Tod in Baghlan
Während eines Gefechts mit den Taliban am Karfreitag 2010 fielen in der nordafghanischen Provinz Kunduz drei deutsche Soldaten. Wenig später kamen vier weitere in der Nachbarprovinz Baghlan ums Leben. Im Gegensatz zu Kunduz fanden die Operationen in Baghlan kaum Beachtung in den Medien. Ilja Sperling war als Scharfschützen-Truppführer an Ort und Stelle. Exklusiv für loyal hat er jetzt seine Erlebnisse in Baghlan aufgezeichnet. Der Text ist ein Dokument der militärischen Zeitgeschichte.
Für die umfangreiche Berichterstattung über die Geschehnisse in Kunduz 2010 gibt es gute Gründe: Journalisten konnten das dortige Feldlager per Hubschrauber erreichen. Es existierte Videomaterial von Helmkameras der am Kunduz-Gefecht beteiligten Soldaten. Bundeswehr-Medien und das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr bereiteten in mehrseitigen Berichten das Gefecht auf, das als „Karfreitagsgefecht“ in die Geschichte einging. Die Operationen der Bundeswehr in Baghlan fanden hingegen kaum Beachtung. Als Scharfschütze und Panzergrenadier war ich dabei und möchte mit diesem Bericht zeigen, wie es zu den Gefallenen in Baghlan kam.
Hintergrund für die Operationen in Baghlan war die „Surge“ genannte kurzfristige Truppenaufstockung um 30.000 US-Soldaten, die der damalige Präsident Barack Obama im Spätherbst 2009 befahl. Das Ziel: Die zügige Stabilisierung des Hauptkriegsschauplatzes Süd-Afghanistan, um inmitten der Weltwirtschaftskrise den US-Truppenabzug aus dem kostenintensiven und in den Vereinigten Staaten unbeliebten Krieg einzuleiten. Doch das amerikanische Kalkül ging nicht auf. Den USA fiel es immer schwerer, ihre Truppen in Süd-Afghanistan über die etablierte Pakistan-Route vom Seehafen Karatschi aus zu versorgen. Ihre geleasten Lastwagen wurden immer öfter überfallen. Später entschied Pakistan sogar, als Vergeltung für US-Drohnenangriffe im eigenen Land die wichtige Versorgungsroute zeitweise zu sperren. Das machte den Landweg von Nord-Afghanistan durch den Kunduz-Baghlan-Korridor im deutschen Verantwortungsbereich zur wichtigsten Versorgungslinie für die US-Offensive im Süden.
In der Folge intensivierten die Taliban auch ihre Attacken im Norden. Die Schnelle Eingreiftruppe Quick Reaction Force (QRF) im ISAF-Regionalkommando Nord, eine Art robuste „Feuerwehr“ gegen Angriffe, wurde seit 2008 von der Bundeswehr gestellt: zwei Kompanien Infanterie mit ein paar Schützenpanzern Marder. Eine Kompanie bestand aus zwei Zügen Panzergrenadieren mit je 36 Mann aus meinem Panzergrenadierbataillon 401 in Hagenow, ergänzt durch einen Zug Jäger. Die kampfstarken Marder standen für die kommenden Operationen in Baghlan aber nie zur Verfügung, sie blieben stets in Kunduz.
Taliban im „Naherholungsgebiet“
Dort gelang es durch intensive Einsätze, die Taliban zurückzudrängen, aber nicht nachhaltig zu vertreiben. Sie wichen in die Nachbarregion Baghlan aus und dort in ein Vorgebirge am Kunduz-Fluss, an dem die Versorgungsroute nach Süden verläuft. Von diesem „Naherholungsgebiet“, wie wir es nannten (siehe Karte), attackierten sie im Wochentakt Posten der afghanischen Armee und Polizei im Raum Baghlan, töteten Sicherheitskräfte, erbeuteten Fahrzeuge, Ausrüstung und Waffen. In den wöchentlichen Briefings deutete sich an, dass das kleine Trainingskontingent für die Afghanische Nationalarmee (ANA) im nahen Pol-e-Khomri aus ungarischen und amerikanischen Soldaten der Lage nicht mehr gerecht wurde. Deshalb erhielt die Schnelle Eingreif-truppe im Januar 2010 den Auftrag, diese Gegend in der Baghlan Provinz zu erkunden. Dies sollte als Grundlage zum Aufbau einer verstärkten ISAF-Präsenz mittels vorgeschobener Außenposten dienen.
