Tickende Zeitbombe
Die Anschläge in Iran, Pakistan und Moskau zeigen: Der Islamische Staat (IS) ist nicht besiegt. Die Terrororganisation dürfte weiter erstarken. In den IS-Internierungscamps in Nordsyrien wächst in Massen radikaler Nachwuchs heran.
Im Jahr 2019 fiel Baghuz, die letzte Hochburg der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) an der syrisch-irakischen Grenze. Die Gefahr durch den IS schien gebannt. Doch seine Ideologie blieb am Leben – und so auch seine Anhänger. „Die Gefahr durch den IS schätze ich so hoch ein wie schon lange nicht mehr“, sagt Khaled Davrisch, Vertreter der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland im Gespräch mit loyal. Hinter der Bezeichnung verbergen sich unter anderem die autonomen Kurdengebiete Nordsyriens, auch bekannt als „Rojava“. Die jüngsten Ereignisse geben Davrisch Recht: Im Januar starben 84 Menschen bei einem Anschlag des IS auf eine Trauerveranstaltung in der iranischen Stadt Kerman. Einen Monat später verübte der IS Bombenanschläge bei den Parlamentswahlen in Pakistan. Ende März tötet der IS-Ableger „Islamischer Staat in der Provinz Khorasan“ mehr als 140 Menschen bei einem Konzert in Moskau.
Die zentrale Ressource des IS – radikalisierte junge Männer – erneuert sich vor allem in Nordsyrien. Rund 60.000 Menschen, IS-Kämpfer, ihre Frauen und Kinder, leben in 27 Gefängnissen und zwei Internierungslagern in der kurdischen Autonomieregion in Nordostsyrien, so die UN. Seit Jahren warten sie auf einen Gerichtsprozess, doch viele Länder weigern sich, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. „In Nordostsyrien haben wir ein enormes Potenzial an IS-Kämpfern, Männer und Frauen. Wenn die freikommen, dann stehen wir vor dem nächsten Kalifat“, sagt Davrisch.
Allein im Camp al-Hol, einem der beiden Internierungslager an der syrisch-irakischen Grenze, befinden sich 50.000 Frauen und Kinder. Viele der Lagerinsassen sind IS-Familien oder stammen aus Gebieten, die vom IS kontrolliert wurden. Sie dürfen das Camp nicht verlassen und leben dort bereits seit einigen Jahren in De-facto-Gefangenschaft. Menschen aus über 70 Staaten sind im Camp al-Hol vertreten, das sich mittlerweile zu einem Radikalisierungshotspot entwickelt hat. Männliche IS-Kämpfer sind in separaten Haftanstalten untergebracht. Die Lager werden von der Staatengemeinschaft über die Vereinten Nationen finanziert. Die Sicherheitsverantwortung liegt bei der Autonomieregierung und den Streitkräften der Syrian Democratic Forces (SDF).
„Diese Struktur, dass wir radikalisierte Menschen aus vielen Ländern zusammensperren, kennen wir schon aus dem Gefängnis Camp Bucca im Irak“, so Hannah Neumann zu loyal. Neumann ist Abgeordnete für die Grünen im Europaparlament und dort Vorsitzende der Delegation für die Beziehungen zur Arabischen Halbinsel. In Camp Bucca hielten die USA von 2003 bis 2009 Kriegsgefangene, Zivilinternierte und Sicherheitshäftlinge fest. Zahlreiche IS-Anführer wie Abu Bakr al-Baghdadi und Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi, waren in Camp Bucca inhaftiert. Sie nutzten die Zeit in Gefangenschaft, um an der Entwicklung der Organisation zu arbeiten, sich zu vernetzen und Mitglieder zu rekrutieren.
2020 besuchte Neumann al-Hol. Die Zustände im Camp empfand sie als alarmierend. „Die Lage unterscheidet sich eigentlich nicht von Gefängnissen und Camps, die wir im Irak gesehen haben. Ich wundere mich, dass da nicht 1.000 Alarmglocken läuten“, so Neumann. Es gab bereits zahlreiche Versuche, Terroristen aus der Gefangenschaft zu befreien. Im Januar 2022 kam es zu einer Revolte im Gefängnis Ghwajran im Nordosten Syriens, angeführt von IS-Kämpfern. Kommandos der Terrortruppe unterstützten den Aufstand durch Attacken von außen. Eine unbekannte Zahl inhaftierter IS-Terroristen konnte fliehen. Erst mit Unterstützung der Amerikaner waren die kurdischen Streitkräfte in der Lage, die Revolte in dem Gefängnis, in dem mehrere tausend IS-Anhänger einsitzen, unter Kontrolle zu bringen.
