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Opfer für Eu­ro­pa

Mit Hun­der­tau­sen­den Op­fern hält die Ukrai­ne das ag­gres­si­ve Russ­land auf Ab­stand zu Eu­ro­pa – trotz dürf­ti­ger Waf­fen­hil­fe. Nun tritt sie in das vier­te Kriegs­jahr ein und muss ein aku­tes Re­kru­tie­rungs­pro­blem meis­tern. Be­such in einem ge­schun­de­nen Land.

Auf dem Li­so­we-Fried­hof in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt Kyjiw wächst die Tras­se aus Ge­fal­le­nen­grä­bern täg­lich.

Foto: Tetya­na Chernyavs­ka

loyalUkrai­ne

Durch den Li­so­we-Fried­hof in Kyjiw zieht sich eine Tras­se Ge­fal­le­nen­grä­ber. An ihrer Spit­ze heben Ar­bei­ter lau­fend Grä­ber aus, um die Lei­chen ukrai­ni­scher Sol­da­ten auf­zu­neh­men. Ober­st­abs­feld­we­bel Bog­dan, Chef der Be­gräb­ni­s­eh­ren­for­ma­ti­on, beim loyal-Be­such Ende No­vem­ber 2024: „Im Schnitt haben wir hier vier Be­gräb­nis­se am Tag.“ Dabei ist Li­so­we der grö­ß­te, aber nicht der ein­zi­ge Ge­fal­le­nen­fried­hof der ukrai­ni­schen Haupt­stadt. Die Ukrai­ne hat mehr als zehn Jahre Ab­wehr­kampf gegen Russ­land hin­ter sich. Ver­lust­zah­len der Armee wer­den nicht ver­öf­fent­licht. Ende ver­gan­ge­nen Jah­res sprach der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Wo­lo­dy­myr Se­len­skyj von 43.000 ge­tö­te­ten und 370.000 ver­wun­de­ten ukrai­ni­schen Sol­da­ten. An­de­re Schät­zun­gen rei­chen von 60.000 bis 100.000 Ge­fal­le­nen und bis zu 400.000 Sol­da­ten, die kampf­un­fä­hig ver­letzt wur­den. Die­sen Ader­lass zu kom­pen­sie­ren, fällt der Ukrai­ne zu­neh­mend schwer. Für loyal sind Re­dak­teur Björn Mül­ler und Fo­to­gra­fin Tetya­na Chernyavs­ka von Kyjiw bis Char­kiw durch das Land ge­reist, um sich ein Bild zu ma­chen.

In der Kli­nik Do­bro­but im Her­zen Ky­jiws emp­fängt Dok­tor Wasyl Schma­goy, Ab­tei­lungs­lei­ter Or­tho­pä­die und Un­fall­chir­ur­gie, zum Ge­spräch. Er ist Spe­zia­list für Kriegs­ver­let­zun­gen. Schma­goy: „Wir haben eine Trau­ma-Epi­de­mie in der Ukrai­ne.“ Nach sei­nen An­ga­ben wird jeder vier­te Sol­dat ver­letzt. Es gibt eine Mil­li­on Kriegs­ver­sehr­te unter den 30 Mil­lio­nen Ukrai­nern, die noch im Land leben. So­ge­nann­te zweit­ran­gi­ge Ver­let­zun­gen mit Holz- oder Glas­split­ter bei Ge­scho­ßein­schlä­gen sind die häu­figs­ten Ver­wun­dun­gen. Dabei ist die Be­hand­lungs­ket­te von Mi­li­tär­hos­pi­tä­lern durch die Be­zirks- und Stadt­kran­ken­häu­ser in­zwi­schen gut auf­ge­baut, so Wasyl Schma­goy. Jedes Kran­ken­haus habe in­zwi­schen eine Mi­li­tär­ab­tei­lung. „90 Pro­zent der Ärzte sind zwangs­wei­se zu Un­fall­chir­ur­gen ge­wor­den“, sagt Schma­goy. Die Ukrai­ner seien in­zwi­schen füh­rend bei Pro­the­sen, die kein kom­plet­tes Ge­lenk oder Kno­chen er­set­zen, son­dern zum Ein­satz kom­men, wenn Kno­chen­tei­le durch Schrapnel­le her­aus­ge­ris­sen wur­den, Seh­nen und Fleisch in Tei­len aber noch vor­han­den sind.

Wira Po­te­riay­ko pflegt das Grab ihres Soh­nes Olek­siy. Der 37-Jäh­ri­ge mel­de­te sich am Be­ginn des rus­si­schen Über­falls 2022 frei­wil­lig zur Armee und fiel ein Jahr spä­ter. Wira Po­te­riay­ko: „Die Ka­me­ra­den mei­nes Soh­nes hal­ten mit mir Kon­takt. Aber in­zwi­schen sind nicht mehr viele am Leben.“ (Foto: Tetya­na Chernyavs­ka)

Was die wei­te­re Mo­bi­li­sie­rungs­fä­hig­keit sei­nes Lan­des an­geht, ist der Arzt pes­si­mis­tisch. Zur­zeit kön­nen 25- bis 60-Jäh­ri­ge ein­be­ru­fen wer­den. Die jün­ge­ren Al­ters­ko­hor­ten, oh­ne­hin dünn aus­ge­prägt, sol­len noch ge­schützt wer­den. „Es wird gerne über­se­hen, dass ich meh­re­re Men­schen in der Pro­duk­ti­on brau­che, um einen Sol­da­ten im Ein­satz zu hal­ten.“ Wasyl Schma­goy schätzt das reale Mo­bi­li­sie­rungs­po­ten­zi­al auf nur noch 200.000 Mann. Der vor­he­ri­ge Ge­ne­ral­stabs­chef Wa­le­rij Sa­lu­schnyj for­der­te Ende 2023, wei­te­re 500.000 Sol­da­ten ein­zu­zie­hen, um das aus­ge­laug­te Feld­heer von circa einer Mil­li­on Sol­da­ten auf­zu­fri­schen. Doch Prä­si­dent Se­len­skyj lehn­te das ab. Zur­zeit gilt ein Mo­bi­li­sie­rungs- und Re­kru­tie­rungs­ziel von 160.000 wei­te­ren Män­nern und Frau­en.

