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Vorbild Schweden?

Viele Bewerbungen für die Heimatgarde, große Motivation, den Wehrdienst zu leisten, breite Unterstützung für das Konzept der „totalen Verteidigung“: Die Schweden stehen mehrheitlich hinter ihrer Zeitenwende in Sachen Verteidigung – auch hinter der neuen Mitgliedschaft in der NATO. Woher kommt dieser starke Verteidigungswille?

Schwedische Soldaten der „Hemvärnet“ (auf Deutsch „Heimatgarde“) und US-Marines üben das Verhalten bei einem Giftgasangriff auf der Insel Gotland.

Foto: Stephan Pramme

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Jesper Nordström stülpt sich die Gasmaske über das Gesicht, dann macht er dasselbe bei seinem Kameraden, der regungslos am Waldboden liegt. Sein Kamerad hat schon Nervengas eingeatmet und ist bewusstlos geworden. Gemeinsam mit einem anderen Soldaten schultert Nordström den Bewusstlosen und schleppt ihn den Waldweg entlang. Andere Soldaten sichern den Weg, der Feind könnte jederzeit aus dem Gebüsch auf sie schießen. Jetzt muss alles schnell gehen. Der Stützpunkt ist etwa einen Kilometer entfernt, dorthin müssen Nordström und seine Kameraden den Bewusstlosen bringen.

Jesper Nordström ist Soldat der Heimatgarde auf Gotland. An diesem Tag übt er mit seinen Kameraden, wie sie sich bei einem Angriff mit Nervengas verhalten sollen. Die Übung, die amerikanische Soldaten anleiten, war Teil der „Baltic Operations“ (BaltOps) Übungsserie. Unter Führung der US-Streitkräfte nahmen diesen Sommer 25.000 Soldaten aus 25 Ländern teil. Ein Teil der alljährlichen Übungsserie fand auf Gotland statt. Und Jesper Nordström und seine Kameraden waren dabei. Im Hauptberuf ist der 32-Jährige Lastwagenfahrer. Nebenbei engagiert er sich aber schon seit zwölf Jahren in der „Hemvärnet“, der Heimatgarde auf Gotland. „Ich mag meinen Job als Lastwagenfahrer“, sagt Nordström. „Aber ich mochte den Wehrdienst und das Militär auch.“ Deshalb habe er sich nach seinem Wehrdienst für die Heimatgarde gemeldet. „Die Welt ist unsicherer geworden, und ich möchte meinen Teil zur Verteidigung meiner Heimat beitragen“, fügt er hinzu.

Jesper Nordström übt regelmäßig bei der Heimatgarde auf Gotland. Im zivilen Leben ist er Lastwagenfahrer. (Foto: Stephan Pramme)

Damit ist Nordström nicht alleine. Seit Februar 2022, seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, ist auf Gotland vieles anders. Auf der idyllischen Urlaubsinsel melden sich plötzlich viele für die Heimatgarde. „Dreimal mehr, als wir an Stellen haben“, sagt Oberst Dan Rasmussen, der Kommandeur des Gotland- Regiments, dem die Heimatgarde auf der Insel unterstellt ist. Und es gibt seit 2022 nicht nur viel mehr Bewerbungen, auch die Verteidigungsbereitschaft wuchs: Sechs Wochen am Stück übte Jesper Nordström mit der Heimatgarde im Jahr 2022, normalerweise tut er das nur acht Tage im Jahr. Soldaten der Heimatgarde patrouillierten damals an den Küsten Gotlands, bewachten die Häfen. Denn die Menschen hier fühlten sich verwundbar. Gotland liegt mitten in der Ostsee, nur 200 Kilometer von der russischen Enklave Kaliningrad entfernt. Wer Gotland kontrolliert, kontrolliert die Ostsee, heißt es hier. Gotland, ein strategisches Kleinod. Auf das haben die Russen ein Auge geworfen, da sind sie sich hier auf der Insel sicher.

