Singuläres Ereignis?
Der 11. September 2001 hat die Welt verändert. 20 Jahre danach hat sich der Westen aus Afghanistan unrühmlich zurückgezogen. Al Qaida ist besiegt, aber die Taliban sind wieder da. Können Terroristen heute wieder eine solche Tat verüben? Digitalisierung und globale Vernetzung spielen ihnen in die Hände.
Der 11. September 2001 ist ein ganz normaler, sonniger Tag in New York. Die Stadt erwacht, und die Menschen strömen zu ihren Arbeitsplätzen. Auch die Büros im World Trade Center füllen sich. Um 8.45 Uhr Ortszeit zerplatzt jäh die Normalität. Eine Maschine der American Airlines, Flug 11, rast in den nördlichen der über 400 Meter hohen Bürotürme. 17 Minuten später, um 9.03 Uhr, kracht der United Airlines Flug 175 in den südlichen Turm der Twin Towers und explodiert. Beide Hochhäuser brennen und stürzen später in sich zusammen. In dem Inferno sterben fast 3000 Menschen, Tausende werden verletzt. Das einstige Wahrzeichen von Manhattan-Süd, Symbol der US-Wirtschaftsmacht, existiert nicht mehr.
Aber der Horror dieses Tages ist noch nicht zu Ende. Um 9.43 Uhr fällt eine Boeing 757 des American-Airlines-Fluges 77 auf den Südflügel des Pentagon, die Zentrale der amerikanischen Verteidigung. Um 10.10 Uhr stürzt eine Boeing 757 der United Airlines über einem Feld bei Shanksville im Bundesstaat Pennsylvania ab. Später finden Experten heraus, dass die Maschine wohl auf den 140 Kilometer entfernten Landsitz des US-Präsidenten, Camp David, gesteuert werden sollte. Auch das Weiße Haus in Washington könnte Anschlagsziel gewesen sein. Dass es bei diesem Flug nicht dazu kam, hing wohl mit einem verzweifelten Kampf der Passagiere mit den Entführern zusammen, denn alle Maschinen sind an diesem Tag fast zeitgleich auf Inlandsflügen in den USA entführt worden. Amerika und die gesamte Welt stehen unter Schock.
Fachleuten wurde nach der ersten Erstarrung schnell klar: Nur eine global operierende Terrororganisation konnte die Fähigkeiten besitzen, einen solch strategisch, operativ und logistisch perfekt geplanten Terrorakt auszuführen. Schon unmittelbar nach dem Anschlag zeichneten US-Geheimdienste ein erstes Bild des Drahtziehers. Die Spur führte zum saudischen Multimillionär Osama bin Laden, der sich mit seiner Terrortruppe Al Qaida („Die Basis“) in den Bergen Afghanistans im Schutz der dort regierenden radikalislamischen Taliban 2001 verschanzt hatte.
Auf den Fahndungslisten westlicher Nachrichtendienste belegte Osama bin Laden schon vor dem 11.September 2001 einen Spitzenplatz. Von seinem Stützpunkt in der pakistanischen Stadt Peshawar aus hatte bin Laden während des Kriegs gegen die Sowjetunion den Freiheitskampf der afghanischen Mudschaheddin mit Geld und Material unterstützt. Für viele Menschen in dieser Region galt er daher als Held. Das änderte sich auch nach seinem Tod am 2. Mai 2012 durch ein Kommando des Teams 6 der US-Navy Seals im pakistanischen Abbottabad nicht.
Im Zuge internationaler Großfahndungen nach geheimen Al-Qaida-Gruppierungen und -Netzwerken wurden auch in Deutschland terroristische Zellen entdeckt. Als einer der Drahtzieher der Todespiloten der Anschläge von New York und Washington entpuppte sich der 24-jährige Ägypter Mohammed Atta. Lange Zeit hatte er in Hamburg in einer bürgerlichen Scheinlegalität gelebt und studiert. Atta galt als Kopf und Motivator der 19-köpfigen Hijackergruppe vom 11. September.
