Stilvoll gekleidete, junge, schöne Menschen hasten durch die Straßen, in der Hand einen „Coffee to go“. Autos hupen, gesteuert von entnervten Fahrern, die für ein paar Kilometer Stunden brauchen. Die Luft vibriert von der Musik überdrehter Soundanlagen in teuren SUVs. Es stinkt nach Abgasen. Ein Morgen in Moskau, der größten Stadt Europas. Pralles Leben, laut und hart.
Und doch ist da noch etwas anderes. Moskau ist die Stadt, die Furcht auslöst. Furcht vor einem Krieg. Hier sitzt die Regierung von Wladimir Putin, die mit ihrer unberechenbaren und aggressiven Politik vor allem in Osteuropa Ängste vor einem Konflikt auslöst. Mit der Annexion der Krim vor fünf Jahren hat sich zum erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein europäischer Staat den Teil eines anderen gewaltsam einverleibt. Bis heute fragen sich vor allem die osteuropäischen Länder, wer der nächste sein wird. „Wir bereiten uns auf einen Überfall vor“, sagte etwa der polnische Präsident Andrej Duda kurz vor Beginn des russischen Manövers „Zapad“ im Jahr 2017.
Die Nato und Russland stehen sich heute wieder konfrontativ gegenüber. Als Reaktion auf die Annexion der Krim ist die westliche Militärallianz zur Bündnis- und Landesverteidigung zurückgekehrt. Ihre Mitglieder haben die Ausgaben für die Streitkräfte erhöht und Truppen an der Ostgrenze des Nato-Gebiets stationiert. Die Allianz will dem Kreml auf diese Weise klarmachen, dass er es im Fall eines Angriffs auf ein Mitglied mit allen Bündnispartnern zu tun hätte. Es ist bereits von einem „neuen Kalten Krieg“ die Rede. Was aber wollen die Russen? Was bezwecken sie mit ihrer aggressiven Politik? Die Antworten dürften sich vor allem in Moskau finden lassen.
Die Sitze im „Airport-Liner“ riechen wie neu. Die Bahnstrecke vom Moskauer Flughafen Domodedovo in die Innenstadt wurde extra für die Fußball-Weltmeisterschaft gebaut. In der Metro gibt es kostenloses Internet, so gut wie alle Fahrgäste sind hier, 70 Meter unter der Erdoberfläche, mit ihren Smartphones beschäftigt. Oben drüber wird gebaut: Von fast jedem Punkt der Stadt ist das neue Bankenviertel „Moskau City“ zu sehen. Silbrig schimmern die Hochhäuser aus Glas und Beton, zwischen denen Kräne Baumaterialien in den Himmel hieven.
Auf dem Gelände der Lomonossow-Universität wacht das zentrale Universitätsgebäude aus der Stalinzeit wie ein erhobener Zeigefinger über den Campus. Hier haben Nobelpreisträger wie der Physiker Andrei Dmitrijewitsch Sacharow gelehrt und geforscht. An diesem Tag hasten zentralasiatisch aussehende Studentinnen mit Kopftuch zu ihren Vorlesungen, während sich junge Frauen in Miniröcken mit Kommilitonen unterhalten, die schwarze Heavy-Metal- Shirts tragen. Auf dem Campus befindet sich auch der Arbeitsplatz von Evgenij Bushinskij (Foto links). Der Ex-General hat vor seiner Pensionierung zehn Jahre lang die Abteilung für internationale Verträge im Moskauer Verteidigungsministerium geleitet. Kaum jemand weiß die Beziehungen Russlands zum Westen besser zu analysieren als er. Bushinskij, grau meliertes Sakko, akkurat gestutzte Haare, lehrt heute „Strategische Studien“an der Lomonossow. „Die Beziehungen zum Westen sind so schlecht wie nie zuvor“, sagt er. Selbst im Kalten Krieg seien sie besser gewesen. Damals hätte es immerhin noch klare Regeln, Abrüstungsverträge und offene Gesprächskanäle gegeben. Alles passé, so Bushinskij.