Hier zeigte sich bereits eine Schwäche der Bundeswehr-Operationsführung: ein schlechtes Lagebild. So sollten wir den Vorposten Khilagay südlich von Pol-e-Khomri besetzen. Das Eintreffen in der Basis war irritierend. Uns hatte man im Glauben gelassen, im Vorposten gebe es nur einen kleinen Trupp der afghanischen Armee. Doch Khilagay war bereits von starken ANA-Kräften besetzt. Auch ein Trupp amerikanischer Spezialkräfte der Taskforce 373 befand sich an Ort und Stelle. Deren Hauptauftrag war es, Führungskräfte der Taliban zu jagen und zu töten. Wir mussten unsere Zelte laut Befehl mit Schutzweste und Helm aufbauen, obwohl wir uns in einem bereits voll ausgebauten Lager befanden. Offensichtlich war die Bundeswehr-Führung über die Situation vor Ort nicht im Bilde. Diese Unklarheit über die Lage sollte uns auch über die folgenden drei Monate Aufenthalt in Baghlan begleiten.
Die nächste größere Überraschung war die Operation Taohid zur Einnahme von drei Brücken über den Kunduz-Fluss, die für Anfang März angekündigt wurde. Statt nur zu erkunden, hatten wir auch eine größere Offensiv-Operation durchzuführen. Mit Afghanen, Ungarn und den US-Spezialkräften galt es, die Brücken in Baghlan zu nehmen. Dann sollten wir Brückenköpfe durch ausgebaute Kampfstellungen „härten“. Ziel war es, die Ausfalltore der Taliban vom „Naherholungsgebiet“ auf die Nachschubroute abzuriegeln. Skandinavische ISAF-Einheiten hatten parallel dazu den Auftrag, die Taliban im Gebirgszug niederzukämpfen.
Kein klares Bild über die Operationen
Ein klares Bild über die Agenda unserer Operationen hatten wir damals nicht. Unsere Order erhielten wir von unserem obersten Vorgesetzten vor Ort, einem Major in Khilagay. Doch ohne Angaben zur Verweildauer und den Absichten vor Ort. Wir hatten den Eindruck, dass die Operationsführung nicht bei der QRF lag, sondern an anderer Stelle und wir nur Erfüllungsgehilfen waren. Der damalige Kommandeur der Schnellen Eingreiftruppe – ein Oberst – hatte bei uns den Spitznamen „Grußonkel“, weil wir ihn während der gesamten Zeit nur aus der Ferne winkend zu Gesicht bekamen.
Generell wirkte das Agieren unserer obersten Einsatzführung wenig zielgerichtet. Neben der Vorbereitung auf die Operation Taohid und Quick-Reaction-Bereitschaft war unsere Eingreiftruppe Mädchen für alles im Regionalkommando Nord. Immer wieder wurden Züge, manchmal auch die gesamte Kompanie, für andere Aufträge abgezogen. Etwa für eine Tour in einen von ISAF-Kräften seit Sommer 2009 nicht mehr betretenen Distrikt im äußersten Norden. Dort sollten wir den Besuch eines US-Generals in einer Polizeistation absichern. Bundeswehr-Kräfte aus Kunduz als auch aus Feyzabad wären zügiger dort gewesen. Uns kostete die gesamte Tour drei volle Tage samt Mörserbeschuss und rund einem Dutzend neu verlegter Sprengfallen auf dem ursprünglich anvisierten Abmarschweg. Oft holten wir Fernmeldekräfte ab, um sie im Feld an Einheiten zu übergeben. Es blieb abwechslungsreich, aber ohne roten Faden mit klarer Führung über die Zug-Ebene hinaus.
