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Russlands Atomoptionen im Krieg gegen die Ukraine

Nach der Annexion von vier ukrainischen Provinzen droht die russische Führung unverhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen. Doch wie glaubwürdig sind diese Drohungen? Und auf welche Szenarien bereitet sich der Westen vor?

Im Frühjahr dieses Jahres führte Russland bei einer Parade in Moskau einmal mehr sein Atomwaffenarsenal vor.

(Foto: Imago)

russlandsicherheitspolitikUkraine

Ende September twitterte der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew, Russland „hat das Recht, Atomwaffen einzusetzen, wenn es nötig ist“. Medwedew ist heute stellvertretender Vorsitzender des nationalen russischen Sicherheitsrats und in diesen Dingen gewissermaßen der Lautsprecher von Präsident Wladimir Putin. Der hatte zuvor lediglich angedeutet, dass er die nukleare Karte spielen könnte, wenn es in der Ukraine nicht so läuft, wie es sich der Kremlherrscher vorstellt. Nach den jüngsten ukrainischen Offensiven mit ihren Geländegewinnen und nach dem Anschlag auf die Brücke von Kertsch läuft die „militärische Spezialoperation“ Russlands alles andere als nach Plan. Wie sehr Putin rund um seinen 70. Geburtstag in diesem Monat mit dem Rücken zur Wand steht, zeigt die Teilmobilisierung in Russland, die genau genommen eine allgemeine Mobilmachung ist – nur mit dem Unterschied, dass die zu Mobilisierenden mehr oder weniger willkürlich ausgewählt werden – beispielsweise sind es weniger ethnische Russen als Angehörige von Minderheiten in Russlands fernen Osten.

Die nukleare Option

Russland ist wirtschaftlich allenfalls eine Mittelmacht; abhängig von High-Tech-Bauteilen aus dem Westen und aus China. Wie ein Entwicklungsland ist es davon abhängig, seine Bodenschätze – vor allem Öl und Gas – auf dem Weltmarkt zu verkaufen und hochwertige Güter einzukaufen. Putin hat schon jetzt dieses Geschäftsmodell zumindest im Hinblick auf den Westen zerstört – und ein neues ist nicht erkennbar. „Obervolta mit Atomraketen“ hat der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt die damalige Sowjetunion genannt – ein Riese auf wirtschaftlichen Beinen so dünn wie Streichhölzer, aber mit gigantischen Bizeps. Geändert hat sich daran nichts. Diese Bizeps sind die russischen Atomwaffen. Putin verfügt über das größte nukleare Waffenarsenal der Welt. Im Frühjahr 2022 soll Russland nach westlichen Schätzungen über 5.977 Atomwaffen in den Arsenalen gelagert haben, von denen 4.477 einsatzbereit waren.

2014 hat Russland eine Militärdoktrin verabschiedet, in der es sich das Recht vorbehält, Atomwaffen gegen Angriffe mit nuklearen oder anderen Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Ein konventioneller Angriff auf Russland, der „die Existenz des Staates in Gefahr bringt“, könnte auch den Einsatz von Atomwaffen auslösen. 2018 bestätigte Putin diese Position, in dem er erklärte „unsere Atomwaffendoktrin beinhaltet keinen präventiven Erstschlag“. Stattdessen erklärte er, dass das Konzept auf der Grundlage eines Vergeltungsschlags basiert. Das bedeutet, der Kreml wäre nur dann bereit, Atomwaffen einzusetzen, wenn ein Aggressor russisches Territorium angreift. Mit der Annexion von vier ukrainischen Provinzen hat er nun aber das Kampfgebiet in der Ukraine zu russischem Territorium erklärt – was den Einsatz von Nuklearwaffen in diesem Krieg wahrscheinlicher macht.

Eine Frage der Eskalationsstufe

Die kleinste strategische Bombe im russsischen Atomarsenal hat eine Sprengkraft von zehn Kilotonnen, das entspricht in etwa der Hiroshima-Bombe von 1945. Nach Berechnungen der Atombombensimulation „Nukemap“ würden bei der Detonation einer solchen Bombe beispielsweise über der Großstadt Charkiw mit ihren 1,4 Millionen Einwohnern rund 48.000 Menschen sofort getötet und 158.000 verletzt. Die Stadt wäre weitgehend dem Erdboden gleichgemacht.