Aus „Friedensschlummer“ geweckt

Und doch war Gotland, die windumtoste Ferieninsel, über lange Jahre hinweg schutzlos. Denn im Jahr 2005 waren die letzten Soldaten von der Insel abgezogen, nachdem die Insel im Kalten Krieg noch der am stärksten militarisierte Teil Schwedens gewesen war. Vier Regimenter gab es damals hier und vor allem viel Küstenartillerie. Nach dem Ende des Kalten Kriegs bauten die Schweden hier alle Verteidigungsanlagen ab. Doch schon die Annexion der Krim und die Eroberung der Ostukraine im Jahr 2014 weckten die Schweden aus ihrem „Friedensschlummer“. Die Regierung entschied, wieder Militär auf Gotland zu stationieren. Jetzt ist ein Regiment im Aufbau, und Oberst Dan Rasmussen ist dessen Kommandeur. Bereits 1.000 Männer und Frauen hat er unter seinem Kommando (inklusive der Soldaten der Heimatgarde). Bis zum Jahr 2027 soll das Militär zu einer Task Force mit 4.000 Soldaten aufwachsen. Bereits 20 Leopard-2-Panzer und 20 CV90-Schützenpanzer sind auf der Insel. Allein das Personal fehlt noch – und die Infrastruktur. Auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz nahe der Inselhauptstadt Visby stampft das schwedische Militär gerade einen neuen Standort aus dem Boden. Mit neuen Unterkunftsgebäuden, einer Mensa, einer Schießbahn und Instandhaltungshallen für die Panzer.

Wie in Deutschland hat auch die schwedische Regierung über Jahrzehnte gedacht, dass Krieg in Europa keine Option mehr sei – und massiv an den eigenen Streitkräften gespart. Doch das Umlenken kam schnell: Die schwedische Regierung hat in den vergangenen Jahren ihr Verteidigungsbudget verdoppelt. Sie erreicht dieses Jahr die von der NATO geforderten zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das Militär ist zahlenmäßig klein – nur 18.000 Soldaten dienen hauptberuflich bei den Streitkräften. Das ist in der Relation zur Bevölkerung (in Schweden leben 10,5 Millionen Einwohner) etwas kleiner als die Bundeswehr (175.000 Soldaten auf 83 Millionen Einwohner). Doch dafür ist das schwedische Militär extrem gut mit modernem Gerät ausgestattet: Die Schweden haben 110 Leopard-2-Kampfpanzer (Bundeswehr: 313), vier moderne U-Boote (Bundeswehr: 6), fünf Korvetten der Visby-Klasse mit Stealth-Fähigkeiten (Bundeswehr: 6 der K130-Klasse) und 96 Multirollenkampfjets JAS 39C Gripen (Bundeswehr: 138 Eurofighter und 93 Tornados). Vieles an Ausrüstung wird in Schweden selbst vom schwedischen Rüstungskonzern Saab hergestellt.

Soldaten der Heimatgarde patrouillierten im Jahr 2022 über Wochen hinweg die Küsten von Gotland, wie hier entlang der mittelalterlichen Stadtmauer der Inselhauptstadt Visby. Hintergrund war der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. (Foto: picture alliance / dpa / Soren Andersson)

Und natürlich hat das schwedische Militär nicht nur die 18.000 hauptberuflichen Soldaten. Jedes Jahr werden im Moment 8.000 Wehrdienstleistende eingezogen, die nach ihrem Wehrdienst für mindestens acht Jahre grundbeordert bleiben, regelmäßig üben müssen und im Verteidigungsfall an die Waffen gerufen werden. Das macht ein Reservoir an (ehemaligen) Wehrpflichtigen von 64.000 Soldaten, die zu den 18.000 Aktiven dazukommen. Dazu kommen noch die 29.000 Soldaten der Heimatgarde. Und doch läuft es auch bei den Schweden bei der militärischen Zeitenwende nicht ohne Ruckeln ab. Schwedische Zeitungen meldeten kürzlich, dass die neuen Rekruten nicht ausreichend persönliche Ausrüstung bekommen hätten. Manchmal gibt es auch nur veraltete Produkte aus den 1990er-Jahren. Viele kaufen sich deshalb eigene Kleidung und persönliche Ausrüstung.