Einen Großteil der Zeit verbrachten wir im Feld. Zum Schlafen bildeten wir Wagenburgen oder schliefen gleich auf unseren Dingos. Wegen ständig neuer Aufträge ließ sich die maximale Einsatzdauer von 72 Stunden vor einer Ruhephase in einer Basis fast nie einhalten. Wir musste sie mit Tricks „zurücksetzen“, indem wir zum Beispiel an vereinbarten Rendezvous-Punkten im Nirgendwo Wasser und Verpflegung direkt vom Versorgungs-LKW aufstockten. Es dauerte über einen Monat, bis wir in der vorgeschobenen Operationsbasis Khilagay mit mehr als nur Wasserflaschen duschen konnten. Erst Mitte Februar kamen ein zur Duschstation umfunktioniertes ABC-Reinigungszelt und Dixie-Klos. Über dieselbe Zeit ernährten wir uns über EPA-Tagesrationen. Das hochwertige Gruppen-EPA zum Selberkochen gab es nur in Kunduz. Wir begannen also früh, uns mit Gaskochern und lokalen Lebensmitteln zu versorgen. Ebenso mit afghanischen SIM-Karten. Mit Letzteren konnten wir günstiger SMS nach Hause schreiben als über den Rahmenvertragspartner der Bundeswehr, dessen Dienste auch nur in den deutschen Feldlagern funktionierten. Das Hauptkommunikationsmittel war allerdings ein alter MI-8 Hubschrauber, der ab und an Wäsche und unsere Briefe samt dem abgezählten Porto-Kleingeld abholte.
Die Operation Taohid zur Einnahme der drei Brücken wurde immer wieder verschoben. Afghanische Soldaten kamen nicht aus dem Fronturlaub zurück, sodass wir „wie bestellt, aber nicht abgeholt“ mit den Ungarn und Amerikanern tagelang am Beobachtungspunkt Nord warteten, einer Anhöhe an der Versorgungsroute. Der OP North wurde in der Folge Ausgangspunkt aller Brücken-Operationen. Erst Ende März kam es zum ersten Versuch, eine Brücke zu nehmen – die „Bashir-Khan-Bridge“. Allerdings mit einem kruden Planungsfehler. Unter Deckung „sweepte“ ein Zug von uns die Zufahrtsstraße. Das heißt, es wurde händisch mit Harken und Minensuchgeräten nach Sprengfallen gesucht – ein stundenlanges Unterfangen. Auf dem Brückenzubringer befand sich jedoch bekanntermaßen ein tiefer Graben. Dieser war schon vor Tagen durch eine Sprengfalle entstanden. Fahrzeuge konnten die Straße also nicht überwinden. Wegen gefluteter Reisfelder neben der Straße, war es unseren schweren Dingos und Radpanzern Fuchs unmöglich, das Hindernis zu umfahren. Pioniergerät und Material zum Auffüllen des Grabens hatten wir aber nicht dabei.
Für den Folgetag wurde ein weiterer Versuch angesetzt, diesmal mit Unterstützung eines Tiefbau-Trosses der Afghanen samt Kies auf einem Anhänger. Befehl vom Zugführer: „Darauf einstellen, dass wir über Nacht bleiben!“ Während die Straße erneut gesweept wurde, grub sich mein Scharfschützentrupp im Straßengraben in der rechten Flanke ein. Unsere Panzeraufklärer im Vorfeld meldeten gegen Mittag Personen in Truppstärke. Die verschwanden in einem Gehöft. Kurz darauf gerieten die sweependen Soldaten von dort aus unter Maschinengewehr-Feuer. Die Verbündeten forderten Luftnahunterstützung an. Mitten im Gefecht erreichte uns plötzlich ein neuer Befehl über Funk: „Alle aufsitzen! Wir weichen aus. Das Einsatzführungskommando fragt sich, was uns einfällt, an offensiven Operationen anderer Streitkräfte teilzunehmen.“ Mir klingt der Satz noch heute in den Ohren. So zogen wir Deutschen uns zurück. Bis zum Abend hörten wir das Gefechte um die Brücke. Genommen wurde sie an jenem Tag nicht.
