DAS MAGAZIN

Monatlich informieren wir unsere Mitglieder mit der loyal über sicherheitspolitische Themen. Ab sofort können Mitglieder auch im Bereich Magazin die darin aufgeführten Artikel lesen!

Mehr dazu
DER VERBAND

Der Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr (VdRBw) hat mehr als 115.000 Mitglieder. Wir vertreten die Reservisten in allen militärischen Angelegenheiten.

Mehr dazu
MITGLIEDSCHAFT

Werden Sie Teil einer starken Gemeinschaft

Mehr dazu

loyal

Tägliche Gefechte in einem vergessenen Krieg

In der Ukraine herrscht seit sieben Jahren Krieg. Die Front zu den Separatistengebieten ist ein Streifen des Todes und der Zerstörung. In den vergangenen zwölf Monaten gab es mehr als 2400 Gefechte. 59 ukrainische Soldaten sind gefallen. loyal hat sich in einer Kampfzone umgeschaut, die „Kontaktlinie“ genannt wird.

Alltag an der Front zwischen der Ukraine und den prorussischen Separatistengebieten im Donbass: Ukrainische Soldaten bei einer Lagebesprechung in der Ruine einer Fabrikhalle bei Awdijiwka. Direkt hinter dem Gebäude liegen die Stellungen der Separatisten.

  • Von André Uzulis (Text) und Stephan Pramme (Fotos)
  • 07.10.2021
  • Artikel drucken
russlandUkraine

Die Schule von Pisky ist eine Ruine. Wo bis 2014 Kinder tobten, das kyrillische ABC und das Einmaleins lernten, sind heute die Wände eingestürzt oder von Explosionen verkohlt, die Fenster zersplittert. Granaten haben das erste Stockwerk teilweise weggerissen, durch die Decke geht der Blick in den blauen Himmel der Ukraine. Im Lehrmittelraum sind die Eisenschränke umgestürzt und haben sich ineinander verkeilt. In einem Klassenzimmer stehen inmitten des Schutts und Schrotts noch ein paar Stühle und Tische. Auf dem einen Tisch liegt ein verkohltes Schulbuch, auf dem anderen ein hölzerner Abakus. Am Ende des Raumes klafft ein mannshohes Loch in der Wand.

Maksym* steigt durch das Loch in den Raum. Sicheren Schritts bewegt er sich auf dem Boden, der über und über bedeckt ist von einem Chaos aus Ziegelsteinen, Brettern früheren Inventars und Glasscherben. Die Kalaschnikow in den Händen, die schusssichere Weste in ukrainischem Flecktarn über der Brust und den Helm der Spezialkräfte auf dem Kopf, findet er seinen Weg durch die Ruine der Schule, durch Klassenräume, den Speisesaal und Flure. An einem der Gänge liegen auf einer Fensterbank aufgestapelte Sandsäcke. Von hier wurde scharf geschossen. Die Abdrücke der Gewehre sind auf der oberen Reihe der Sandsäcke noch zu erkennen. Ziel der Schützen war ein gegenüberliegender Wohnblock. Auch der eine Ruine. Einschusslöcher überall, tote Fenster. Aus manchen wehen zerschlissene Gardinen.

Wo früher Schüler lernten und spielten, steht heute nur noch eine Ruine. (Foto: Pramme)

In dem Plattenbau nebenan hat das Bataillon, dem Maksym angehört, seinen Gefechtsstand eingerichtet. Die Fenster im Erdgeschoss sind zugemauert, die Hauseingänge mit Sandsäcken und Tarnnetz geschützt. Pisky war 2014 und 2015, als der Krieg in der Ost-Ukraine begann, schwer umkämpft. Der Ort befindet sich westlich des Flughafens von Donezk, der nach zwei Schlachten von prorussischen Milizen erobert worden war. Viel blieb von dem Airport nicht übrig. Von dort aus versuchten die Freischärler am Silvestertag 2014 das nahe gelegene Pisky einzunehmen. Ukrainische Verbände konnten die Stadt halten. Die damaligen Gefechte haben Pisky unbewohnbar gemacht. Von den mehreren Tausend Einwohnern der Gemeinde im einstigen Speckgürtel der Industriemetropole Donezk harren noch ganze elf in der Geisterstadt aus. Praktisch alles ist hier zerstört: die Schule, das Krankenhaus, ein landwirtschaftliches Institut, die Wohnhäuser. Zwischen den Ruinen sind Bäume gewachsen. Der Wind streicht durch die Blätter der Birken und des Ahorns, ansonsten ist es still. Die Natur holt sich die Stadt zurück. Die Spätsommersonne taucht die Reste des Infernos, das sich hier abgespielt hat, in mildes Licht.

