie frü­her exis­tier­ten. So lern­ten bei­spiels­wei­se rus­si­sche Of­fi­zie­re an der Füh­rungs­aka­de­mie der Bun­des­wehr in Ham­burg oder es nah­men Nato-Of­fi­zie­re an der Mos­kau­er Si­cher­heits­kon­fe­renz teil. Das alles ge­hört der Ver­gan­gen­heit an. Selbst Be­su­che deut­scher Of­fi­zie­re auf rus­si­schen Schif­fen gibt es nicht mehr.

Stra­ßen­le­ben spie­gelt düs­te­re Stim­mung nicht wider

Kriegs­ge­fahr, nu­klea­re Rüs­tung, ge­fähr­li­ches Schwei­gen zwi­schen Ost und West – das alles klingt düs­ter und be­droh­lich. Doch die Stim­mung in den Stra­ßen von Mos­kau spie­gelt das nicht wie­der. Junge Men­schen in Shorts ge­nie­ßen die Sonne im Gorki-Park. Davor spielt eine Band rus­si­sche Lie­der. Pas­san­ten blei­ben ste­hen und sin­gen mit. Wie sehen sie den Wes­ten? Ein jun­ger Mann in schwar­zem Heavy-Metal-T-Shirt sagt, er habe nichts gegen Eu­ro­pa und die USA. Vor kur­zem sei er bei einem Kon­zert von AC/DC in Köln ge­we­sen. „Sehr gutes Bier habt ihr in Deutsch­land“, scherzt er. Eine Frau mit Kind an der Hand sagt, auch sie sähe den Wes­ten nicht als Feind. Sie denke bei Deutsch­land an schö­ne Autos und gute ärzt­li­che Ver­sor­gung, aber nicht an Feind­schaft.

Le­cke­res Bier, hoch­wer­ti­ge Autos, ein gutes Ge­sund­heits­sys­tem – das alles hat Russ­land nicht zu bie­ten. Im Ge­gen­teil: Seine Wirt­schaft ist ma­ro­de. Russ­lands öko­no­mi­sche Stär­ke ruht zum gro­ßen Teil auf der För­de­rung von Öl und Gas. Der Staat di­ri­giert immer noch einen Gro­ß­teil der Wirt­schaft, was sie im Ver­gleich zum Rest der Welt wenig in­no­va­tiv macht. Das rus­si­sche Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) ist nur halb so groß wie das deut­sche bei fast dop­pelt so gro­ßer Be­völ­ke­rung. In wei­ten Tei­len des Lan­des leben die Men­schen in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen, das Bil­dungs­ni­veau ist im welt­wei­ten Ver­gleich ge­ring. Glo­bal be­deu­ten­de Er­fin­dun­gen sind schon lange nicht mehr in Russ­land ge­macht wor­den. Selbst Ver­bün­de­te gibt es nur we­ni­ge und wenn, dann hei­ßen sie Sy­ri­en oder Us­be­ki­stan. Kaum ein Staat hat bis­her die Krim als Teil Russ­lands an­er­kannt. Doch den Kreml und einen Gro­ß­teil der Be­völ­ke­rung ficht das nicht an. Sie re­agie­ren ge­reizt auf jeden, der Russ­lands an­geb­li­che Be­deu­tung nicht wür­digt. Als der da­ma­li­ge US-Prä­si­dent Ba­rack Obama Russ­land als Re­gio­nal­macht be­zeich­ne­te, brach ein Sturm der Ent­rüs­tung los. Viele Rus­sen zogen mit Anti-Obama-Pla­ka­ten durch die Stra­ßen.