Übung mit US-Soldaten

So hat es auch Hugo Viklund gemacht. Seine Stiefel und sein Combat-Shirt hat er sich selbst beschafft. Der 24-Jährige ist Soldat beim 1. Amphibischen Regiment in Stockholm, doch heute sind er und seine Kameraden nicht in der Hauptstadt aktiv, sondern auf ihrer „Spielwiese“, dem Stockholmer Schärengarten. Das sind Hunderte kleinere Inseln, die wie ein Wall das schwedische Festland umgeben. Der heutige Tag ist ein besonderer für Viklund und seine Kameraden. Gemeinsam mit US-Soldaten üben sie heute auf der kleinen Insel Utö ein Gefechtsschießen mit amerikanischen HIMARS-Raketenwerfern. Auch dieses Gefechtsschießen ist Teil der diesjährigen BaltOps-Übungsserie. Die Schweden übernehmen die Zielzuweisung, die US-amerikanischen Soldaten lösen die HIMARS-Raketenwerfer aus. Es geht um internationale Zusammenarbeit und reibungslose Kommunikation.

Internationales Gefechtsschießen: Auf der Insel Utö üben schwedische Soldaten gemeinsam mit US-Soldaten die Verteidigung der Küste vor Stockholm. Im Vordergrund: die Anti-Schiffsrakete „Robot 17“ des 1. Amphibischen Regiments. (Foto: Stephan Pramme)

Der Wind biegt das Gras auf der Lichtung, auf der das Gefechtsschießen stattfindet, die Luft riecht nach dem nahen Meer. Utö ist zu einem Teil Truppenübungsplatz, zum anderen Teil Urlaubsinsel. Auch wenn er nicht zum Urlaub hier ist, Viklund fühlt sich auf Utö wohl. Das merkt man sofort an seinem selbstbewussten Lächeln und der Art, sich hier zu bewegen. Viele Wochen habe er schon hier verbracht, erzählt er. Die rot-weiß gestrichenen Baracken im Wald gleich neben dem Schießplatz dienen Viklund und seinen Kameraden vom Amphibischen Regiment als Unterkunft, während sie hier die Verteidigung der Inseln im Schärengarten üben. Die Landschaft, die Häuser, die Ruhe – die Szenerie wirkt eher wie aus einem Astrid-Lindgren-Film als wie ein Truppenübungsplatz.

Aktivität in der Natur und dabei seinem Land nützlich sein, das ist Viklunds Motivation, deshalb ist er hier. Er war vor sechs Jahren beim ersten Jahrgang dabei, der wieder Wehrdienst leisten musste. Doch nach seinem Wehrdienst verließ Viklund die Streitkräfte und begann ein Ingenieurstudium. „Aber ich habe schnell gemerkt, dass das Lernen in geschlossenen Räumen nicht meine Welt war“, erzählt er. Viklund wollte raus, in der Natur aktiv sein. Deshalb brach er sein Studium ab und ging zurück zum Militär. Er wohne zwar in Stockholm, sei aber wegen seines Berufs viel auf dem Wasser und zwischen den Inseln im Schärengarten unterwegs, sagt er und seine Augen leuchten dabei. In Zukunft möchte er sich zum Offizier weiterbilden lassen. Das dauert in Schweden drei Jahre. Doch sollte er es sich anders überlegen, ist das auch kein Problem. In Schweden können Soldaten immer gehen, die „Kündigungsfrist“ dauert nur drei Monate.

Hugo Viklund (Mitte) und seine Kameraden sind Soldaten beim 1. Amphibischen Regiment in Stockholm. Auf der Insel Utö sichern sie das Gefechtsschießen ab, das die schwedischen Streitkräfte mit den US-amerikanischen Soldaten durchführen. (Foto: Stephan Pramme)

Hugo Viklund ist eine Ausnahme. Die meisten Wehrdienstleistenden verlassen das Militär nach ihrer Wehrdienstzeit. So auch Linnea , Clara und Ellen. Nur eine ihrer Freundinnen, Simone, ist nach dem Grundwehrdienst bei der Armee geblieben. Die vier Freundinnen haben sich in der gemeinsamen Wehrdienstzeit kennengelernt und angefreundet. An diesem Tag treffen sie sich zum ersten Mal seit der gemeinsamen Zeit wieder. loyal trifft die vier jungen Frauen zufällig an der südschwedischen Küste, wo sie gerade ein Picknick bei Sushi und Bier machen. Linnea studiert inzwischen auf Lehramt, Clara Jura und Ellen Medizin.