Maksym ist 26 Jahre alt und von Beruf Bild- und Tontechniker. Seit viereinhalb Jahren dient er als Soldat im ukrainischen Heer. Er hat sich freiwillig gemeldet, um seine Heimat zu schützen. Dieses Motiv hört man immer wieder im Gespräch mit ukrainischen Soldaten an der Front. Da ist der Handwerker, der an die Front zieht, da ist die Kindergärtnerin, die ihren Job aufgibt und T-Shirt und Jeans gegen Flecktarn tauscht. Maksym ist ein hipper Typ: dichter Vollbart, durchdringender Blick aus blauen Augen, ein Witz auf den Lippen. So einer könnte auch in einem der angesagten Clubs in der Kyjiwer Partyszene Platten auflegen. Stattdessen harrt  er hier, in dieser Trostlosigkeit aus Tod und Zerstörung aus. Er ist Gefreiter. „Ich will keine Karriere in der Armee machen“, sagt er trocken, „ich will mein Land verteidigen. Dazu brauche ich keinen hohen Dienstgrad.“

Acht Monate Frontdienst

Seit 17. Februar hockt er auf diesem Außenposten. Im Oktober geht der Einsatz zu Ende. Jeweils acht Monate bleiben die ukrainischen Soldaten an der Front, die offiziell „Kontaktlinie“ genannt wird, dann werden sie abgelöst. Acht Monate – das bedeutet: Acht Monate keinen einzigen Tag frei. Acht Monate keinen Sonntag. Acht Monate keinen Feiertag. Acht Monate keine Erholung. Acht Monate Todesgefahr, 240 lange Tage. Denn die 450 Kilometer lange Front zu den Separatistengebieten im Donbass ist eine Kampfzone. Jeden Tag werden ukrainische Einheiten beschossen. In den vergangenen zwölf Monaten wurden mehr als 2400 Gefechte gezählt. 59 ukrainische Soldaten sind dabei gefallen. Einen Kameraden von Maksym traf es hier in Pisky. Eine russische Rakete tötete ihn am 7. August, als das Geschoss mitten in der Ruinenstadt einschlug und explodierte. Ein weiterer Ukrainer wurde bei dem Angriff schwer verletzt.

Maksym kennt in der zerschossenen Schule jeden Winkel. Er weiß, wo man durch den morsch gewordenen Fußboden einbrechen kann, wo man sich an verbogenen Stangen verletzen kann, wo ein Durchgang instabil ist. Er ist vorsichtig. Und doch kann er sich nie sicher sein, ob sein nächster Schritt nicht sein letzter ist. Die Stellungen der Separatisten sind nur einige hundert Meter entfernt, und Tag für Tag spüren ukrainische Soldaten irgendwo an der Front frisch gelegte russische Minen auf.

Fast 2000 Menschen kamen in der Ukraine seit Beginn des Krieges durch Blindgänger und Minen ums Leben oder wurden durch sie verletzt. Zwei Millionen Menschen, darunter 220.000 Kinder, leben in oder in der Nähe von Gebieten, die als minenverseucht gelten. Minen liegen nicht nur in der Nähe der militärischen Stellungen, sondern auch auf Äckern, an Straßen oder anderen Flächen, die auch von Zivilisten genutzt werden. Nicht in allen Fällen sind sie gekennzeichnet.