Stattdessen setzten wir nun auf die „Roman-Bridge“ an, nur rund zwei Kilometer vom OP North entfernt. Dabei riegelten wir eine kleine Ortschaft vom Operationsgebiet ab, wobei etwas Denkwürdiges passierte. Vor unserer Straßensperre sammelten sich die Dorfbewohner, die von ihren Feldern zurückkehrten. Diese beschwerten sich bei den afghanischen Soldaten. Ein Soldat bat mich, die Anwohner durchzulassen, was ich mit Verweis auf meine Befehlslage ablehnte. Nach einigem Hin- und Her zwischen mir, ihm, seinen Vorgesetzten, meinem Zugführer und den US-Spezialkräften tauchte ein amerikanischer Offizier vor mir auf: „I’m Major Mike, this is my fucking Operation. I’ve talked to your Colonel.“ Er sagte, ich soll die Leute einzeln durchsuchen und dann durchlassen. Nie habe ich mich als deutscher Soldat so geschämt wie in diesem Moment, in dem ein höherer Offizier der Spezialkräfte mir einen Auftrag erteilte. Für unsere Beteiligung an den Operationen war es bezeichnend. Wir fuhren einfach nur mit. Irgendjemand befahl: „Dorthin!“, und irgendjemand anders befahl später: „Nee, doch nicht!“. In unserer „Khilagay-Hymne“ heißt es: „ANA denkt, jetzt geht hier was, denn QRF versteht kein Spaß. Da irrn‘ sie sich, wir ham‘ nicht viel. Die Truppe rollt, auch ohne Ziel.“
Eine Woche später versuchten wir uns dann an der so genannten „Dutch-Bridge“. Es waren nur noch wenige Tage bis zu unserem Kontingentwechsel. Kameraden aus Feyzabad kamen zur Unterstützung, Infanteristen und Mentoren des dortigen Wiederaufbauteams. Die Panzeraufklärer waren bereits weg und mit ihnen die Drohne Luna – unser wirksamstes Mittel zur Vorfeldbeobachtung. Neben der Aufklärung fehlten erneut einige afghanische Soldaten. Ob die Entscheidung zum Angriff unsere Führung in Masar-e Scharif traf oder ob sie auf Druck der Amerikaner erfolgte – ich weiß es bis heute nicht. Aber niemand von den Kräften vor Ort hatte dabei ein gutes Gefühl. Der Weg am Fluss war für unsere Fahrzeuge zu eng. Wir lagen wie auf dem Präsentierteller. Von vorne und von rechts kam plötzlich Beschuss durch Handfeuerwaffen und Artillerie der Taliban. Aber ohne Drohne konnten wir deren Stellungen nicht aufklären. Wir mussten den Angriff abbrechen. Bei Einbruch der Dunkelheit wurden wir losgeschickt, um mit unserem Arzttrupp einen schwer verwundeten afghanischen Soldaten aufzusammeln. Er verstarb einige Tage später. Einer der US-Specialforces erlitt einen Halsdurchschuss.
Am 2. April 2010, als das Karfreitagsgefecht bei Kunduz begann, befanden wir uns in Khilagay. Wir reinigten unser Gerät und bereiteten uns gut gelaunt auf die Rückverlegung nach Masar-e Scharif vor. Fünfeinhalb Monate hatten wir ohne Schäden überlebt, und in zwei Wochen stand der Heimflug an. Erst abends, als die Meldung vom dritten Gefallenen bei uns eintraf, erhielten wir als Kompanie den Marschbefehl nach Kunduz. Wir übernahmen für mehrere Tage die Raumverantwortung, damit die betroffene Infanterie-Kompanie sich von ihren Gefallenen verabschieden und neu sortieren konnte. Bei uns blieb es ruhig, auch wenn wir selbst – stark unterbesetzt und von den Ereignissen erschüttert – es nicht waren. Dann kam der 15. April. An der „Dutch-Bridge“, auf die wir Ende März noch erfolglos angesetzt hatten, fuhren die Kameraden aus Feyzabad auf eine Sprengfalle. Die afghanische Armee hatte die Zufahrt nach eigenen Angaben zuvor erfolgreich gesweept. Die Gefallenen befanden sich nicht im Fahrzeuginnern, sondern fuhren außen via Trittbrett bei dem gepanzerten MOWAG Eagle mit. Der im Anschluss anrückende Arzttrupp wurde von hinten von einer Panzerabwehr-Granate getroffen. Ein Arzt verbrannte im Fahrzeug.
Drei Tage später trugen wir die Särge unserer Kameraden in die Transall. Es wären eigentlich unsere Särge gewesen. Wäre das Karfreitagsgefecht nicht passiert, hätte die Sprengfalle in Baghlan wohl uns und nicht die Kameraden aus Feyzabad erwartet. Auch zehn Jahre später spricht selbst die Bundeswehr-Redaktion nur von einer „Patrouille in Baghlan“. Die Operation Taohid – eine der frühesten Episoden deutscher Aufstandsbekämpfung – ist durch die Bundeswehr bis heute kaum dokumentiert. Betrachtet man die Plan- und Führungslosigkeit beim Einsatz der Quick Reaction Force in Baghlan, ist es vielleicht auch nur eine Art beschämtes Vergessen.
Der Autor
Ilja Sperling war 2008 und 2010 im Afghanistan-Einsatz. 2014 verließ er die Bundeswehr. Heute arbeitet er als IT-Spezialist. Er gibt hier eigene Erlebnisse und seine persönliche Meinung wieder.