Mo­dern den­ken­de Sol­da­ten und alte Kräf­te

Auf einem Übungs­ge­län­de bei Kyijw tref­fen wir Mak­sym, der sich mit den Stär­ken und Schwä­chen der ukrai­ni­schen Streit­kräf­te bes­tens aus­kennt. Der 45-Jäh­ri­ge ist ein Ve­te­ran der Kämp­fe im Don­bass, das war schon 2014.  Sei­nen Wehr­dienst leis­te­te er bei den Luft­lan­de­trup­pen. Fo­to­gra­fiert wer­den will er nur mit ver­deck­tem Ge­sicht. Seine jet­zi­ge Funk­ti­on in der Armee soll ge­heim blei­ben. Makysm im Ge­spräch mit loyal: „Ein wich­ti­ger Fak­tor, warum sich die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te seit 2014 be­haup­ten, ist, dass ei­ni­ge Mi­li­tärs, die zu­rück­kehr­ten und die Füh­rung von Ver­bän­den über­nah­men, zwi­schen­zeit­lich Ge­schäfts­leu­te ge­wor­den waren. Die hat­ten das Mind­set, sich selbst zu or­ga­ni­sie­ren und un­kon­ven­tio­nell Res­sour­cen zu be­sor­gen. Das ist es­sen­zi­ell ist in un­se­rer an­ge­spann­ten Ma­te­ri­al­si­tua­ti­on. Nach über­lie­fer­ter So­wjet­schu­le sind die Of­fi­zie­re dar­auf ein­ge­stellt, dass ihnen die Wehr­bü­ro­kra­tie alles an Ma­te­ri­al vor die Füße kippt.“

Die ukrai­ni­sche Armee ist wei­ter­hin ge­spal­ten zwi­schen mo­dern den­ken­den Sol­da­ten und alten Kräf­ten, die man nur schwer los­wird, sagt Mak­sym. Denn bei der In­va­si­on vor drei Jah­ren wur­den viele Füh­rungs­of­fi­zie­re aus der Pen­si­on her­aus re­ak­ti­viert. Den So­wjet­typ in der ukrai­ni­schen Armee be­schreibt Mak­sym mit einer Szene, deren Zeuge er wurde. „Ein hoher Of­fi­zier fährt zum Front­be­such vor. An­statt auf die Män­ner zu­zu­ge­hen, bleibt er im Wagen sit­zen und lässt sich von sei­nem Ad­ju­tan­ten erst­mal Gum­mi­stie­fel brin­gen.“

Beim Trai­nings­tag des BRO-Netz­werks konn­te keine Blu­tung mit Kunst­blut recht­zei­tig ge­stoppt wer­den; alle Ver­wun­de­ten wären tot ge­we­sen. Viel prak­ti­sche Übung ist Trumpf, sagt Kampf­sa­ni­tä­ter und Trai­ner Olek­san­der. „Der me­di­zi­ni­sche Teil der Ba­sis­aus­bil­dung ist nicht gut auf­be­rei­tet und wird häu­fig nur for­mal ab­ge­hakt.“ (Foto: Tetya­na Chernyavs­ka)

Mak­sym trifft sich an die­sem Tag mit Ka­me­ra­den des „BRO-Netz­werks“ auf dem Übungs­platz, einer alten Müll­kip­pe, die nun als Schie­ß­platz und Droh­nen-Test­ge­län­de dient. BRO steht für Bro­ther – zu Deutsch Bru­der – und ist eine ty­pi­sche Ver­tei­di­gungs­grup­pe, wie sie viel­fach in der Ukrai­ne ent­stan­den ist. Mit­glie­der des Fuß­ball­clubs FK Ma­es­tro, eines Frei­zeit­ver­eins von Ra­dio­mo­de­ra­to­ren, Mu­sik­pro­du­zen­ten und an­de­ren Kul­tur­schaf­fen­den, tra­ten der Miliz zur Ter­ri­to­ri­al­ver­tei­di­gung bei. Par­al­lel bau­ten sie ein mi­li­tä­ri­sches Un­ter­stüt­zungs­netz­werk auf. Damit hilft die Grup­pe Ve­te­ra­nen bei Un­ter­neh­mens­grün­dun­gen, or­ga­ni­siert Be­ne­fiz­ver­an­stal­tun­gen und be­treibt mit kun­di­gen Mit­glie­dern di­ver­se klei­ne Rüs­tungs­pro­jek­te wie einen La­ser­mar­ker, um rus­si­sche Droh­nen am Nacht­him­mel über Kyjiw für die Flug­ab­wehr aus­zu­leuch­ten. Aber sie haben auch das Kon­zept „Ab­schaf­fung der ukrai­ni­schen Pa­pier­bü­ro­kra­tie mit einem elek­tro­ni­schen Do­ku­men­ten­ma­nage­ment­sys­tem“ im Port­fo­lio und wer­den damit bei Mi­nis­te­ri­en vor­stel­lig.