„Amerikaner haben Russlands Interessen mit Füßen getreten“
Bushinskij lässt keinen Zweifel daran, wen er für die verfahrene Situation verantwortlich macht: die USA. Seit den 1990er Jahren hätten die Amerikaner die Interessen der Russen mit Füßen getreten, bei den „Interventionen“ auf dem Balkan, im Irak, in Libyen. Tatsächlich hat Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion an Macht und Einfluss auf der Weltbühne eingebüßt. Mit der Wende in der DDR 1989 und dem Fall des Eisernen Vorhangs zerfiel die Sowjet-Großmacht. Die Folge waren Freiheit, aber auch Anarchie und Chaos in Russland. Derweil musste die Nato auf dem Balkan Krisenmanagement betreiben. Zugleich nahm sie die nach Sicherheit suchenden Länder des früheren Ostblocks auf.
Für Bushinskij ist die Nato-Osterweiterung eine Provokation. Die USA hätten die schwierige russische Lage dreist ausgenutzt und ihren Einflussbereich auf Polen, Rumänen und die baltischen Länder ausgeweitet, sagt er. Das russische „Eingreifen“ in der Ukraine vor fünf Jahren sieht er deshalb als längst fällige Gegenwehr Russlands an. „Den Amerikanern musste aufgezeigt werden, dass jetzt Schluss ist“, erklärt Bushinskij mit Genugtuung in der Stimme. Russland habe nicht tatenlos zusehen können, wie die USA die Maidan-Demonstranten finanziert und einen Putsch in der Ukraine angezettelt hätten. „Wir mussten die russischsprachige Bevölkerung schützen.“ Es sei legitim gewesen, die Krim zu annektieren, sagt der Ex-General, und die Bevölkerung im Donbas vor „der faschistischen ukrainischen Regierung“ zu schützen.
Mit seiner Wortwahl und Interpretation der Ereignisse liegt Bushinskij ganz auf Kreml-Linie. Die Lesart des Westens aber, was in der Ukraine passiert ist, sieht anders aus. Danach sind bei den Maidan-Demonstrationen im Winter 2013 vor allem die Bürger auf die Straße gegangen, die eine demokratischere Ukraine und eine Anbindung an EU und Nato wollten. Russland dagegen habe sich mit der Krim den Teil eines souveränen Staates einverleibt. Das ist ein Völkerrechtsbruch. Außerdem unterstützt die russische Regierung die Separatisten in der Ostukraine – hauptsächlich mafiöse Kriminelle, die einen Krieg begonnen haben. Solche Einwände lässt Bushinskij nicht gelten. Er schüttelt darüber unwirsch den Kopf, muss dann aber zu seiner Vorlesung. Die Krim, sagt er zum Abschied, werde Russland nie wieder hergeben.
Bushinskij war Militär. Er hat sein Leben lang dem Staat gedient und verdankt der jetzigen Regierung seine anerkannte Stellung. Es war der derzeitige Präsident, der die russische Armee durch seine Politik der Aufrüstung wieder stark gemacht hat. Doch wie denkt die russische Bevölkerung über den Westen? Sieht sie die aggressive Politik des Kreml ähnlich unkritisch wie Bushinskij? Denis Volkov ist einer, der das sehr gut weiß. Er arbeitet für das Levada-Zentrum, das regelmäßig repräsentative Umfragen in ganz Russland durchführt. Es gilt als einziges unabhängiges Umfrageinstitut im Land. Renommierte Medien wie die „Washington Post“ und die „New York Times“ zitieren seine Umfrageergebnisse.
„Die Mehrheit der Russen will respektiert werden“
Das Levada-Zentrum befindet sich nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt in einer beliebten Einkaufsstraße. Hier reihen sich Modegeschäfte an Ausstellungsräume für Luxusautos. Die Häuser, vormals Adelspaläste aus dem 19. Jahrhundert, wirken wie frisch mit Farbe getüncht. Doch das ist nur Fassade. Im Eingang zum Levada-Zentrum riecht es muffig, das Linoleum ist rissig, überall im Gebäude herrscht baulicher Verfall. Fast schon ängstlich öffnet Denis Volkov die abgeschabte Holztür. Dahinter öffnet sich ein enger Gang, von dem winzige Büros abgehen, in denen Tische stehen, die von Büchern und Ordnern überquellen. Selbst der Flur ist mit Regalen zugestellt.