Auch ein wirtschaftliches Problem

Eine andere Gefahr an der Front sind die Scharfschützen. Davon weiß Stabsunteroffizier Andrii zu berichten. Er ist Gruppenführer in der Stellung „Butowka“, nicht weit von Pisky entfernt. Bis zum Flughafen von Donezk sind es von hier 3,5 Kilometer. Er und seine Kameraden haben sich in einem zerstörten Bergwerk eingerichtet. Von den Förderanlagen ragen nur noch zusammengebrochene und verbogene Eisenträger in den Himmel. Der Förderschacht ist notdürftig mit dünnen Eisenplatten abgedeckt. Darunter geht es 1000 Meter tief senkrecht in die Erde. Im Donbass lagern drei Prozent der weltweiten Steinkohlevorräte. Vor Beginn des Krieges lieferte die Kohle mehr als ein Drittel der in der Ukraine verbrauchten Energie. Heute befinden sich 95 Prozent der Zechen im Separatistengebiet zwischen Donezk und Luhansk. Der Verlust dieser Region ist für die Ukraine auch wirtschaftlich ein enormes Problem.

Stellung „Butowka“: Andrii war hier schon vor sieben Jahren während der Schlacht um den Flughafen Donezk eingesetzt. (Foto: Pramme)

Andrii ist Fallschirmjäger und hat ein Auge auf einen etwa hundert Meter langen Abschnitt südlich des zerstörten Bergwerks. Dort, entlang einer Zufahrt, haben prorussische Scharfschützen freies Schussfeld. Wenn Andriis Gruppe mit Nachschub und Proviant versorgt wird, geben die Kraftfahrer Gas, um diesen Abschnitt möglichst schnell hinter sich zu lassen. Die Sniper können jeden Moment schießen. „Nicht immer sind sie da, aber wir müssen immer mit ihnen rechnen“, sagt Andrii. Im Schussfeld rostet am Wegesrand das Wrack eines beschossenen Lastwagens. Dahinter haben Kameraden von Andrii einen Fahnenmast aufgestellt und die Flagge der Kompanie gehisst. Auf ihr steht das Motto der Einheit: „Schmerz geht vorüber. Stolz bleibt.“ Ein dauerhafter „Gruß“ an die prorussische Seite.

Schon bei Kriegsausbruch war Andrii hier. Er hat damals als Teil der an diesem Abschnitt eingesetzten Brigade das Bergwerk aus der Hand der Separatisten befreit. Es kam zu langanhaltenden Feuergefechten. Der Auftrag seiner Kompanie lautete, Verwundete aus dem Flughafen von Donezk zu bergen, einem der Hotspots des Kriegs. Der Flughafen sollte den Separatisten eigentlich als wichtiger logistischer Knoten dienen. Sie besetzten ihn im Mai 2014, woraufhin ihn ukrainische Fallschirmjäger, unterstützt durch die Luftwaffe, zurückeroberten. Im Herbst 2014 kam es zur zweiten Schlacht um den Flughafen, bei dem die Freischärler und ukrainische Truppen zum Teil in ein und demselben Terminal erbittert gegeneinander kämpften. Artillerie legte den Airport schließlich in Schutt und Asche, die Ukrainer zogen sich zurück.

Jahrelange Fronterfahrung

Für Andrii waren es prägende Erlebnisse. Er wurde bei den Gefechten durch Splitter verwundet, kämpfte aber trotz der Verletzung noch fünf Stunden weiter. Heute, mehr als sechs Jahre und insgesamt sieben jeweils achtmonatige Dienste an der Front später, wirkt er reif und abgeklärt. Er hat mit seinen 26 Jahren mehr Fronterfahrung als manch Ranghöherer oder Lebensälterer in den ukrainischen Streitkräften. Was das Soldatenhandwerk angeht, macht ihm keiner was vor. Die Sinnhaftigkeit seines Dienstes ist, so sagt er, für ihn klar, ebenso wie für Maksym in Pisky: „Ich stehe hier für mein Vaterland.“ Und dann ist da noch seine Freundin daheim im 260 Kilometer entfernten Dnipro, dem früheren Dnjepropetrowsk. Ihr hat er versprochen, heil wiederzukehren. Jedesmal, aus jedem Fronteinsatz. Das wird diesmal allerdings noch dauern; Andrii hat seine aktuelle Rotation erst vor einem Monat begonnen. Sieben lange und potenziell tödliche Monate liegen noch vor ihm.

Näher an die prorussischen Einheiten kommt man nirgends als in der Stellung „Skelett“. Der Name der Stellung ist hier Programm. Er leitet sich von den skelettartigen Ruinen einer Fabrikanlage am Rande von Awdijiwka ab. Awdijiwka ist – ähnlich wie der Flughafen von Donezk – ein Symbol dieses Krieges. Im Juli 2014 geriet die Stadt mit ihren damals 32.000 Einwohnern in die Hand der Separatisten. Ukrainische Truppen konnten sie zurückerobern. Etwa die Hälfte der Bevölkerung wurde evakuiert, der Rest wollte bleiben.

Die Kriegsschäden sind unübersehbar: Granateinschläge in einem großen Wohnblock, die stillgelegte Straßenbahnlinie, die einst nach Donezk führte. Awdijiwka war eine Schlafstadt am Rande der Industriemetropole. Heute ist es Frontstadt. Gleich hinter den Wohngebieten haben Soldaten die Ausfallstraße nach Donezk mit Panzersperren abgeriegelt. Für die verbliebenen Bewohner ist die Welt hier zu Ende.

Besonders umkämpft war das Gewerbegebiet, in dem sich nun die Stellung „Skelett“ befindet. 2016 griffen prorussische Einheiten erneut Awdijiwka an und nahmen diesmal den Weg über Montageanlagen und Lagerhallen. Im Januar 2017 eskalierten die Kämpfe, auch Artillerie wurde eingesetzt. Jetzt, im Spätsommer 2021, herrscht gespannte Ruhe. Die Nervosität ist mit Händen zu greifen, als Oberleutnant Myhailo und einige seiner Soldaten vom Gefechtsstand an der rückwärtigen Seite des Fabrikkomplexes in Reihe durch die Halle nach vorne pirschen. Früher wurden hier Maschinenteile produziert, jetzt wackeln die maroden Wände und können jeden Moment einstürzen. Der Boden ist mit Schutt überzogen. Immer wieder wendet sich Myhailo um und legt den Zeigefinger auf die Lippen. Alle sollen still sein. Die Separatisten belauschen die Ruine und ziehen aus den Geräuschen ihre Schlussfolgerungen über die Bewegung der Soldaten.

Im vorderen Teil der Fabrikruine erreicht die Gruppe ihr Ziel. In ein Granatloch in der Wand in etwa zwei Meter Höhe ist eine Optik eingebaut. Auf einem hölzernen Podest sitzt darunter der diensthabende Soldat, der den Auftrag hat, die Szenerie zu beobachten. Ungeübte sehen beim Blick durch das Okular nur Gestrüpp. Myhailos Männer hingegen erkennen hingegen ganz genau die prorussische Stellung, von der aus man genauso interessiert zur ukrainischen Seite schaut. 70 Meter entfernt liegen die beiden feindlichen Stellungen, mehr nicht.

Sitzkrieg, der jederzeit eskalieren kann

Es ist ein Sitzkrieg, der jederzeit eskalieren kann. „Bis vor zwei Wochen wurden wir hier tagelang provokativ beschossen“, berichtet Myhailo. Auf die Frage, inwieweit die Ukrainer dann zurückschießen, sagt der Kompaniechef: „Das tun wir immer dann, wenn die Angriffe eine direkte Gefahr für unsere Soldaten darstellen.“ Munitionskisten lagern gleich hinter dem Beobachtungspunkt in einem Loch im Hallenboden, für alle Fälle. Die Soldaten tragen an ihren Kalaschnikows einen Aufsatz mit einem Granatwerfer. Die Granate hat eine Reichweite von gut 70 Metern.