„Zarte Re­kru­tie­rung“

Ist das nicht ein etwas zu gro­ßes Rad? Arzt und BRO-Mit­glied Olek­san­der: „Das ist ​ein­fach nötig. Die staat­li­che Bü­ro­kra­tie ist zu träge für die Um­set­zung wich­ti­ger Neue­run­gen in Kriegs­zei­ten. Der Staat braucht die­sen An­trieb aus der Ge­sell­schaft.“ Das zen­tra­le An­lie­gen von BRO ist es je­doch, die Re­kru­tie­rung für die Armee zu för­dern. Hoch mo­ti­vier­te Män­ner und Frau­en hät­ten längst ihren Weg in die Streit­kräf­te ge­fun­den. Bei vie­len der Üb­ri­gen aber gäbe es eine ge­ne­rel­le Scheu vor Waf­fen und kein Zu­trau­en, als Sol­dat etwas leis­ten zu kön­nen. So sehen es  Mak­sym und die üb­ri­gen BRO-Mit­glie­dern beim heu­ti­gen Schie­ß­trai­ning.

Vlad aus der Füh­rungs­rie­ge des BRO-Netz­werks will zau­dern­de Lands­leu­te Schritt für Schritt von einem En­ga­ge­ment in der Armee über­zeu­gen. (Foto: Tetya­na Chernyavs­ka)

Ein wei­te­rer BRO-Ve­te­ran na­mens Vlad stellt fest: „Wir haben ein Kon­zept ent­wi­ckelt, dass wir ‚zarte Re­kru­tie­rung‘ nen­nen. Dabei wer­den Män­ner und Frau­en lang­sam über zwei Stu­fen an den Dienst in den Streit­kräf­ten her­an­ge­führt. Die erste Stufe ist, ein Be­wusst­sein zu schaf­fen, die Fa­mi­lie ver­tei­di­gen zu kön­nen. Stufe zwei ist das En­ga­ge­ment im Hei­mat­schutz des Wohn­be­zirks. Für bei­des haben wir un­se­re Trai­nings wie heute: Schie­ßen, Erste-Hilfe und Droh­nen­steue­rung. Die Leute sol­len die Scheu vor dem mi­li­tä­ri­schen Hand­werk ver­lie­ren. Ich ver­su­che immer, sie da­hin­zu­brin­gen, dass sie den­ken: Wenn der Me­di­en­fuz­zi das schafft, dann schaf­fe ich das auch.“ Seine Trai­nings­grup­pen be­wirbt das BRO-Netz­werk über So­zia­le Me­di­en wie Tik­tok und You­Tube, auf denen ein­zel­ne BRO-Mit­glie­der Ka­nä­le mit teils meh­re­ren hun­dert­tau­send Fol­lowern un­ter­hal­ten.

Bei der Frage, wie er­folg­reich ihre „zarte Re­kru­tie­rung“ ist, wei­chen Vlad und Ka­me­ra­den aus. Sie wür­den nicht mit­krie­gen, wer schluss­end­lich über ihre Trai­nings den Weg in die Streit­kräf­te fin­det. Deren aku­ter Man­gel ist mas­siv. Auch beim heu­ti­gen Trai­ning taucht ein Wer­be­of­fi­zier der be­kann­ten Asow-Bri­ga­de der Na­tio­nal­gar­de auf und hält eine klei­ne An­spra­che vor der Grup­pe: „Uns man­gelt es we­ni­ger an Ma­te­ri­al als an den Men­schen. Wir ga­ran­tie­ren eine gute Aus­rüs­tung und Aus­bil­dung und ein Um­feld, dass nicht vom Al­ko­hol ge­prägt ist. Wir su­chen nicht nur Kampf­trup­pen, son­dern auch Fah­rer, Tech­ni­ker und Droh­nen­pi­lo­ten.“

Ve­te­ran Makysm ha­dert mit dem Umbau der ukrai­ni­schen Armee. Die­ser müss­te noch kon­se­quen­ter sein, fin­det er. (Foto: Tetya­na Chernyavs­ka)

Mak­sym: „Am An­fang gab es einen Run von Frei­wil­li­gen. Dass das nicht ewig so blei­ben würde, war klar. Aber die Armee ver­säum­te es lange, eine struk­tu­rier­te Re­kru­tie­rung zu star­ten. Das haben die Ein­hei­ten dann selbst über­nom­men. Ge­wach­se­ne Ver­bän­de wie Asow sind dabei er­folg­reich. Es gibt aber di­ver­se Bri­ga­den, die immer wie­der mit neuen Ba­tail­lo­nen zu­sam­men­ge­schnip­pelt wer­den, deren Ge­schich­te von der Mi­li­tär­bü­ro­kra­tie ver­nich­tet wurde, und die somit nach außen nichts dar­stel­len kön­nen.“

Re­kru­tie­rung im ehe­ma­li­gen Wel­pen­ca­fé

Wie re­kru­tie­ren die Streit­kräf­te in­zwi­schen? Sucht man unter Re­kru­tie­rung im In­ter­net, wird als ers­tes ein zen­tra­les Re­kru­tie­rungs­bü­ro der Spe­zi­al­kräf­te an­ge­zeigt – neu er­öff­net im Sep­tem­ber im Stadt­be­zirk Obo­lon im Nor­den Ky­jiws. Wir su­chen es auf. Unser Fah­rer My­ko­la er­zählt, dass er als Chauf­feur für Bands zur Trup­pen­un­ter­hal­tung durch die Fron­träu­me der Ukrai­ne fährt. Er ver­weist auf einen wei­te­ren As­pekt der Re­kru­tie­rungs­pro­ble­ma­tik: den di­rek­ten Zu­sam­men­hang zwi­schen schlep­pen­der Re­kru­tie­rung und un­ge­nü­gen­den Waf­fen­lie­fe­run­gen der ukrai­ni­schen Al­li­ier­ten wie Deutsch­land. Deren Waf­fen­hil­fe seit Kriegs­be­ginn reicht nicht aus, um die Bri­ga­den des Feld­hee­res aus­zu­rüs­ten. Das wurde vor allem durch den vor­über­ge­hend ge­stopp­ten Nach­schub aus den USA vi­ru­lent. „Wer will sich für Bri­ga­den re­kru­tie­ren las­sen, die be­kann­ter­ma­ßen kein Ma­te­ri­al haben, zudem kein ver­nünf­ti­ges?“ Dabei zeige west­li­ches Gerät wie der Schüt­zen­pan­zer Brad­ley im Kampf eine hohe Wi­der­stands­kraft, ge­ra­de gegen Droh­nen-At­ta­cken. „Auf die To­des­fal­len so­wje­ti­scher Bau­art hat kei­ner Lust“, sagt der Fah­rer.

Laut Adres­se liegt die Re­kru­tie­rungs­stel­le der Spe­zi­al­kräf­te zwi­schen Hoch­häu­sern, doch sie ist zu­nächst nicht auf­find­bar. Wir spre­chen einen jun­gen Mann an. Es stellt sich her­aus, dass er dort vor­stel­lig wer­den will, das Re­kru­tie­rungs­bü­ro aber eben­falls nicht fin­det. Erst ein ge­nau­er Blick durch eine La­den­zei­le of­fen­bart: Die Spe­zi­al­kräf­te haben sich dort ein­ge­rich­tet, wo vor­her das tier­freund­li­che „Pups and Cups“-Café war. Des­sen Name und lus­ti­ge Hun­de­mo­ti­ve zie­ren noch die Ein­gangs­sei­te, den bösen Wolf der Spe­cial Forces Ukrai­ne mit dem Motto „Wir kom­men dich holen!“ gibt es erst drin­nen zu sehen. Warum ist die be­wor­be­ne An­lauf­stel­le nicht bes­ser sicht­bar? Ein jun­ger, durch­trai­nier­ter Re­kru­tie­rungs­of­fi­zier lä­chelt ver­le­gen. „Vor der Tür haben wir nor­ma­ler­wei­se Ban­ner ste­hen, aber die nut­zen wir heute für ein aus­wär­ti­ges Re­kru­tie­rungs­event.“ Mit der Pres­se dürfe hier nie­mand reden. In­for­ma­tio­nen gäbe es im neuen Re­kru­tie­rungs­zen­trum des Hee­res. Also dort­hin.

Ser­vi­ce­desk des neuen Re­kru­tie­rungs­zen­trums des ukrai­ni­schen Hee­res in Kyjiw. Hier wer­den An­ru­fe von Frau­en und Män­nern ent­ge­gen­ge­nom­men, die über­le­gen, in die Streit­kräf­te ein­zu­tre­ten. (Foto: Tetya­na Chernyavs­ka)

Die Wer­ber der Land­streit­kräf­te haben sich nahe dem Stadt­zen­trum ein­ge­rich­tet, in einem fleisch­far­ben ge­stri­che­nen Ver­wal­tungs­bau. Der An­drang an die­sem Tag ist über­schau­bar. Das Zen­trum ist Kern eines neuen Re­kru­tie­rungs­kon­zepts, das die Streit­kräf­te seit einem hal­ben Jahr be­trei­ben, er­läu­tert Leut­nant Denys Wascht­schen­ko, Lei­ter der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ab­tei­lung. „Es geht darum, die ge­ne­rel­le Re­kru­tie­rung mit jener, die die Bri­ga­den ei­gen­stän­dig durch­füh­ren, bes­ser zu ver­knüp­fen. Jede Teil­streit­kraft baut ein Re­kru­tie­rungs­zen­trum mit Ab­le­gern auf. Die Land­streit­kräf­te wer­den neben Kyjiw noch sie­ben wei­te­re Re­kru­tie­rungs­bü­ros in Gro­ß­städ­ten er­öff­nen.“ Bis­her lief die Re­kru­tie­rung über die Be­zir­ke. Doch die hät­ten das Ver­trau­en der Be­völ­ke­rung ver­lo­ren, so der Pres­se­of­fi­zier. „Wir wol­len jetzt die Mo­ti­vier­ten sam­meln und ga­ran­tie­ren, dass Re­kru­ten zu ihrer Wunschein­heit kom­men und eine Ver­wen­dung er­hal­ten, die ihren Fä­hig­kei­ten ent­spricht.“ Die Bri­ga­den wie­der­um er­hal­ten Dienst­pos­ten zur Re­kru­tie­rung. Zuvor lief das dort als Ne­ben­auf­ga­be.

Per­sön­li­che Ver­bun­den­heit der ent­schei­den­de Fak­tor

Das neue Re­kru­tie­rungs­zen­trum soll als Platt­form die­nen, auf der Bri­ga­den, die ge­konn­te Per­so­nal­ge­win­nung be­trei­ben, ihre Er­fah­rung an an­de­re Gro­ß­ver­bän­de wei­ter­ge­ben. Die Schu­lung von Per­so­nal­füh­rern soll dafür sor­gen, dass die Re­kru­tie­rungs­qua­li­tät im Heer nach­hal­tig bes­ser wird. Das Zen­trum hat zudem Res­sour­cen für Events, die es zu­tei­len kann. Leut­nant Wascht­schen­ko: „So kön­nen wir Bri­ga­den, die schlech­tes Mar­ke­ting be­trei­ben, unter die Arme grei­fen.“ Ob er be­stä­ti­gen könne, dass mo­der­nes und aus­rei­chen­des Ma­te­ri­al zen­tra­ler Fak­tor für die Re­kru­tie­rungs­be­reit­schaft sei? „Die Aus­stat­tung mit Ma­te­ri­al bei den Ver­bän­den spielt na­tür­lich eine Rolle. Aber un­se­re Er­fah­rung ist, dass die per­sön­li­che Ver­bun­den­heit der ent­schei­den­de Fak­tor ist – also der As­pekt, an wel­chen Stel­len be­reits Ver­wand­te oder Freun­de die­nen“, so Wascht­schen­ko. Ziel­mar­ken oder an­de­re Vor­ga­ben für die Re­kru­tie­rung hat das Hee­res­zen­trum laut ihm nicht. Es gelte, In­ter­es­sier­te op­ti­mal zu be­treu­en, um diese mög­lichst alle in die Armee zu brin­gen. Basis dafür sind Re­kru­tie­rungs­an­zei­gen im In­ter­net, die bei On­line-An­mel­dung einen Rück­ruf ga­ran­tie­ren. Da­ne­ben mel­den sich In­ter­es­sier­te auch di­rekt. Zehn bis 40 An­ru­fe am Tag gehen beim Hee­res­zen­trum in Kyjiw zur­zeit ein, so der Pres­se­of­fi­zier.

Üppig ist das nicht. Bis­her ist nicht er­kenn­bar, wie die ukrai­ni­sche Armee eine Re­kru­tie­rung und Mo­bi­li­sie­rung auf­bau­en kann, die eine bes­se­re Auf­fri­schung und Ro­ta­ti­on der Trup­pen bei den Front­bri­ga­den er­laubt. Die Masse der 2022 mo­bi­li­sier­ten Sol­da­ten ist im Krieg quasi ge­fan­gen. Sie kom­men nicht raus. Immer wie­der pro­tes­tie­ren Ehe­frau­en und Fa­mi­li­en öf­fent­lich da­ge­gen. In­zwi­schen es­ka­liert die Zahl der Fälle un­er­laub­ter Ab­we­sen­heit von der Trup­pe. 60.000 ak­ten­kun­di­ge Fälle waren es zwi­schen Ja­nu­ar und Ok­to­ber 2024, be­rich­te­te die Fi­nan­ci­al Times.

Mi­li­tär­ka­plan Ser­hiy Dmy­t­riyev im Sankt-Mi­cha­els-Klos­ter in Kyjiw. Die Kom­mu­nis­ten spreng­ten das Klos­ter in den 1930er-Jah­ren. Nach dem Kal­ten Krieg wurde es wie­der auf­ge­baut. (Foto: Tetya­na Chernyavs­ka)

Wir gehen dort­hin, wo es darum geht, die Sol­da­ten men­tal zu stär­ken, die sich der bru­ta­len In­va­si­on Russ­lands ent­ge­gen­stel­len. Im St.-Mi­cha­els-Klos­ter im Her­zen Ky­jiws hat die Or­tho­do­xe Kir­che der Ukrai­ne ihren Sitz. Dort tref­fen wir Mi­li­tär­ka­plan Ser­hiy Dmy­t­riyev. Der 49-Jäh­ri­ge be­treut seit 2014 Sol­da­ten seel­sor­ge­risch im Feld. Zu­nächst bei der 30. Bri­ga­de, in­zwi­schen ist er im Rang eines Obersts Chef-Ka­plan für die Hei­mat­schutz­kräf­te und küm­mert sich auch um die Ka­det­ten des Mi­li­tär­in­sti­tuts an der Uni­ver­si­tät Kyjiw. Dmy­t­riyev ist es wich­tig zu be­to­nen, dass sich die Or­tho­do­xe Kir­che der Ukrai­ne im Ge­gen­satz zu jener Russ­lands de­zi­diert nicht als Staats­kir­che ver­steht. „Wir sind ein Ak­teur im Al­l­ukrai­ni­schen Kir­chen­rat von 35 Kon­fes­sio­nen – mit Mus­li­men, Juden, bis zu Mor­mo­nen. Wir tre­ten für die eu­ro­päi­schen Frei­heits­wer­te ein.“ Russ­land könne nur Zerr­bil­der über den Wes­ten auf­bie­ten, wie eine ver­meint­li­che Ge­fahr durch ima­gi­nä­re Nazis oder eine her­bei­fan­ta­sier­te Do­mi­nanz schwu­ler Men­schen in der Ge­sell­schaft.

Seel­sor­ge mit Star Wars

Wie hal­ten die ukrai­ni­schen Sol­da­ten der men­ta­len Kriegs­be­las­tung stand? „Wir haben keine Wahl. Der Kampf wird uns auf­ge­zwun­gen,“ so Dmy­t­riyev. „Unter Russ­land mit sei­nem fa­schis­to­iden Herr­schafts­sys­tem wol­len wir kei­nes­falls leben.“ Das sind zwei Kern­aus­sa­gen, die die Re­por­ter aus Deutsch­land aus fast jedem Ge­spräch in der Ukrai­ne mit­neh­men. Somit geht es bei Dmy­t­riyevs Seel­sor­ge we­ni­ger um Be­stär­kung, son­dern mehr um Ent­las­tung. Er kommt mit Tee, Kek­sen und Musik zu den Sol­da­ten in die Stel­lun­gen. Mit Be­grü­ßung, Gebet und Seg­nung dau­ert eine klei­ne Ze­re­mo­nie rund 15 Mi­nu­ten. Dmy­t­riyev greift nach einer rie­si­gen Yo­da­fi­gur aus Plüsch – sein ste­ter Be­glei­ter bei Front­be­su­chen. Der in sich ru­hen­de Je­di­meis­ter aus dem Krieg der Ster­ne hat sich als wir­kungs­vol­ler Stim­mungs­auf­hel­ler er­wie­sen.