Fanatische Energie der Täter
Die Botschaft des bis heute folgenreichsten Terroranschlags wurde angesichts von Ort und Zielauswahl schnell klar: In New York sollten die Wirtschafts- und Nervenstränge der westlichen Führungsmacht USA getroffen werden. Zudem zielte die Stoßrichtung auf eine Megametropole der modernen Industriegesellschaft. In New York zeigte sich zum ersten Mal auch im Herzen der USA das Bild eines immer stärker ausgreifenden Terrorismus islamistischer Prägung. Diese neue Herausforderung wurde von einer fanatischen Energie der Täter gespeist, die die Botschaft des Korans zu einer militanten und gewaltbereiten politischen Ideologie umdeuteten. Der Antrieb dieser Haltung war und ist Hass auf die westliche Welt und ihre Gesellschaftssysteme. Dieser Hass zielte aber gleichermaßen auf jene muslimisch-arabischen Staaten, die, wie Saudi-Arabien mit dem Westen durch wirtschaftliche Interessen eng verbunden sind. Dieser Konstellation erklärten die Strategen des Terrors einen „Heiligen Krieg“, der künftig immer wieder als Rechtfertigung ihrer Aktionen diente.
Am 7. Oktober 2001 erfolgte der Gegenangriff der USA auf die Taliban-Miliz, die Al Qaida in Afghanistan Unterschlupf gewährte. Nach dem Anschlag vom 11.September hatte die NATO zum ersten Mal den Bündnisfall ausgerufen, die US-Administration konnte auf weltweite Solidarität und Unterstützung zählen. Auch für die Bundeswehr begann ein fast 20 Jahre dauernder Einsatz am Hindukusch, der in diesem Sommer zu Ende gegangen ist und mit der Evakuierung von Deutschen und Ortskräften ein tragisches Nachspiel hatte.
Der massive Gegenschlag der USA und ihrer Verbündeten führte zwar zur Zerstörung der Trainingscamps der bin-Laden-Truppe. Auch wurde deren Schutzmacht, das Taliban-Regime, in diesem Antiterrorfeldzug hinweggefegt. Doch die Ideen eines Dschihad gegen die westliche Führungsmacht und ihrer Verbündeten blieb in den Köpfen der Islamisten. Stabilität, Sicherheit und Demokratie in Afghanistan waren zwar hehre Ziele der westlichen Allianz, sie wurden aber in der 20-jährigen Präsenz von NATO und zivilen Organisationen nicht erreicht. Der Einsatz sollte symbolträchtig kurz vor dem 11. September 2021 mit dem Rückzug der letzten Truppen der Allianz enden. Nun weht am 11. September überall in Afghanistan wieder die Taliban-Flagge. Die Islamisten triumphieren.
„Krieg gegen den Terror“
Nach den Angriffen vom 11. September 2001 sprach der damalige US-Präsident George W. Bush vom „Krieg gegen den Terror“. Allerdings war dieser „Krieg“ kein Krieg mehr im klassischen Sinne; es waren eher Konfrontationen im Stil von Kleinkriegen mit Taktiken des Guerillakampfs. Dieser neue Typus kriegerischer Auseinandersetzung heißt in der Sprache der Militärexperten low intensity warfare: eine hybride oder asymmetrische Kriegsführung. Darunter wird ein Konflikt verstanden, der auf der gegnerischen Seite von nichtstaatlichen Gruppen oder Organisationen nach neuen Regeln und Taktiken ausgefochten wird. Den Typus einer neuen Kriegspartei repräsentieren Gruppen oder Terrorkommandos vom Schlage der pro-iranischen Hisbollah im Libanon, der islamistischen Hamas im Gazastreifen, die Terrorkader von Al Qaida und des sogenannten Islamischen Staates (IS), um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Kommandos operieren nicht mit hochgerüsteten Armeen, sondern in kleinen flexiblen Einheiten, die mit terroristischen Methoden und immer raffinierteren taktischen Mitteln einen Guerillakrieg aus dem Untergrund führen können. Diese Kommandos sind konventionell agierenden Streitkräften punktuell sogar überlegen.
Nach der militärischen Niederlage der Al Qaida und ihrer damaligen Anlehnungsmacht, den Taliban, forderte die US-Administration einen weiteren Schlag gegen „das Böse“, so der damalige US-Präsident George W. Bush. Das Ziel war der Irak des Diktators Saddam Hussein. Mit der falschen Behauptung, das Regime Saddam Husseins plane den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, wurde 2003 ein Angriff auf den Irak begründet. Nach der Niederlage Saddams kam es in den Wirren der Nachkriegszeit und dem 2011 erfolgten Abzug des Großteils der US-Soldaten aus dem Irak zum Aufstieg des aus Al Qaida im Irak hervorgegangenen sogenannten Islamischen Staates. 2014 wurde unter dem Logo des IS das Kalifat gegründet, der erste islamistische Terror-Staat der Geschichte.