Die Frontbeobachter lösen sich alle drei Stunden ab. Ihre Unterkünfte haben sie in derselben Halle, nur weiter entfernt von der Front: selbst gezimmerte Bretterverschläge, in denen man sich kaum umdrehen kann. Die Luft steht und stinkt. Jeweils sechs Mann schlafen dort während ihrer achtmonatigen Rotation auf harten Pritschen übereinander. Die in einer Schüssel aus Blech per Hand gewaschene Unterwäsche und die Uniformteile trocknen im Winter über einem kleinen Ofen, der mit Holz befeuert wird. Es ist der einzige beheizbare Raum weit und breit. Im Winter fallen die Temperaturen in dieser Gegend weit unter Null Grad, der Schnee liegt monatelang Meter hoch. In der Nähe des Kompaniegefechtsstandes haben sie für den Winter vorgesorgt: Dort stapelt sich das gehackte Brennholz bis unter die Decke.

Wenn die ukrainischen Soldaten aus dem Dienst ausscheiden, gibt es keinen Reservistenverband, durch den sie in Übung gehalten werden können. Das aber wäre angesichts der militärischen Situation wichtig. Es könnte sich ändern. Der Präsident des deutschen Reservistenverbandes, Patrick Sensburg, war kürzlich zu politischen Gesprächen in Kyjiw. Dort kann man sich den Aufbau eines entsprechenden Verbandes vorstellen und würde sich den VdRBw als Partner wünschen.

Auch nach 700 Tagen Haft in prorussischen Gefängnissen im Donbass wirkt Igor Kozlowskyi ungebrochen. (Foto: Pramme)

700 Tage illegal in Haft

Ukrainer, die es in diesem Krieg von den Separatistengebieten auf die Seite des ukrainischen Kernlands geschafft haben, sind häufig für ihr Leben gezeichnet von dem, was sie in den Bezirken Donezk oder Luhansk erlebt haben. Einen von ihnen hat loyal in Kyjiw im „Zentrum für bürgerliche Freiheiten“ getroffen, einer Nichtregierungsorganisation, die sich unter anderem um politische Gefangene im Donbass und auf der Halbinsel Krim kümmert.  Der heute 67 Jahre alte Geschichtsprofessor Igor Kozlowskyi aus Donezk war 2016 und 2017 insgesamt 700 Tage unschuldig in der Haft der Separatisten.

Aufgrund einer Denunziation brachen bewaffnete Männer zu Jahresbeginn 2016 in seine Wohnung in Donezk ein und verschleppten ihn in ein irreguläres Gefängnis im Keller einer Fabrik. „Es war ein Raum ohne Fenster und Möbel, überfüllt mit Gefangenen. Ich wusste nicht, was mir vorgeworfen wurde. Wir bekamen einmal am Tag etwas zu essen. Zweimal am Tag – morgens um acht und abends um acht – durften wir auf die Toilette“, erinnert sich Kozlowskyi.

Nach mehreren Tagen holte man ihn aus der Zelle und führte ihn mit einem Sack über den Kopf in Handschellen in einen Verhörraum. Es sollte ein Tag werden, den er sein Leben lang nicht mehr vergessen wird. „Es begann damit, dass sie mich fragten, ob ich jemals gefoltert wurde. Ich verneinte. Und dann begannen sie mit der Folter. Sie schlugen auf mich ein, benutzten Elektrokabel, nahmen eine Scheinhinrichtung vor. Stundenlang verprügelten sie mich. Sie wechselten sich ab, arbeiteten in Schichten. Irgendwann sagten sie mir, warum ich hier sei. Angeblich hätte ich die Maidan-Proteste 2014 unterstützt.“

Keine Angst vor dem Tod

Am Ende dieses Tages, dessen Datum Kozlowskyi nicht mehr weiß, warfen sie ihn wieder in die Zelle. Mehr tot als lebendig schaute er auf seinen Körper, der von Kopf bis Fuß blutig und mit Blutergüssen übersät war. Seit diesem Tag ist er gehbehindert. Aber die Schergen haben ihn nicht brechen können. „Einer meiner Mitgefangenen, der auf dem nackten Boden kauerte, fragte mich, warum ich lächelte“, erinnert sich der Historiker. „Ich konnte nicht antworten, weil mein Mund ganz und gar trocken war, ich hatte den ganzen Tag unter der Folter keinen Schluck Wasser bekommen. Aber ich beantwortete seine Frage in meinen Gedanken. Ja, ich lächelte tatsächlich. Ich tat es, weil ich feststellte, dass ich keine Angst vor dem Tod hatte. Das bedeutete, dass ich über meinen Folterknechten stand. Sie konnten mir nichts anhaben.“