Di­rekt neben dem Mi­li­tär­ka­plan Dmy­t­riyev hat Kate­ry­na Ny­konch­chuk ihren Ar­beits­platz, Pro­jekt­ma­na­ge­rin im So­zi­al­be­reich der Or­tho­do­xen Kir­che und Ve­te­ra­nin. Sie er­zählt uns, wie wich­tig Seel­sor­ge ist, aber auch, wel­che De­fi­zi­te es in der Armee gibt. Die 27-Jäh­ri­ge mel­de­te sich mit ihrem Ehe­mann zur Armee, als die In­va­si­on be­gann. Dort wurde sie als Lo­gis­ti­ke­rin ein­ge­setzt, erst bei der 30. Bri­ga­de, dann bei der 47. Nach einem Jahr wurde ihr Mann schwer ver­wun­det, eine Ge­sichts­hälf­te ist zer­stört. In der Folge wurde er de­mo­bi­li­siert. Auch Kate­ry­na ver­ließ den Dienst, um ihm und ihren kran­ken El­tern bei­zu­ste­hen, aber auch, weil sie psy­chisch aus­ge­brannt war. An­stoß war, dass es bei 47. Bri­ga­de zu­min­dest da­mals kei­nen ad­äqua­ten Um­gang mit men­tal an­ge­schla­ge­nen Sol­da­ten gab. „Wer nicht funk­tio­nier­te, wurde ent­fernt und ir­gend­wo­hin ab­ge­scho­ben. Dabei wäre es mach­bar ge­we­sen, mit ein wenig Zu­hö­ren die Ka­me­ra­den auf Pos­ten zu set­zen, die für sie und die Ein­heit bes­ser ge­we­sen wären.“

Ve­te­ra­nin Kate­ry­na Ny­konch­chuk ist wü­tend auf Lands­leu­te, die sich dem Wehr­dienst ent­zie­hen. (Foto: Tetya­na Chernyavs­ka)

Die 30. Bri­ga­de, bei der sie vor­her war, war in die­ser Hin­sicht bes­ser auf­ge­stellt, nicht zu­letzt wegen der Ar­beit von Mi­li­tär­ka­plan Ser­hiy Dmy­t­riyev. „Er konn­te als un­ab­hän­gi­ger Zu­hö­rer deine Angst sehen und dich be­ru­hi­gen.“ Zur Mo­bi­li­sie­rungs- und Re­kru­tie­rungs­pro­ble­ma­tik äu­ßert sie sich klar. „Mich macht es wü­tend, dass viele Mo­bi­li­sie­rungs­pflich­ti­ge ver­su­chen, sich dem Dienst zu ent­zie­hen. Lei­der geht  das mit dem Ver­weis auf ge­sund­heit­li­che Be­schwer­den noch viel zu leicht.“ Ob sie da­hin­ter auch Kor­rup­ti­on ver­mu­tet, will sie nicht be­wer­ten. Mi­li­tär­ka­plan Dmy­t­riyev: „Klar haben wir ein Kor­rup­ti­ons­pro­blem. Aber wir be­kämp­fen es auch, und das ist das Ent­schei­den­de. Pro­ble­ma­tisch ist es, wenn Kor­rup­ti­on als selbst­ver­ständ­lich hin­ge­nom­men wird und kei­ner dar­über spricht. Das ist in der Ukrai­ne längst an­ders. Und es gibt klare Fort­schrit­te: Meine Kin­der müs­sen in der Schu­le heute kei­ner­lei Hand­geld mehr für dies und jenes zah­len. Das war zu mei­ner Zeit noch gang und gäbe.“

Ein zer­bomb­tes Haus in Char­kiw. Im Stadt­zen­trum gibt es so gut wie kei­nen Stra­ßen­zug ohne Kriegs­schä­den. (Fotos: Tetya­na Chernyavs­ka)

Vor­rei­ter bei der Di­gi­ta­li­sie­rung

Wäh­rend der Kampf gegen die Kor­rup­ti­on zäh ist, ist die Ukrai­ne Vor­rei­ter bei der Di­gi­ta­li­sie­rung. Das zeigt sich ein paar Tage spä­ter in der Front­stadt Char­kiw. Ob­wohl nur 30 Ki­lo­me­ter von der Kampf­zo­ne ent­fernt, be­haup­tet sich die 1,5-Mil­lio­nen-Stadt als ge­schäf­ti­ge Me­tro­po­le. Im Café Ko­fey­in nahe am Bahn­hof tref­fen wir auf Kos­ti­an­tyn. Der Agrar­öko­nom und Ex-Boxcham­pi­on flüch­te­te mit Frau und drei Kin­dern zu Be­ginn der In­va­si­on nach Deutsch­land. Kos­ti­an­tyn muss­te wegen sei­ner drei Kin­der nicht zum Mi­li­tär. Doch dann woll­ten er und seine Frau, dass auch ihr vier­tes Kind in der Hei­mat ge­bo­ren wird und kehr­ten im Au­gust 2024 nach Char­kiw zu­rück. Kos­ti­an­tyn scrollt mit uns durch die App DIYA, was sich im Deut­schen un­ge­fähr mit „Ak­ti­on“ über­set­zen lässt. Kos­ti­an­tyn: „Mit ein paar Klicks kann man über die App sogar hei­ra­ten. Den Gang zum Stan­des­amt braucht es nicht mehr. Ali­men­te zah­len geht auch.“

In Deutsch­land wäre das un­denk­bar. In der Ukrai­ne bün­delt DIYA in­zwi­schen na­he­zu alle Ver­wal­tungs­ak­te: Ge­burts­ur­kun­de, Pass, Füh­rer­schein, Ver­si­che­run­gen. Staat­li­che Dienst­leis­tun­gen lau­fen wei­ter, auch wenn Be­hör­den zer­bombt wer­den und Akten ver­bren­nen. Das gilt vor allem für Char­kiw. Die rus­si­schen Ra­ke­ten kom­men hier mit einer Vor­warn­zeit von nur einer Mi­nu­te. Sich in Schutz­räu­me zu be­we­gen ist sinn­los. Wie im ge­sam­ten Land grei­fen die Rus­sen zudem be­wusst und immer öf­ters nachts an. Wer ar­beits­fä­hig blei­ben will, muss zwangs­läu­fig auf den Gang zum Schutz­raum ver­zich­ten. Ver­drän­gen und Schla­fen ist das Mit­tel der Wahl der Ukrai­ner.

Nach Char­kiw sind wir ge­reist, um uns ein Bild zu ma­chen, wie sich Kampf­bri­ga­den auf Krieg und Re­kru­tie­rung ein­stel­len. Dazu be­su­chen wir die junge 13. Bri­ga­de „Khar­tiia“ der Na­tio­nal­gar­de. Die Na­tio­nal­gar­de un­ter­steht dem In­nen­mi­nis­te­ri­um und ist ei­gent­lich eine pa­ra­mi­li­tä­ri­sche Or­ga­ni­sa­ti­on für die in­ne­re Si­cher­heit. Durch den Krieg wurde sie je­doch zu einem zwei­ten Feld­heer unter dem Kom­man­do des Ge­ne­ral­stabs. Ihre 13. Bri­ga­de ent­stand 2023 aus einem Frei­wil­li­gen­ba­tail­lon der ers­ten Ab­wehr­kämp­fe um Char­kiw zu Be­ginn der rus­si­schen In­va­si­on. Die Khar­tiia un­ter­hält eine ei­ge­ne in­ter­na­tio­na­le Ein­heit und tritt äu­ßerst selbst­be­wusst auf. Ihr An­spruch: eine mo­der­ne Kampf­bri­ga­de nach NATO-Stan­dards zu for­men, „die zum Vor­bild für die neue ukrai­ni­schen Armee wird“, wie es auf ihrer Web­sei­te heißt. Wäh­rend wir in Rich­tung Front fah­ren, er­läu­tert Pres­se­of­fi­zier Wo­lo­dy­myr Dehtya­rov, woher der NATO-Fokus kommt. 2016 be­gann die Na­tio­nal­gar­de erst­mals einen Kampf­ver­band auf­zu­bau­en, der gänz­lich nach NATO-Mus­tern struk­tu­riert und ge­führt wurde – das Rapid Re­ac­tion As­sault Ba­tail­lon, aus­ge­bil­det von den Ka­na­di­ern über die Trai­nings­mis­si­on UNI­FIER, die bis heute läuft. Der da­ma­li­ge Füh­rer des Ba­tail­lons, Igor Obo­li­en­s­kiy, ist heute Bri­ga­de­kom­man­deur der Khar­tiia.

„Für sowas hat man hier keine Zeit“

In einer Sied­lung nahe der Stadt sto­ßen wir zu einer ihrer Droh­nen-Kampf­ein­hei­ten, die sich ge­ra­de auf den nächs­ten Ein­satz vor­be­rei­tet. In der Ferne dröhnt das Feuer der rus­si­schen Ar­til­le­rie. Die Be­dro­hung stel­len hier feind­li­che Droh­nen dar. Wird die Po­si­ti­on der Ukrai­ner auf­ge­klärt, schi­cken die Rus­sen eine Gleit­bom­be oder eine Ra­ke­te. Wer sich zwi­schen den Ge­bäu­den be­wegt, blickt erst nach oben, nicht nach rechts oder links. Im Droh­nen­sicht­schutz einer Gar­ten­lau­be sitzt ent­spannt ein schmäch­ti­ger jun­ger Mann mit Bart­flaum und zieht an sei­ner Zi­ga­ret­te – der 19-jäh­ri­ge Schot­te aus Glas­gow mit dem Kampf­na­men Twist. Warum er hier ist? „Keine Frau, keine Kin­der. Die Leute brau­chen Hilfe hier. Ich will das Sol­da­ten­hand­werk aus­üben.“ Er hat einen Sechs­mo­nats­ver­trag, den er immer wie­der ver­län­gern kann, wie vor Kur­zem ge­sche­hen. 3.000 Dol­lar Sold gibt es im Monat.