Die schäbigen Räumlichkeiten haben einen Grund. Das Institut kämpft ums Überleben. Seine Umfrageergebnisse gefallen dem Regime nicht immer. Der Kreml hat das Levada-Zentrum als „ausländischen Agenten“ eingestuft, weil es auch Spenden aus anderen Ländern erhält. Regelmäßig werden die Räumlichkeiten von Sicherheitskräften durchsucht, aus Angst vor rechtlichen Problemen hat das Institut schon mehrfach seine Arbeit eingestellt. Doch Denis Volkov und Kollegen geben nicht auf. Der russische Soziologe trägt Jeans und Wollpulli und möchte, so macht er gleich klar, nicht über die Gängelung durch die Regierung reden, sondern viel lieber über seine Arbeit. „Die Mehrheit der Russen will wieder respektiert werden“, sagt er. „Sie fühlt sich vom Westen und vor allem von den USA erniedrigt.“ Das zeigten Umfragen, die das Institut im vergangenen Jahr unter 1.600 repräsentativ ausgewählten Bürgern durchgeführt hat.
Die Umfrage hat Ergebnisse zutage gefördert, die den Westen beunruhigen müssen. Die meisten Befragten, sagt Volkov, hielten einen militärischen Konflikt mit den USA und ihren Verbündeten für unvermeidlich. Viele Russen meinten, dass die Amerikaner ihnen den Wiederaufstieg nach dem Chaos der 1990er Jahre nicht gönnten und ihr Land klein halten wollten. Die Annexion der Krim, so Volkov, sähen viele Bürger deshalb auch nicht als eine Verletzung des Völkerrechts, wie es der Westen tut, sondern als Zeichen neuer russischer Stärke und Selbstbestimmung. Nie zuvor, berichtet Volkov, seien Putins Beliebtheitswerte so hoch gewesen wie nach der Besetzung der Krim.
Schwelgen in Erinnerung an alte Stärke
Das hat durchaus auch etwas mit Nostalgie zu tun. Wie in kaum einem anderen Land schwelgen die Russen in der Erinnerung an alte Stärke. Die Zeit, als die Sowjetunion eine Weltmacht war, ist stets in den Köpfen präsent, auch der jungen Russen, die sie gar nicht erlebt haben. Die russischen Medien berichten ausführlich von den Errungenschaften der einstigen Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). Sie habe, so heißt es immer wieder mit großem Pathos, die deutsche Wehrmacht bezwungen, den ersten Mensch und den ersten Satelliten ins Weltall gebracht und die erste Interkontinentalrakete gebaut. Wladimir Putin weiß den Hang seiner Landsleute zur Nostalgie trefflich zu nutzen. Der Zerfall der Sowjetunion, sagte er vor sieben Jahren, sei die größte geopolitische Katastrophe des 21. Jahrhunderts gewesen. Damit spricht er heute noch vielen Menschen aus dem Herzen.
„Die Mehrheit der Russen fühlt sich vom Rest der Welt unverstanden und verraten“, sagt der Demoskop Denis Volkov. Die Sanktionen des Westens nach 2014 sähe sie als ungerechtfertigte Bestrafung an. Seine leise Stimme und der monotone Ton, in dem er spricht, verraten nicht, wie Volkov selbst dazu steht. Trotz der Nostalgie wüssten die Russen jedenfalls, dass sie wirtschaftlich nicht mit EU und USA mithalten könnten, sagt er. Deshalb ruhten ihre Hoffnungen immer stärker auf der Armee. Sie solle ihnen auf dem internationalen Parkett auf andere Weise wieder Respekt verschaffen. „Die Armee ist die anerkannteste Institution im Land“, erklärt Volkov.
Das System Putin beruht auf absoluter Herrschaft. Wer den Präsidenten und seine Politik öffentlich kritisiert, muss Angst um Job und Leben haben. Die Journalistin Anna Politkowskaja etwa, die das militärische Vorgehen Russlands im Kaukasus kritisierte, wurde 2004 ermordet. Alexander Nemzow, einer der Hauptredner bei den Protesten gegen die verfassungswidrige Wiederwahl von Wladimir Putin als Präsident im Jahr 2012, wurde vor vier Jahren auf einer Brücke über die Moskwa erschossen.
Eine autoritäre Herrschaft, die keinen Widerspruch duldet, hat in Russland seit Jahrhunderten Tradition. Ob es die Zaren waren, die Kommunisten oder nun Putin – die russischen Machthaber setzten schon immer auf Repression. Doch die Härte gegen Andersdenkende sehen viele Russen nicht negativ. Umfragen zeigen, dass weite Teile der Bevölkerung Wladimir Putin bis heute dankbar sind, dass er nach den chaotischen Jahren unter Präsident Boris Jelzin wieder Ordnung schaffte und Russland auf die weltpolitische Bühne zurückführte.
Alexander Golts (Foto links) ist Militärjournalist und damit Experte in einem Bereich, in dem sich die aktuelle Regierung gern besonders stark präsentieren möchte. Die Armee ist der neue Stolz der Russen, auf ihren Erfolgen gründet ein erheblicher Teil der Macht Putins. Jemand wie Golts ist da nicht gut gelitten. Golts arbeitet seit den 1980er Jahren als Fachjournalist und kann einschätzen, was die russische Armee wirklich kann. Er sagt es auch vor internationalen Journalisten und schrieb es bis vor kurzem auf der Nachrichtenseite „Yezhednevnyi zhurnal“ (Tageszeitung). Vor anderthalb Jahren schalteten die Behörden dann von einem Tag auf den anderen seine Website ab. Golts verlor Job und Einkommen. Das Treffen mit ihm findet im ehemaligen Redaktionsgebäude statt, in dem jetzt ein Kabarett mit kleinem Café untergebracht ist. Golts wirkt gebeugt und lächelt selten. Die Entwicklungen des zurückliegenden Jahres haben ihn mitgenommen. Ein Wunder, dass er das Risiko eingeht, sich mit einer ausländischen Journalistin zu treffen.
„Russische Streitkräfte denen der Nato in keiner Weise gewachsen“
„Die russischen Streitkräfte sind den Truppen der Nato in direkter Konfrontation in keiner Weise gewachsen“, sagt Golts. Bei der Anzahl der Soldaten, bei Menge und Qualität von Flugzeugen und Schiffen könne Russland dem Westen nicht das Wasser reichen, obwohl die Streitkräfte in den vergangenen zehn Jahren umfassend modernisiert wurden. Einige Waffensysteme seien inzwischen wieder Weltspitze, etwa das Luftabwehrsystem S400, das Kampfflugzeug Su-35 und die neuen Hyperschallgleiter. Doch zu größeren Eroberungen sei die Armee nicht fähig. Dafür habe sie nicht genügend Personal und Material. Für schnelle, kurze Eingreifoperationen im russischen Umfeld jedoch sei sie perfekt ausgerüstet und trainiert, sagt Golts.
Eine Operation dieser Art führte Russland auf der Krim durch. Manche osteuropäische Nato-Länder befürchteten darauhin, als nächstes dran zu sein. „Wir brauchen eine glaubwürdige Abschreckung, damit Russland nicht eines Tages ein anderes Land attackiert, so wie es die Ukraine angegriffen hat“, sagte erst jüngst wieder Lettlands Präsident Raimonds Vejonis. Lettland hat eine gemeinsame Grenze mit Russland und eine russischsprachige Minderheit. Es reichen heute ein paar Hundert verdeckt operierende Soldaten, um in einem Land wie diesem für Unruhe zu sorgen. Die baltischen Staaten sorgen sich deshalb auch weniger vor einer groß angelegten russischen Invasion, sondern vielmehr vor den Fake News aus Moskaus Trollfabriken, die wie Gift auf die Bevölkerung wirken. Die Antwort der Balten besteht daher nicht nur aus militärischer Aufrüstung und hoher Alarmbereitschaft, sondern auch aus Einrichtungen, die den Kampf im Internet führen und Medien nach erfundenen Nachrichten durchsuchen. Gleichwohl besteht die Gefahr, dass eine lokal begrenzte „verdeckte“ Operation Russlands eine Eskalationsspirale auslöst.
Wenn eine Eskalation zur nächsten führt…
Das sieht auch Militärexperte Alexander Golts so. „Den Ersten Weltkrieg wollte auch keiner “, sagt er. Doch eine Eskalation habe zur nächsten geführt und zu einer Dominoreaktion, die in einen erbarmungslosen Vernichtungskampf der Weltmächte mündete. Was damals das für alle zuvor unvorstellbare Gemetzel in den Gräben Frankreichs war, könnte heute der Nuklearkrieg sein. Niemand will ihn, und doch könnte er passieren. Golts sieht dafür vor allem einen Grund. Der Kreml wisse, dass die russischen Streitkräfte der Nato konventionell unterlegen seien, sagt er. Deshalb setze Putin verstärkt auf Nuklearwaffen. Gleichzeitig täten dies aber auch die Amerikaner, Chinesen und andere Staaten.
Die neue nukleare Rüstung ist auch deshalb problematisch, weil vor allem Russen und Amerikaner kaum noch miteinander sprechen. Früher gab es dafür Gremien, die für Vertrauen gesorgt haben, zum Beispiel den Nato-Russland-Rat. Er wurde nach der Annexion der Krim ausgesetzt. Seit zwei Jahren tagt er zwar wieder. Doch auf der Arbeitsebene gibt es kaum Kooperationen, wie sie früher existierten. So lernten beispielsweise russische Offiziere an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg oder es nahmen Nato-Offiziere an der Moskauer Sicherheitskonferenz teil. Das alles gehört der Vergangenheit an. Selbst Besuche deutscher Offiziere auf russischen Schiffen gibt es nicht mehr.
Straßenleben spiegelt düstere Stimmung nicht wider
Kriegsgefahr, nukleare Rüstung, gefährliches Schweigen zwischen Ost und West – das alles klingt düster und bedrohlich. Doch die Stimmung in den Straßen von Moskau spiegelt das nicht wieder. Junge Menschen in Shorts genießen die Sonne im Gorki-Park. Davor spielt eine Band russische Lieder. Passanten bleiben stehen und singen mit. Wie sehen sie den Westen? Ein junger Mann in schwarzem Heavy-Metal-T-Shirt sagt, er habe nichts gegen Europa und die USA. Vor kurzem sei er bei einem Konzert von AC/DC in Köln gewesen. „Sehr gutes Bier habt ihr in Deutschland“, scherzt er. Eine Frau mit Kind an der Hand sagt, auch sie sähe den Westen nicht als Feind. Sie denke bei Deutschland an schöne Autos und gute ärztliche Versorgung, aber nicht an Feindschaft.
Leckeres Bier, hochwertige Autos, ein gutes Gesundheitssystem – das alles hat Russland nicht zu bieten. Im Gegenteil: Seine Wirtschaft ist marode. Russlands ökonomische Stärke ruht zum großen Teil auf der Förderung von Öl und Gas. Der Staat dirigiert immer noch einen Großteil der Wirtschaft, was sie im Vergleich zum Rest der Welt wenig innovativ macht. Das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist nur halb so groß wie das deutsche bei fast doppelt so großer Bevölkerung. In weiten Teilen des Landes leben die Menschen in ärmlichen Verhältnissen, das Bildungsniveau ist im weltweiten Vergleich gering. Global bedeutende Erfindungen sind schon lange nicht mehr in Russland gemacht worden. Selbst Verbündete gibt es nur wenige und wenn, dann heißen sie Syrien oder Usbekistan. Kaum ein Staat hat bisher die Krim als Teil Russlands anerkannt. Doch den Kreml und einen Großteil der Bevölkerung ficht das nicht an. Sie reagieren gereizt auf jeden, der Russlands angebliche Bedeutung nicht würdigt. Als der damalige US-Präsident Barack Obama Russland als Regionalmacht bezeichnete, brach ein Sturm der Entrüstung los. Viele Russen zogen mit Anti-Obama-Plakaten durch die Straßen.