Spätestens Ende des Jahres 2019 zerbrach das Kalifat. Eine „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA hatte die Strukturen des IS zerschlagen. Ihre militärische Niederlage sollte allerdings nicht zu der Annahme verleiten, die Terrormiliz sei besiegt, denn es erwuchs aus ihr vielmehr eine Art Mythos: der Glaube an eine vermeintliche staatliche Einheit, die für viele muslimische Anhänger des IS eine besondere Attraktivität besitzt. Allein aus Deutschland zogen 1070 Islamisten für den Islamischen Staat in den Irak und nach Syrien. Das frühere IS-Gebiet, zeitweise von der Größe Großbritanniens, ging zwar verloren, dennoch, so warnte US-Terrorforscher Bruce Hoffman „ist die gewaltsame Energie des IS ungebrochen. An der lokalen, regionalen und internationalen DNA hat sich nichts geändert. Die Gewaltideologie des IS ist gleichsam testamentarisch festgezurrt“.
Geänderte Wahrnehmung
Die Anschläge vom 11. September 2001 haben nicht nur die weltpolitische Sicherheitsarchitektur verändert, sie haben auch den Blick und die Wahrnehmung vieler Menschen auf das Gewaltphänomen des Terrorismus islamistischer Prägung geschärft und den Blick auf den Islam und die Muslime verändert. In den Jahren nach 9/11 stellte sich die islamistische Bedrohung in ständig veränderten Formen dar. Mit dem Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon hatte eine neue Ära des Terrorismus begonnen: das Zeitalter des Dschihad-Terrorismus, mit weltweiter Ausstrahlung von Asien bis in die USA. Al Qaida hatte die Möglichkeit zur Massenvernichtung durch Terroristen bewiesen, ohne den bis dahin von Experten befürchteten Modus Operandi mittels nuklearer, biologischer oder chemischer Substanzen.
Seit 2001 wurden durch islamistisch motivierte Terroristen weltweit 3.071 Anschläge mit jeweils mindestens zwölf Toten verübt. 95.000 Menschen wurden dabei ermordet. Diese Zahlen belegen, dass die Angriffe auf das Zentrum der USA vor 20 Jahren eine stimulierende Ausstrahlungskraft auf Terrorgruppen in der ganzen Welt hatten. Die Schläge ins Herz der westlichen Führungsmacht haben vielerorts junge Muslime und zum Islam Konvertierte fasziniert. Nationale und internationale Sicherheitsbehörden sind sich weitgehend einig, dass ein zweiter „11. September“ heute wohl kaum mehr in dieser Form realisierbar wäre. Der Anschlag bleibt möglicherweise ein singuläres Ereignis – nicht zuletzt durch weltweit verbesserte Abwehrmechanismen und Aufklärungsergebnisse.
Dimension des 11. September noch zu übertreffen?
Bevorzugte Wirkmittel einer Terroroperation sind nach wie vor die Kalaschnikow, die Bombe und der Suizidtäter mit dem Sprengstoffgürtel. Zunehmend werden auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Autos oder Messer zu terroristischen Tatwerkzeugen. Das Inferno vom 11. September 2001 sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Terroristen auch daran arbeiten könnten, die Dimension des 9/11 noch zu übertreffen. Dabei spielt die weltweite Vernetzung und Digitalisierung den heutigen Terroristen bei der operativen Planung in die Hände. Im Digitalzeitalter steht Extremisten aller Schattierungen mit den sozialen Medien ein perfekter Baukasten zur Verfügung, mit dem sich selbst Niederlagen kompensieren lassen, wie es der militärisch geschlagene IS derzeit durch massive mediale Propaganda versucht. Statt Guerilla-War droht zunehmend der Cyber-War.
Aber nicht nur virtuell sind Terrorgruppen wie der IS weiterhin aktiv. Sie verschieben oft nur ihre Operationsräume – nämlich dorthin, wo staatliche Autorität und Kontrolle fehlen beziehungsweise zurückweichen. Erst kürzlich warnte BND-Präsident Bruno Kahl vor zunehmender Gefahr in der Sahelzone. Islamistische Terrormilizen dominieren aktuell schon heute weite Landstriche in Mali. einem Einsatzgebiet der Bundeswehr, im Niger, im Tschad, in Burkina Faso sowie in Nigeria.
20 Jahre nach dem 11. September 2001 haben die USA und ihre NATO-Verbündeten Afghanistan verlassen. Was bleibt vom „Krieg gegen den Terror“? Die einst geschlagenen Taliban sind wieder da. Und das weitere Schicksal Afghanistans? Bei Bertolt Brecht heißt es: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Über den Autor
Rolf Tophoven ist Direktor des Instituts für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkte seiner Arbeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus.