Transnistrien: der Phantomstaat
Transnistrien ist ein Land, das es eigentlich nicht gibt. Moldau sieht den abtrünnigen Landstrich als eigenes Staatsgebiet an. Die Regierung in Chișinău setzt auf Wiedereingliederung.
Einmal in der Woche macht sich Oleg Serebrian von Chișinău auf nach Transnistrien. Eine gute Stunde dauert die Fahrt über holprige Landstraßen. Der distinguierte Herr ist der Prototyp eines Diplomaten, Politikers und Weltbürgers. Er hat unter anderem in Nizza, Edinburgh und an der französischen Elitehochschule ENA in Paris studiert, war Parlamentsabgeordneter und Botschafter in Frankreich und in Deutschland. Serebrian ist nicht nur homme politique, wie die Franzosen einen Menschen nennen, der sich der Politik verschrieben hat, sondern auch homme de lettre, Literat. Er hat mehrere Romane geschrieben, einer davon wurde ins Deutsche übersetzt: „Tango in Czernowitz“, die komplizierte und ergreifende Geschichte eines deutsch-rumänischen Ehepaars in der Bukowina kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee im Frühjahr 1944.
Gerade beschäftigt sich Serebrian mit Strahlungswerten von Röntgengeräten, die nach Transnistrien geliefert werden sollen. Denn er ist moldauischer Vize-Ministerpräsident für Reintegration. Seine Aufgabe: Die abtrünnige Provinz ins Mutterland zurückzuholen. Das hört sich nach mehr als 30 Jahren Trennung wie eine mission impossible an. Auf jeden Fall ist sein Job oft bürokratisches Kleinklein, das zeigt das Beispiel mit den Röntgengeräten.
Die offene Wunde Moldaus
Transnistrien: die offene Wunde Moldaus. Der Landstrich nördlich des Flusses Dnister (nur die Stadt Bender liegt auf dem südlichen Ufer) hat sich 1990 in den Wirren der zerfallenden Sowjetunion von Moldau abgespalten, als dieses noch Sowjetrepublik war. 1992 begann eine moldauische Offensive gegen die Abtrünnigen, die zwischen 500 und 1.100 Tote forderte. Das Ende war ein eingefrorener Konflikt, der bis heute besteht.
350.000 Menschen leben in diesem Gebiet. Fast alle von ihnen sprechen Russisch oder Ukrainisch. Die moldauische Amtssprache Rumänisch wird dort in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Währung ist der transnistrische Rubel, auf der Flagge prangen Hammer und Sichel, es gibt eigene Pässe und eigene Briefmarken. 1.500 russische Soldaten sind dort stationiert. Es gibt ein 150 Hektar großes Waffenlager, das größte Osteuropas, mit vermutlich vergammeltem Sprengstoff. Ursprünglich lagerten dort 65.000 Tonnen Munition. Ausländischen Experten wird der Zugang verweigert. Der Landstrich wird von einem Wirtschaftskonzern namens Sheriff kontrolliert. Den Sheriff-Gründern gehört auch der Fußballclub FC Sheriff Tiraspol, durch den Transnistrien eine gewisse internationale Bekanntheit erlangt hat.
In Transnistrien lebt die Sowjetzeit fort, architektonisch und in den Köpfen der Menschen. Die bizarre Parallelwelt der russischen Propaganda ist der alles beherrschende Geisteszustand. Anerkannt wird die Region von keinem Land der Welt, nicht einmal von Russland. Moskau sah es lange als Ausgangsbasis an, um von dort aus Unruhe in der Schwarzmeerregion zu stiften. Seit dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ist es damit vorbei. Es gibt keine Landverbindung nach Russland, Transnistrien liegt eingeklemmt zwischen Moldau und der Ukraine und droht zu verkümmern. Die Ukraine hat die Grenze zu den Moskauhörigen geschlossen. Die Einflugschneise des Flughafens Tiraspol wird durch ukrainische Artillerie überwacht, der Flughafen ist wertlos. Raus aus Transnistrien und rein kommt man nur über Moldau.
„Jeder dritte Taxifahrer in Chișinău reist täglich aus Transnistrien an, um hier zu arbeiten“, sagt Oleg Serebrian loyal. „Insgesamt kommen Tag für Tag 12.000 Transnistrier zum Arbeiten zu uns. Die Gehälter sind hier doppelt so hoch.“ Früher kamen zu den regelmäßigen gemeinsamen Konsultationen auch seine Gesprächspartner aus Tiraspol in die moldauische Hauptstadt. Seit dem Krieg in der Ukraine fühlen sie sich außerhalb ihres Phantomstaates nicht mehr sicher. Deshalb fährt Serebrian jetzt öfter auf die andere Seite. Dann geht es um solche praktischen Dinge wie die Lieferung von Röntgengeräten. Und immer öfter auch um ein Problem, das Chișinău und Tiraspol noch Kopfzerbrechen bereiten wird: die Energieversorgung. Transnistrien bezieht bislang kostenlos (!) Gas aus Russland. Die Ukrainer haben aber angekündigt, dessen Durchleitung zum Jahresende zu stoppen. Dann würden nicht nur in Transnistrien die Wohnungen kalt bleiben, sondern auch in der Republik Moldau die Lichter ausgehen. Denn mit dem russischen Gas wird das einzige Großkraftwerk betrieben, das sowohl Transnistrien als auch Moldau mit Strom versorgt – und das steht in Transnistrien.
Nicht nur Territorium reintegrieren, sondern Menschen
Serebrian kritisiert, dass man auf moldauischer Seite zu lange nur auf die Verwaltung in dem Möchtegernstaat gesetzt habe. „Wir nehmen jetzt verstärkt die Bevölkerung in den Blick. Denn wir wollen nicht bloß Territorium reintegrieren, sondern Menschen.“ Die Transnistrier werden von Moldau aus über Radio und das Internet erreicht. Moldau verbreitet Nachrichten nach journalistischen, nicht nach propagandistischen Standards, informiert über das Weltgeschehen und über die EU-Perspektiven – bislang nur auf Rumänisch, aber inzwischen sind auch russischsprachige Angebote im Aufbau, damit Transnistrien nicht ein „Tal der Ahnungslosen“ unter russischer Gehirnwäsche bleibt. Nur Fernsehen ist nicht möglich, das blockieren die transnistrischen Behörden.
Auf die Frage, wann er mit einer Wiedereingliederung des abtrünnigen Landesteils in den moldauischen Staat rechnet, weicht Serebrian aus: „Wir spielen nicht mit Daten. Unsere Priorität ist der EU-Beitritt.“ Immerhin: ein Hindernis für die EU scheint das ungelöste transnistrische Problem nicht zu sein. Auch die beiden anderen EU-Beitrittskandidaten Ukraine und Georgien haben ähnliche offene Wunden wie die Republik Moldau. Der Annäherung an die EU tat das bislang keinen Abbruch.