Nach einem Monat kam er in ein Straflager im Donbass und musste dort monatelang in Isolationshaft ausharren. „Es gab ein winziges Fenster mit kaputtem Glas, durch das es erst schneite und dann hineinregnete. Und es gab Ratten.“ Um in der Einzelhaft nicht den Verstand zu verlieren und um überhaupt eine menschliche Stimme zu hören, fand der Geschichtsprofessor für sich eine Möglichkeit zu überleben: „Ich begann den Ratten Vorlesungen zu halten.“ Schließlich steckten sie ihn in eine Zelle mit Kriminellen. „Diese Kriminellen besaßen mehr Menschlichkeit als unsere Wärter. Einige von ihnen hatten Handys. Sie liehen mir eins, sodass ich endlich meine Frau anrufen und ihr sagen konnte, dass ich noch lebe.“

„Brauchen dich für den Austausch“

Seine Schergen holten ihn eines Tages wieder mit einem Sack über den Kopf aus der Zelle und gaben ihm im Verhörraum einen Metallgegenstand in die gefesselten Hände. Er sollte erraten, was es war. Er wusste es nicht. Es war eine Granate. „Man sagte mir, man habe diese Granate in meiner Wohnung gefunden, zwischen meinen Büchern.“ Kozlowskyi lacht. „Ich besaß in Donezk mehr als zehntausend Bücher. Zwischen die Buchrücken passte kein Blatt Papier mehr, geschweige denn eine Granate.“ Auch dieser Vorwurf war also aus der Luft gegriffen. Ein Agent des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB nannte ihm irgendwann den wahren Grund seiner Inhaftierung: „Wir brauchen dich, damit wir einen der Unsrigen aus ukrainischer Haft austauschen können.“ Und so kam es auch. Am 27. Dezember 2017 wurde Kozlowskyi ausgetauscht. Heute lebt er mit seiner Frau in Kyjiw und arbeitet für das „Zentrum für bürgerliche Freiheiten“. All seine Habe, vor allem auch seine Bücher, hat er in Donezk zurücklassen müssen.

Kozlowskyi wirkt heiter und versöhnt mit seinem Schicksal. Auf die Frage von loyal, was ihn in der Haft aufrechtgehalten habe, sagt er ohne nachzudenken: „Ich habe mir die Pflicht auferlegt, zu meiner Frau und zu meinem Sohn zurückzukehren. Ich war nicht nur für mich da, sondern auch für sie. Das hat mir Kraft gegeben. Ich sah Mitgefangene, die haben Selbstmord begangen, weil sie verzweifelt waren. Die Verpflichtung, zu meiner Familie zurückzukehren, hat mich überleben lassen.“

Nach Angaben der Juristin Oleksandra Matvijchuk, die die Menschenrechtsorganisation leitet, ist Kozlowskyis Schicksal kein Einzelfall. „Wir gehen davon aus, dass seit Kriegsbeginn rund 10.000 Menschen im Donbass und auf der Krim illegal festgehalten und auch gefoltert worden sind. Aktuell wissen wir konkret von 122 Fällen auf der Halbinsel Krim und von 283 im Donbass.“

Propagandakrieg

Neben dem Krieg mit Waffengewalt tobt um die Separatistengebiete auch eine Propagandaschlacht. Liubov Tsybulska leitet in Kyjiw das „Zentrum für strategische Kommunikation“. Die ehemalige Zeitungs- und Fernsehjournalistin analysiert mit sieben Mitarbeitern die russische Propaganda und versucht, mit eigenen Narrativen dagegenzuhalten. Dabei muss sie auf drei Ebenen arbeiten, wie sie im Gespräch mit loyal sagt: Es geht zum einen um die operative russische Propaganda entlang der Front, zum anderen um die Propaganda Russlands in der Ukraine und schließlich um strategische Propaganda aus Moskau, um die internationale Meinung zu beeinflussen.