„Wes­ten hätte Russ­land in den 1990ern hel­fen müs­sen“

Für Nadia Ar­ba­to­va sind diese un­glei­chen Wahr­neh­mungs­wel­ten von Rus­sen auf der einen und Eu­ro­pä­ern und Ame­ri­ka­nern auf der an­de­ren Seite sehr pro­ble­ma­tisch. Der Wes­ten, sagt die kurz­haa­ri­ge Po­li­tik­wis­sen­schaft­le­rin, hätte den Rus­sen in den 1990er Jah­ren aus der Krise hel­fen müs­sen. Ar­ba­to­va ist Lei­te­rin der Ab­tei­lung „In­ter­na­tio­na­le Be­zie­hun­gen“ am In­sti­tut für Welt­wirt­schaft und in­ter­na­tio­na­le Be­zie­hun­gen. Von ihrem Büro kann sie ganz Mos­kau über­bli­cken. Die Stadt brei­tet sich bis weit ins Um­land aus, ent­ge­gen dem lan­des­wei­ten Trend herrscht hier Bau­boom. Noch am Ho­ri­zont ragen Kräne in die Höhe. Die USA, sagt Ar­ba­to­va, hät­ten den Rus­sen in den 1990er Jah­ren ein fai­res An­ge­bot zur Zu­sam­men­ar­beit ma­chen sol­len. Da­mals seien die Rus­sen zum Bei­spiel zu einem ge­mein­sa­men Mi­li­tär­bünd­nis be­reit ge­we­sen. Auch der Kreml habe Chan­cen ver­tan. Er hätte die Be­zie­hun­gen zu den ehe­ma­li­gen Staa­ten des War­schau­er Pakts bes­ser re­geln müs­sen, statt sie in ein Ab­hän­gig­keits­ver­hält­nis – bil­li­ges Gas gegen Loya­li­tät – zwin­gen zu wol­len.

Foto: Mi­cha­el Pa­ru­la­va via un­s­plash.com

Tat­säch­lich waren es Polen, Bal­ten und an­de­re ehe­ma­li­ge Mit­glie­der des War­schau­er Pakts selbst, die nach dem Zu­sam­men­bruch der So­wjet­uni­on in Nato und EU streb­ten. In Russ­land aber herrscht bis heute die An­sicht vor, die USA hät­ten diese Län­der ent­ge­gen aller Ab­spra­chen mit dem Kreml der Nato ein­ver­leibt. Da hilft auch der Hin­weis nicht, dass der Wes­ten schon vor der Auf­nah­me der ers­ten ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten mit der Nato-Russ­land-Grund­ak­te weit­rei­chen­de Si­cher­heits­ga­ran­ti­en gab, um rus­si­sche Vor­be­hal­te gegen eine Er­wei­te­rung der
Al­li­anz nach Osten ab­zu­schwä­chen. So wurde etwa eine feste Zahl der an der Gren­ze zu Russ­land sta­tio­nier­ten Sol­da­ten oder der Um­fang von Ma­nö­vern fest­ge­legt, an die sich die Nato auch stets hielt. Doch die Be­zie­hun­gen kühl­ten immer wei­ter ab. In sei­ner Wut­re­de auf der Münch­ner Si­cher­heits­kon­fe­renz 2007 warf Wla­di­mir Putin dem Wes­ten gren­zen­lo­ses Welt­macht­stre­ben vor. Der Wes­ten wie­der­um be­zich­tig­te ihn des Ver­sto­ßes gegen das Völ­ker­recht, als Putin ein Jahr spä­ter in Ge­or­gi­en ein­mar­schier­te.

Ag­gres­si­on be­grün­det Ag­gres­si­on

So geht das seit Jah­ren. Jeder be­grün­det die ei­ge­ne Ag­gres­si­on mit der Ag­gres­si­on des an­de­ren. Der eine, Russ­land, baut neue Nu­kle­ar­ra­ke­ten, weil der an­de­re, die Ame­ri­ka­ner, sein Atom­waf­fen­ar­se­nal mo­der­ni­siert. Der eine, die Nato, übt so groß wie nie zuvor seit 1990, weil der an­de­re, die Rus­sen, ge­mein­sam mit asia­ti­schen Part­nern, ein Ma­nö­ver mit an­geb­lich 300.000 Sol­da­ten ab­ge­hal­ten hat. Wie kann diese Spi­ra­le ge­stoppt wer­den?

Nadia Ar­ba­to­va sieht den Wes­ten in der Pflicht. Er sei der stär­ke­re Ak­teur und müsse den An­fang ma­chen. Sie schlägt vor, die Sank­tio­nen zu be­en­den und wirt­schaft­lich wie­der enger zu­sam­men­zu­ar­bei­ten. Russ­land, sagt sie, sei immer dann stark ge­we­sen, wenn es gute Be­zie­hun­gen zum Wes­ten hatte. Und mit einem star­ken und selbst­be­wuss­ten Russ­land, meint Ar­ba­to­va, sei eine Ver­stän­di­gung viel eher mög­lich. Um­fra­gen des Le­va­da-Zen­trums zei­gen, dass das auch eine Mehr­zahl der Rus­sen so sieht. Sie wol­len, dass der Wes­ten auf sie zu­geht. Zu ei­ge­nen Kom­pro­mis­sen sind sie al­ler­dings nicht be­reit. Die Krim? Bleibt rus­sisch.

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