„High Potentials“

Obwohl drei der vier jungen Frauen nicht mehr bei den Streitkräften sind, blicken alle mit positiven Gefühlen auf ihre Zeit als Wehrdienstleistende zurück. Die eigenen Grenzen austesten, sich als Persönlichkeit besser kennenlernen, mit Menschen aus ganz Schweden in Kontakt kommen, die sie sonst nie getroffen hätten: Fast begeistert zählen die vier auf, warum ihnen der Wehrdienst so gut gefallen hat. Auch Linnea ist voll des Lobes – obwohl sie zunächst gar nicht dienen wollte. Auf dem Fragebogen, den alle 18-jährigen Schweden ausfüllen müssen, kreuzte sie „Kein großes Interesse am Wehrdienst“ an. Doch sie wurde trotzdem für die Musterung ausgewählt. Dort performte sie so gut, dass sie eingezogen wurde. Gewehrt habe sie sich dagegen nicht, sagt sie. So großes Unbehagen habe ihr der Wehrdienst dann doch nicht bereitet – und ja, ein bisschen geehrt habe sie sich auch gefühlt, dass die Streitkräfte sie unbedingt haben wollten.

Ungewöhnliche Frauenrunde: Linnea, Clara, Ellen und Simone haben sich während ihrer Wehrdienstzeit kennengelernt und angefreundet – nun treffen sie sich zum Picknick an der schwedischen Küste. (Foto: Stephan Pramme)

Die vier bestätigen den Trend, dass viele fitte und ambitionierte junge Menschen zwar gerne den Wehrdienst leisten. Vor allem um sich auszutesten und eine spannende Zeit zu erleben. Diese „High Potentials“ sähen die Zeit beim Militär aber nur als eine kurze Sequenz auf ihrem Karriereweg und hätten andere Pläne für ihre Zukunft, als sich länger beim Militär zu verpflichten, sagt der schwedische Militärattaché in Berlin, Jonas Hárd af Segerstad.

Musterungsbehörde hat nie aufgehört zu arbeiten

Doch wie bekommen die Schweden die bestgeeigneten jungen Frauen und Männer für den Wehrdienst? Durch einen aufwendigen Auswahlprozess. Den schaute sich loyal in Stockholm an. Dort betreibt das sogenannte „Plikt-och pröveningsverket“, eine zivile Musterungsbehörde, eines der drei schwedischen Musterungsbüros (siehe auch Seite 24). Diese Büros wählen nicht nur angehende Soldaten aus – auch wer Polizist oder Zollbeamter werden will, muss sich hier prüfen lassen. Das hat einen entscheidenden Vorteil: Die Musterungsbehörde hat nie aufgehört, Auswahlverfahren durchzuführen, auch nicht während der Aussetzung der schwedischen Wehrpflicht von 2010 bis 2017. So sei der Aufbau der Kapazitäten für die Musterung der nun wieder zum Militär einberufenen Wehrpflichtigen schnell gegangen, berichtet Per Andersen Helseth, der für die Musterungsbehörde arbeitet. Die „Plikt-och pröveningsverket“ musste zwar seit 2017 ihr Personal aufstocken, von 150 auf nun 350 Kollegen, aber die Gebäude, die Büros alles sei zur Wiedereinführung der Wehrpflicht schon dagewesen. Anders als in Deutschland, wo erst wieder eine entsprechende Struktur aufgebaut werden müsste. In den drei Büros mustern Helseth und seine Kollegen nun jedes Jahr etwa 30.000 junge Schweden, das sind etwa ein Drittel eines Jahrgangs.

Doch die Gänge des Musterungsbüros in Stockholm haben in den vergangenen Monaten nicht nur viele Wehrpflichtige gesehen. Immer mehr Politiker und Journalisten aus vielen Ländern kommen Helseth und seine Kollegen besuchen. „Sie alle wollen sich ansehen, wie wir unsere Musterungen organisieren“, sagt Helseth, mit einem zurückhaltenden und doch ein bisschen stolzen Lächeln. Viele Länder denken derzeit wegen Personallücken in ihren Streitkräften über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nach. Auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius war kürzlich da und hat sich von Helseth die Musterungsprozedur erklären lassen.