Dass Putin einen Erstschlag gegen eine ukrainische Großstadt führt, halten Strategen indes für unwahrscheinlich, weil er damit gleich mehrere Stufen der Eskalationsleiter überspringen und als Reaktion des Westens einen nuklearen Flächenbrand auslösen könnte, der ihn und sein Regime hinwegfegen würde. Wahrscheinlicher ist eher der Einsatz einer kleinen taktischen Atombombe entweder auf dem Gefechtsfeld gegen ukrainische Truppen oder fernab des Kriegsgeschehens in unbewohntem Gebiet in der Westukraine oder über dem Schwarzen Meer. Das hätte auch den Vorteil, dass die eigenen russischen Truppen oder die soeben annektierten Gebiete der Ukraine nicht unter radioaktivem Fallout leiden würden. Taktische Atomwaffen haben eine Reichweite von etwa hundert Kilometern und je nach Größe durchaus eine geringere Sprengwirkung als konventionelle Waffen. Ihr Wert liegt in ihrer Symbolik: Einmal gezündet, katapultieren sie das gesamte Kriegsgeschehen auf eine höhere Eskalationsstufe.

Setzte Putin eine solche taktische Atombombe ein, würde ihn das mit Sicherheit international vollends isolieren. Die Volksrepublik China, die schon jetzt eher distanziert Putins Krieg verfolgt, würde sich vermutlich noch weiter von ihm abwenden. Für den Westen wäre ein Atomwaffeneinsatz Putins Anlass, die Ukraine massiv mit Waffen zu unterstützen, insbesondere auch mit Kampfpanzern westlicher Produktion. Und die ohnehin schon umfangreichen Sanktionen würden nochmals verschärft.

Reaktionen des Westens

Schon die Vorbereitung eines solchen Waffeneinsatzes würde dem Krieg in der Ukraine eine neue Dimension geben. Experten gehen davon aus, dass Putins Armee vier Tage bräuchte, um eine taktische Atombombe gefechtsklar zu machen und ins Einsatzgebiet zu verbringen – die NATO würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon erfahren, vielleicht soll sie es sogar erfahren. Die Allianz hätte Zeit, sich eine Antwort zu überlegen. In der Tat tut sie das jetzt schon.

In Brüssel ist man sich klar darüber, dass eine nukleare Antwort ein enorm hohes Risiko für einen atomaren Flächenbrand in Europa birgt. Deshalb sehen die NATO-Planungen für den Fall des Einsatzes einer taktischen Atombombe durch Russland massive Cyberattacken gegen Russland vor, um dessen Wirtschaft und das öffentliche Leben praktisch lahmzulegen, und konventionelle Luftangriffe auf russische Stellungen in den besetzten ukrainischen Gebieten. Die bestehenden diplomatischen Kanäle haben die USA in den vergangenen Wochen genutzt, um Russland unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass der Einsatz von Atomwaffen für Washington inakzeptabel wäre und schwere Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Putin hat bereits zu Beginn seines Eroberungskriegs mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, um den Westen von einer Unterstützung der Ukraine abzuhalten. Er hat sich verrechnet. Der Westen unterstützt das überfallene Land trotz Putins Drohungen mit Waffen und mit der Ausbildung von Soldaten. Putin musste das zur Kenntnis nehmen, die westliche Unterstützung der Ukraine zusammen mit der Tapferkeit und der Raffinesse der ukrainischen Soldaten sind die Gründe für das Desaster der russischen Invasionsarmee. Die Erfahrung mit einem standhaft bleibenden Westen könnte ihn davon abhalten, jetzt in einer für ihn immer schwieriger werdenden Lage, Nuklearwaffen einzusetzen, da er davon ausgehen muss, dass die Amerikaner nicht nur bluffen, sondern die angekündigten Gegenmaßnahmen auch wirklich umsetzen. Aber sicher sein kann man sich nicht, was im Kopf dieses Diktators vor sich geht. Die nukleare Gefahr in Europa war seit dem Kalten Krieg nicht mehr so real wie in diesen Wochen und Monaten.

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