Die Journalistin Liubov Tsybulska ist die ukrainische Waffe im Propagandakrieg mit den Russen. (Foto: Pramme)

Seit 2017 setzt Russland Propagandaeinheiten ein. Eine besonders perfide Methode schildert Tsybulska: „Entlang der Front werden WLAN-Hotspots aufgebaut, in die sich unsere Soldaten einwählen können, um mit ihren Angehörigen zu kommunizieren.“ Das sei eine Versuchung. „Die Russen eignen sich dann die Kontaktdaten aus den Handys der Soldaten an und verschicken an die Mütter, Freundinnen und Verwandte Nachrichten, in denen sie ankündigen, dass die Söhne, Verlobten und Freunde an der Front sterben werden, wenn sie nicht ihren Dienst aufkündigen. Das soll die Moral unserer Truppe untergraben.“

Die Beeinflussung der ukrainischen Öffentlichkeit läuft nicht selten über das Mittel der Gräuelpropaganda. Zum Beispiel, als die prorussische Seite vor einigen Monaten behauptete, ein kleiner Junge sei im Donbass durch eine ukrainische Drohne getötet worden. Tsybulska: „Diese unbewiesene Behauptung ging dann viral.“ Schon 2016 haben ukrainische Stellen das russische Fernsehen in der Ukraine abgeschaltet. Entlang der Front gelingt es den prorussischen Propagandisten immer wieder, sich auf die ukrainischen Radio- und Fernsehkanäle aufzuschalten, sie „umzudrehen“ und auf deren Frequenzen ihre eigenen Sendungen auszustrahlen.

Putin beteiligt sich an strategischer Propaganda

Auf internationaler Ebene arbeiteten die Russen, so Tsybulska, an einer Diskreditierung der ukrainischen Position, indem sie Schlüsselbegriffe wie „Faschisten“ oder „Srebrenica“ in die Welt setzen. Der russische Präsident Wladimir Putin selbst beteiligt sich an dieser strategischen Propaganda; so schrieb er kürzlich einen weltweit beachteten Artikel, in dem er behauptete, Russen und Ukrainer seien eigentlich ein Volk, und Russland sei der legitime Nachfolger des mittelalterlichen Reichs des Kiewer Rus. Tsybulska und ihr Team versuchen, die russischen Fake-News zu entlarven und mit Informationen zu kontern. Deutungshoheit ist im modernen Krieg ein Erfolgsfaktor. Tsybulskas Mittel sind indes begrenzt. „Wir sind nicht Russia Today“, sagt sie.

Derweil ist 750 Kilometer südöstlich von Kyjiw der Gefreite Maksym wieder auf Patrouille in der zerstörten Stadt Pisky. In der Ruine der Schule bleibt er plötzlich stehen, weil er ein verdächtiges Geräusch gehört hat. Er lauscht. Es ist das Surren einer Drohne. Dann schüttelt er den Kopf. Keine Gefahr. Er hat ein Ohr dafür. Später stellt sich heraus, dass es sich um eine Beobachtungsdrohne der OSZE gehandelt hat. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa überwacht die Kontaktlinie. Schwere Waffen dürfen nicht näher als 30 Kilometer an die Front gebracht werden. Im selben Moment hört Maksym aus ein paar Kilometer Entfernung Gewehrschüsse. An dieser Front kann jederzeit scharf geschossen werden.

*loyal nennt aus Sicherheitsgründen nur die Vornamen der Soldaten, die mit uns gesprochen haben

Verwandte Artikel
loyal

Unendliche Weiten – nähergerückt

Die USA haben mit einer eigenen Teilstreitkraft, der Space Force, auf die wachsende militärische Bedeutung des erdnahen Weltraums reagiert. Wenig...

19.11.2024 Von Sidney E. Dean
loyal

Fahren, Funken, Feuern

Die Technische Schule des Heeres in Aachen wird von der Zeitenwende gefordert. loyal hat sich vor Ort ein Bild gemacht....

15.11.2024 Von Björn Müller
loyal

"Wir wissen, welche Gefahr von Russland ausgeht"

Lettland ist das etwas stillere der drei baltischen Länder. Während Litauen im Zusammenhang mit der kommenden deutschen Brigade in den...

12.11.2024 Von André Uzulis