„Westen hätte Russland in den 1990ern helfen müssen“
Für Nadia Arbatova sind diese ungleichen Wahrnehmungswelten von Russen auf der einen und Europäern und Amerikanern auf der anderen Seite sehr problematisch. Der Westen, sagt die kurzhaarige Politikwissenschaftlerin, hätte den Russen in den 1990er Jahren aus der Krise helfen müssen. Arbatova ist Leiterin der Abteilung „Internationale Beziehungen“ am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen. Von ihrem Büro kann sie ganz Moskau überblicken. Die Stadt breitet sich bis weit ins Umland aus, entgegen dem landesweiten Trend herrscht hier Bauboom. Noch am Horizont ragen Kräne in die Höhe. Die USA, sagt Arbatova, hätten den Russen in den 1990er Jahren ein faires Angebot zur Zusammenarbeit machen sollen. Damals seien die Russen zum Beispiel zu einem gemeinsamen Militärbündnis bereit gewesen. Auch der Kreml habe Chancen vertan. Er hätte die Beziehungen zu den ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts besser regeln müssen, statt sie in ein Abhängigkeitsverhältnis – billiges Gas gegen Loyalität – zwingen zu wollen.
Tatsächlich waren es Polen, Balten und andere ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts selbst, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Nato und EU strebten. In Russland aber herrscht bis heute die Ansicht vor, die USA hätten diese Länder entgegen aller Absprachen mit dem Kreml der Nato einverleibt. Da hilft auch der Hinweis nicht, dass der Westen schon vor der Aufnahme der ersten osteuropäischen Staaten mit der Nato-Russland-Grundakte weitreichende Sicherheitsgarantien gab, um russische Vorbehalte gegen eine Erweiterung der
Allianz nach Osten abzuschwächen. So wurde etwa eine feste Zahl der an der Grenze zu Russland stationierten Soldaten oder der Umfang von Manövern festgelegt, an die sich die Nato auch stets hielt. Doch die Beziehungen kühlten immer weiter ab. In seiner Wutrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 warf Wladimir Putin dem Westen grenzenloses Weltmachtstreben vor. Der Westen wiederum bezichtigte ihn des Verstoßes gegen das Völkerrecht, als Putin ein Jahr später in Georgien einmarschierte.
Aggression begründet Aggression
So geht das seit Jahren. Jeder begründet die eigene Aggression mit der Aggression des anderen. Der eine, Russland, baut neue Nuklearraketen, weil der andere, die Amerikaner, sein Atomwaffenarsenal modernisiert. Der eine, die Nato, übt so groß wie nie zuvor seit 1990, weil der andere, die Russen, gemeinsam mit asiatischen Partnern, ein Manöver mit angeblich 300.000 Soldaten abgehalten hat. Wie kann diese Spirale gestoppt werden?
Nadia Arbatova sieht den Westen in der Pflicht. Er sei der stärkere Akteur und müsse den Anfang machen. Sie schlägt vor, die Sanktionen zu beenden und wirtschaftlich wieder enger zusammenzuarbeiten. Russland, sagt sie, sei immer dann stark gewesen, wenn es gute Beziehungen zum Westen hatte. Und mit einem starken und selbstbewussten Russland, meint Arbatova, sei eine Verständigung viel eher möglich. Umfragen des Levada-Zentrums zeigen, dass das auch eine Mehrzahl der Russen so sieht. Sie wollen, dass der Westen auf sie zugeht. Zu eigenen Kompromissen sind sie allerdings nicht bereit. Die Krim? Bleibt russisch.