Hier kann man auch übernachten: Musterungsbehörden-Mitarbeiter Per Andersen Helseth im Musterungsbüro in Stockholm. (Foto: Stephan Pramme)

Die Atmosphäre im Musterungsbüro wirkt freundlich. Große Fensterfronten geben den Blick auf den Fährhafen von Stockholm frei. Die Wände sind in Pastellfarben gestrichen, immer wieder sind Figuren in Street-Art-Optik an den Wänden angebracht, daneben Sätze wie: „Hier finden wir deine Stärken!“ oder „Bist du der nächste Oberkommandierende?“. Es gibt sogar Schlafräume für diejenigen, die aus dem hohen Norden Schwedens anreisen. Auch diese Räume wirken hell und modern. Andersen und seine Kollegen geben sich sichtlich Mühe, damit sich die jungen Frauen und Männer, die oft zum ersten Mal derart weit von ihrem Elternhaus entfernt sind, hier wohlfühlen.

Körperliche und geistige Fitness

Doch in dieser Wohlfühlatmosphäre findet ein knallharter Auswahlprozess statt. Am Anfang des Verfahrens müssen die jungen Männer und Frauen einen kognitiven Leistungstest am Computer bestehen. 80 Minuten Zeit haben sie, um zum Beispiel Zahlenreihen zu vervollständigen, Begriffe zu erklären oder Textteile in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Auf der Basis der Ergebnisse werden die Kandidaten vorsortiert. Wer besser als fünf performt hat (die Noten gehen von eins bis zehn) gilt als für eine Führungsposition geeignet. Denn es ist so: Die Wehrdienstzeit kann zwischen neun und 15 Monaten dauern, je nach Position und Verantwortungslevel. Und diejenigen, die für die 15 Monate ausgewählt werden, werden nach wenigen Monaten bereits Zugführer für die Newcomer. Sie bekommen also sehr schnell sehr viel Verantwortung übertragen. Aber eben nur, wer beim kognitiven Leistungstest sehr gut performt hat.

Bei weiteren Tests überprüfen Helseths Kollegen dann die Fitness. Die Prüflinge müssen zum Beispiel auf Fahrradergometern fahren. Dabei wird der Widerstand immer größer, bis die Teilnehmer am Limit sind. Genauso beim Gewichtheben, wo mithilfe einer Maschine getestet wird, wie viel Kraft die Kandidatin oder der Kandidat in Armen und Beinen hat. Danach kommt die Gesundheitsüberprüfung unter anderem mit Hör- und Sehtest. Am Schluss müssen die Prüflinge noch mit einem Psychologen sprechen und über ihre psychische Gesundheit und Stabilität Auskunft geben.

Das Königshaus als Vorbild: Kronprinzessin Victoria, Thronfolgerin in Schweden (vorne links), macht gerade eine Offiziersausbildung. Schon im Jahr 2003 hat sie ihre Grundausbildung absolviert und danach immer wieder Reserveübungen geleistet. (Foto: Sara Friberg / Kungl Hovstaterna)

Die Angestellten des Musterungsbüros nehmen sich Zeit für die jungen Menschen, alles wird genau notiert. Denn es gibt 250 verschiedene Positionen, die zu besetzen sind. „Wir wollen für jeden die passende Stelle in den Streitkräften finden“, sagt Helseth. Auch das trägt sicherlich zur Akzeptanz des Wehrdienstes in Schweden bei: Die Wehrpflichtigen erlernen neben den militärischen Grundkenntnissen während ihres Wehrdienstes individuelle Fertigkeiten – ihrer Persönlichkeit entsprechend.

Am Ende werden von den etwa 110.000 eines Jahrgangs 8.000 junge Frauen und Männer für den Wehrdienst ausgewählt – also etwa sieben Prozent. Mehr brauchen die schwedischen Streitkräfte nicht, um ihre Strukturen so zu füllen, dass sie kriegstüchtig sind. Aber das Militär ist nur das eine. In Schweden gibt es das Konzept der „Totalen Verteidigung“. Das bedeutet, dass sich in Kriegszeiten alle an der Verteidigung ihres Landes beteiligen. Und schon zu Friedenszeiten wissen die Schweden, wo sie eingeplant sind, und bilden sich für diese Aufgabe fort.

Zivilpflicht und allgemeine Dienstpflicht

Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es in Schweden neben der Wehrpflicht auch eine Zivilpflicht und eine allgemeine Dienstpflicht. Doch während die Wehrpflicht seit 2018 wieder aktiviert ist, verweilt die Realisierung der Zivilpflicht und der allgemeinen Dienstpflicht noch im Anfangsstadium. Immerhin: Anfang des Jahres wurden verpflichtende Trainingseinheiten für die Ehrenamtlichen bei der Feuerwehr eingeführt – damit diese im Not- oder Verteidigungsfall genau wissen, was zu tun ist. Dasselbe soll demnächst bei anderen Blaulichtorganisationen gelten.

Aber was ist die allgemeine Dienstpflicht? Alle, die in Schweden wohnen und zwischen 16 und 70 Jahre alt sind, sind im Notfall verpflichtet, ihren Dienst an der Stelle zu tun, wo gerade Bedarf besteht. Etwa in der Lebensmittel- oder Trinkwasserversorgung. Doch daraus folgt für die meisten Schweden in ihrem täglichen Leben erst einmal gar nichts.

Der ehemalige Oberst Bo Stennabb ist Generalsekretär der freiwilligen Verteidigungsorganisation „Försvarsutbildarna“. (Foto: Stephan Pramme)

„Nur etwa 30 Prozent der schwedischen Gesellschaft wissen genau, was sie in einem Notfall oder demVerteidigungsfall zu tun haben“, sagt Bo Stennabb, Generalsekretär der freiwilligen Verteidigungsorganisation „Försvarsutbildarna“. Die „Försvarsutbildarna“ ist eine von etwa zwanzig freiwilligen Verteidigungsorganisationen, die im Bereich der „Totalen Verteidigung“ aktiv sind – und sie ist mit 30.000 Mitgliedern die größte. „Unser Ziel ist es, die Totalverteidigung unseres Landes zu stärken“, sagt Stennabb. Erst vor ein paar Monaten hat der ehemalige Oberst die schwedischen Streitkräfte verlassen, um Generalsekretär der „Försvarsutbildarna“ zu werden und ist nun der Chef von 17 hauptamtlichen Angestellten.

Freiwilliges Engagement

Freiwillige Verteidigungsorganisation – was sich in deutschen Ohren irritierend anhört, ist in Schweden seit mehr als hundert Jahren normal. Während des Ersten Weltkrieges hatte sich die „Försvarsutbildarna“ gegründet, als Teil des Volkssturms, also der Bewegung von Freiwilligen, die Schweden verteidigen wollten – in jedem Dorf, in jedem Weiler. Anders als in Deutschland haben die Freiwilligenorganisationen allerdings nie eine radikale, zersetzende Kraft in der schwedischen Politik gespielt. Deshalb gibt es sie auch heute noch – und sie sind so aktiv wie schon lange nicht mehr.

Über 3.500 Veranstaltungen haben die Ehrenamtlichen in seiner Organisation im vergangenen Jahr organisiert, sagt Stennabb. Darunter etwa die Grundausbildung für Ungediente, ein Hundetraining für Heimatgarde-Soldaten oder öffentliche Veranstaltungen zum Thema „Wie überlebe ich in einem Not- oder Kriegsfall?“. Finanziert wird die Organisation von Spenden – viele vererben ihr ihr Vermögen, so Stennabb. Die „Försvarsutbildarna“ funktioniert nach einem interessanten System: Ein staatlicher Akteur (das kann die Heimatgarde des schwedischen Militärs, der Zoll oder eine Zivilschutzbehörde sein) beauftragt die „Försvarsutbildarna“, eine bestimmte Ausbildung anzubieten, und diese macht das dann – gegen Bezahlung durch den staatlichen Akteur. Dafür hat die „Försvarsutbildarna“ Hunderte Trainer, allesamt Ehrenamtliche, die diese Trainings durchführen. Dafür bekommen die Ehrenamtlichen eine Aufwandsentschädigung.

Lovisa und Per Adolfsson führen für die „Försvarsutbildarna“ Ausbildungseinheiten durch. Etwa ein Hundetraining für Soldaten der „Heimatgarde“. (Foto: Stephan Pramme)

So zum Beispiel Lovisa und Per Adolfsson. Lovisa arbeitet in ihrem zivilen Leben in einer Hausverwaltung. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit ihrem Hund Alma. Als Hundeführerin bei der Heimatgarde. Und als Trainerin für die „Försvarsutbildarna“, wo sie andere Soldaten der Heimatgarde den Umgang mit Hunden lehrt. Dort lernen diese zum Beispiel, wie ihre Hunde als Spürhund oder Wachhund beim Militär eingesetzt werden können. Auch leitet Adolfsson für die „Försvarsutbildarna“ die sogenannte „GUF“, die vierzehntätige Grundausbildung für Ungediente.

Biwakwochenenden für junge Menschen

Auch Jugendliche sind schon in der „Försvarsutbildarna“ aktiv. In Biwakwochenenden werden junge Menschen ab 15 Jahren an militärische Themen herangeführt. Sie marschieren, machen Feuer in der Natur – und dürfen auch bereits mit 22-Kaliber-Munition schießen und Uniform tragen. In Deutschland wäre so etwas undenkbar. Die Biwakwochenenden haben großen Zulauf – auf der Facebook-Seite der Försvarsutbildarna lachen viele junge Menschen den User an. Die Szenerie der Fotos wirkt wie ein Ausflug bei den Pfadfindern, nur in Uniform eben.

Erleichterung am Ende der ABC-Übung: Der Soldat, der den Vergifteten gemimt hat, wird von der Gasmaske befreit. US-Soldaten leiten die ABC-Übung, die Teil der jährlichen Übungsserie „Baltic Operations“ (BaltOps) ist, an. Dieses Jahr nahm Schweden zum ersten Mal als NATO-Partner an der Übungsserie teil. (Foto: Stephan Pramme)

Jesper Nordström und seine Kameraden der Heimatgarde haben inzwischen mit dem „Bewusstlosen“ auf ihren Schultern das rettende Ziel erreicht. Der Feldweg endet direkt am Meer. Der andere Teil ihrer Einheit wartet dort bereits auf sie. Ein US-amerikanischer Soldat gibt ihnen Feedback zu ihrer „Rettungsaktion“. Sie hätten das Erlernte gut in die Praxis umgesetzt, sagt er. Die Zusammenarbeit zwischen den US-Soldaten und den schwedischen Heimatgardisten habe reibungslos geklappt. Klar, die Russen werden hier auf Gotland höchstwahrscheinlich nicht mit Nervengas angreifen. Viel wahrscheinlicher seien hybride Angriffe, auf Webseiten, auf die Stromversorgung, sagt Dan Rasmussen. Und diese erleben sie auch gerade schon: Wegen der Störung des GPS-Systems habe vor Kurzem ein Hobbypilot auf Gotland notlanden müssen, erzählt Rasmussen. Auch stellten schwedische Militärs verstärkte Unterwasseraktivitäten der russischen Marine fest.

Während die Soldaten die ABC-Übung besprechen, spazieren Touristen an den Kalksteinfelsen der Küste vorbei. Sie schauen zu den Soldaten hinüber, dann schlendern sie weiter, genießen den kühlen Meerwind, die pittoreske Kulisse. Stört sie die Militärpräsenz nicht? loyal fragt bei einem Familienvater nach, der mit seiner Frau und Baby im Kinderwagen gerade die Küste entlangspaziert: „Nein“, sagt der Schwede, ein Stockholmer, der gerade mit Familie Urlaub auf Gotland macht. „Die Zeiten sind unsicher. Es ist gut zu wissen, dass wir gewappnet sind.“ Da ist er wieder, der unaufgeregte schwedische Pragmatismus.

Ein Foto zur Erinnerung: Nach der ABC-Übung posieren schwedische und US-amerikanische Soldaten für ein Foto vor der Küste Gotlands. Die Soldaten beider Nationen kennen sich schon. Schon seit vielen Jahren kommen die US-Soldaten regelmäßig nach Gotland, um Ausbildungseinheiten mit den schwedischen Soldaten durchzuführen. (Foto: Stephan Pramme)
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