Camps als Hotspots der Radikalisierung
Die humanitäre Lage in den Camps und Gefängnissen ist katastrophal. Frauen und Kinder hausen in al-Hol bereits seit Jahren in behelfsmäßigen Zelten, haben nur einen begrenzten Zugang zu Wasser, unzureichende Sanitäreinrichtungen und eine schlechte Gesundheitsversorgung. Internationale Hilfsorganisationen haben kaum noch Zugang zu ihnen. Die Grenzen des Camps werden von den SDF kontrolliert, doch im Lager selbst herrscht der IS. „Das Lager wird von den Lagerbewohnern selbst organisiert und verwaltet“, erläutert Neumann. Innerhalb des Lagers gibt es eine klare Rangordnung. Frauen, die sich vom IS abwenden, werden massiv unter Druck gesetzt. „Die meisten im Camp sind radikal. Und wenn sie es vorher noch nicht waren, dann bringen sie die Zustände in dem Camp dazu, sich zu radikalisieren.“
Jugendliche werden verheiratet, sobald sie geschlechtsreif sind, um die nächste Generation IS-Kämpfer heranzuziehen. Etwa 60 Geburten pro Monat soll es in al-Hol geben. Mittlerweile leben rund 29.000 Kinder in dem Camp. Der Nachwuchs wird von klein auf indoktriniert und radikalisiert. Die meisten Kinder im Camp kennen nichts anderes als die Weltsicht der Terroristen. „Kinder, die ihr ganzes Leben in dieser radikalen Umgebung verbracht haben, sind später noch radikaler als die Generation vor ihnen“, warnt Davrisch.
Die Lage dieser Kinder ist besonders kritisch. Sie leben unter ständiger Androhung von Gewalt und haben nur begrenzten oder gar keinen Zugang zu Bildung. Im April 2024 berichtete die Hilfsorganisation Amnesty International, dass geschlechtsreife Jungen von ihren Müttern getrennt werden. Die Erklärung der Autonomieregierung von Nord- und Ostsyrien ist, dass sie so vor sexuellen Übergriffen geschützt würden. Der wahre Grund ist sicherlich, dass die Autonomieregierung deren Radikalisierung entgegenwirken will. Dazu wurden Jungen, mit denen Amnesty International sprach, bisweilen sogar in kurdischen Gefängnissen inhaftiert. Unter von Amnesty International befragten Jungen war der jüngste zum Zeitpunkt seiner Abschiebung 13 Jahre alt. Lokale kurdische Behörden geben an, dass sie bereits Kinder im Alter von elf Jahren von ihren Familien trennen. Nach einer Reise durch die kurdische Autonomieregion im Juli 2023 erklärte die irische UN-Sonderberichterstatterin Fionnuala Ní Aoláin, dass die „massenhafte, unbefristete und willkürliche Inhaftierung von Kindern, insbesondere Jungen“ völlig inakzeptabel sei.
Auch Davrisch sieht die Inhaftierung von Kindern aus Lagern mit IS-Internierten kritisch. „Die Kinder können nichts dafür, dass sich ihre Eltern dem IS angeschlossen haben. Sie haben eine bessere Zukunft verdient, aber wir brauchen Programme zu ihrer Deradikalisierung.“ Für Davrisch steht vor allem die internationale Gemeinschaft in der Verantwortung. Der Autonomiebehörde Nord-und Ostsyriens fehlen die Ressourcen, um die radikalisierten Jugendlichen zu betreuten und zu begleiten. Denn die Region ist am Boden, die Wirtschaft ist zerstört, und die Menschen sind perspektivlos. Im August 2023 waren laut Amnesty International deshalb nur rund 200 Jungen in Rehabilitationszentren untergebracht. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR befanden sich Ende März 769 Jungen zwischen 12 und 17 Jahren ohne Gerichtsverhandlung in kurdischer Haft.
Türkische Angriffe destabilisieren die Region
Nicht nur der Bürgerkrieg hat Syrien ins Chaos gestürzt, sondern auch der andauernde Beschuss der mehrheitlich von Kurden dominierten Autonomieregion durch die Türkei. „Wenn die Türkei die Kurden weiter schwächt und so die Region destabilisiert, spielt sie dem IS in die Hände“, sagt Davrisch. Immer wieder greift die Türkei die kurdischen Gebiete an und trifft dabei nicht nur militärische Ziele. Zahlreiche Angriffe auf die Energieversorgung und die zivile Infrastruktur katapultieren die Region in eine immer tiefere humanitäre Krise. „Mittlerweile ist die Infrastruktur in Nordostsyrien fast komplett zerstört. Das ist ein finanzieller Schaden in Milliardenhöhe“, so der Deutschland-Vertreter der Autonomiebehörde.
Sollte sich der Nordosten Syriens weiter destabilisieren und so die Ressourcen für einen Schutz der Gefängnisse und Camps schrumpfen, stünde einer Rückkehr des IS nichts im Wege. Um ein solches Szenario zu verhindern, braucht die Autonomieregierung Unterstützung durch ihre internationalen Partner. Zwar haben einige Staaten angefangen, Frauen und Kinder zurückzuholen. Laut der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland haben 38 Länder rund 8.000 Repatriierungen durchgeführt. 6.000 Rückführungen waren von Minderjährigen. Bis Ende 2022 hat die Bundesregierung 26 Frauen, 76 Kinder und einen Heranwachsenden zurückgeholt, dabei sind ingesamt seit 2011 laut Verfassungsschutzbericht über 1.150 Personen aus Deutschland zum IS gereist. Das Auswärtige Amt schreibt dazu, dass sich die Bemühungen der deutschen Regierung auf die Rückholung deutscher Kinder fokussiere. Diese ist nur mit Zustimmung und gleichzeitiger Rückholung der Mütter möglich. Doch was ist mit den Männern? „Die Männer werden sich nicht in Luft auflösen“, gibt Neumann zu bedenken. „Wir weigern uns, unsere eigenen Staatsbürger zurückzunehmen, die in anderen Ländern im Namen einer Terrororganisation gemordet haben. Stattdessen schiebt man das Problem an Menschen ab, die schwer traumatisiert sind und in einer Region leben, die sich immer noch im Bürgerkrieg befindet.“
Aktuell tragen die kurdischen Sicherheitskräfte die Verantwortung für die höchste Konzentration inhaftierter Terroristen weltweit. Viele der in Nordostsyrien Inhaftierten haben schwere Kriegsverbrechen begangen. Doch es gibt auch Menschen, die sich nur in IS-Gebieten aufhielten, weil sie Familienangehörige begleiteten. Amnesty International geht sogar davon aus, dass sich in den Lagern auch Frauen befinden, die Opfer von Menschenhandel sind und mit IS-Kämpfern zwangsverheiratet wurden. Da die Autonomieregion in Nord- und Ostsyrien nicht anerkannt ist, haben juristische Urteile, die dort gesprochen werden, keine internationale Gültigkeit. Hinzu kommt: Radikale IS-Islamisten zurückzuholen, ist für europäische Regierungen nichts, womit sie vor dem Wähler punkten können. Großbritannien entzog einer Britin, die sich dem IS in Syrien anschloss, die Staatsbürgerschaft. So fristen die Menschen in den Gefängnissen und Camps ihr Dasein unter widrigsten Umständen und warten seit Jahren auf eine Verhandlung. „Die einzige juristisch saubere Variante wäre, dass alle Länder ihre Kämpfer zurücknehmen und individuell vor Gericht stellen“, so Neumann. Hier sieht sie auch Deutschland in der Verantwortung. „Wir können nicht die Hände in den Schoß legen und darauf hoffen, dass wir die Gefängnisse in den nächsten 300 Jahren verwalten können.“ Da viele Länder sich weigern, IS-Kämpfer zurückzunehmen, steht einem Wiedererstarken der Terrororganisation kaum etwas im Weg.
Kim Berg ist Redakteurin bei der Fazit Communication in Frankfurt am Main.