Twist ver­ließ vor neun Mo­na­ten die Bri­tish Army, in die er als 16-Jäh­ri­ger ein­trat, dem frü­hest­mög­li­chen Re­kru­tie­rungs­al­ter. Ei­gent­lich ist er aus­ge­bil­de­ter „Rif­le­men“ – zu Deutsch: Schüt­ze. Seine Lang­waf­fe ist ein Nach­bau des US-Sturm­ge­wehrs AR-15 vom ukrai­ni­schen Her­stel­ler Zbroyar. Es ist eine Waffe, die man häu­fig bei ukrai­ni­schen Sol­da­ten sieht und die zu­neh­mend die so­wje­ti­sche Ka­lasch­ni­kow ver­drängt. An Twists Kampf­mon­tur haben neben zwölf Ma­ga­zi­nen noch üp­pi­ge acht Ader­pres­sen, so­ge­nann­te Tour­ni­quets, Platz. „Von denen kann man nie genug haben“, so Twist. Schrapnell­ver­let­zun­gen sind am häu­figs­ten. Der Un­ter­schied zwi­schen bri­ti­scher und ukrai­ni­scher Armee? „Der Um­gang in der Bri­tish Army ist stren­ger. Mehr Be­fehls­ge­brüll, das ak­ku­ra­te Glatt­zie­hen von Bett­de­cken und sol­che Dinge. Hier hat man für so etwas keine Zeit.“

loyal-Re­dak­teur Björn Mül­ler im Ge­spräch mit einem jun­gen, schot­ti­schen Frei­wil­li­gen – Kampf­na­me Twist – der sich der 13. Bri­ga­de Khar­tiia an­ge­schlos­sen hat. (Foto: Tetya­na Chernyavs­ka)

Nach vier Mo­na­ten als Schüt­ze in einem Sto­ß­trupp be­kämpft er nun als Pilot chi­ne­si­scher Droh­nen vom Typ Mavic die Rus­sen. Er zieht sein Smart­pho­ne aus der Ho­sen­ta­sche und lässt ein Video ab­lau­fen, das zeigt, wie eine Droh­ne Hand­gra­na­ten auf rus­si­sche Sol­da­ten fal­len lässt, die über ein Feld ren­nen. „Four Rus­si­ans de­s­troy­ed – vier Rus­sen ge­tö­tet“, sagt er. Er be­zeich­net das als sei­nen bis­lang grö­ß­ten Er­folg als Droh­nen­pi­lot. Laut Twist schi­cken die Rus­sen ihre Sol­da­ten meist ohne Un­ter­stüt­zungs­feu­er in An­grif­fe. „Es ist ver­rückt, die krie­gen noch nicht ein­mal Nebel als Tar­nung.“ Von zehn Rus­sen wür­den es bes­ten­falls drei schaf­fen, sich in Nähe der ukrai­ni­schen Front ein­zu­gra­ben. Von dort ver­su­chen sie dann, die ukrai­ni­schen Feu­er­stel­lun­gen auf­zu­klä­ren. Ein sol­ches rück­sichts­lo­ses Ver­hei­zen ei­ge­ner Kräf­te wie bei den Rus­sen ist für die Ukrai­ner nicht denk­bar – weder unter dem As­pekt der Res­sour­cen noch ide­ell als De­mo­kra­tie.

Die 13. Bri­ga­de ver­sucht, ihre Schüt­zen nur als letz­te Ab­wehr­li­nie zum Ein­satz zu brin­gen, so Twist. Im Vor­feld soll der Feind mit Droh­nen­at­ta­cken ver­nich­tet wer­den. Die Ver­la­ge­rung der Ab­nut­zung des Krie­ges auf die Ma­schi­nen ist bei der Bun­des­wehr noch Zu­kunfts­pla­nung in Kon­zept­pa­pie­ren. Bei der ukrai­ni­schen Armee ist das längst bit­te­re Not­wen­dig­keit, um im Krieg zu be­stehen. Des­we­gen hal­ten ste­tig mehr KI-ge­stütz­te un­be­mann­te Sys­te­me Ein­zug in die Streit­kräf­te. Zur Un­ter­stüt­zung der In­fan­te­rie kün­dig­te Mykhai­lo Fe­do­rov, Droh­nen-Chef­rüs­ter der Ukrai­ne, für die­ses Jahr eine Be­schaf­fungs­of­fen­si­ve von Bo­den­ro­bo­tern an. Diese sol­len Nach­schub in Front­ab­schnit­te brin­gen, die mas­siv unter rus­si­schem Feuer lie­gen und von dort Ver­wun­de­te ber­gen.

Mis­si­ons­pla­nung nach US-Vor­bild

Zu­rück in Char­kiw tref­fen wir in einem Re­stau­rant im Stadt­zen­trum Anton. Mit erst 30 Jah­ren ist er Oberst­leut­nant und Pla­nungs­chef des Sta­bes der 13. Bri­ga­de Khar­tiia. Bei ihm ist der Chief Tech­ni­cal Of­fi­cer im Bri­ga­de­stab – eine Be­zeich­nung, die eher in der frei­en Wirt­schaft ge­läu­fig ist. Er stellt sich als Sla­vik vor, 36 Jahre alt, Leut­nant und IT-Ex­per­te. Sein Kampf­na­me lau­tet „Bit“ nach der kleins­ten In­for­ma­ti­ons­ein­heit eines Rech­ners. Sla­viks Kon­ter­fei ziert auch eines der rie­si­gen Wer­be­pla­ka­te, mit denen die Khar­tiia im gan­zen Land um Nach­wuchs wirbt. Die Bri­ga­de braucht drin­gend junge Män­ner und Frau­en, die den Stra­pa­zen im Feld ge­wach­sen sind.

Sol­da­ten der Khar­tiia-Bri­ga­de mit ihren Kampf­na­men (v.l.n.r.): Kok, Gor­go­na und Tovs­tyi. Als wir sie in ihrem Un­ter­stand tra­fen, frag­te Tovs­tyi mit einem Au­gen­zwin­kern: „Wann lie­fert Deutsch­land den Tau­rus?“ (Fotos: Tetya­na Chernyavs­ka)

Auch für die Re­kru­tie­rungs­kam­pa­gne ist das ‚Wir pla­nen nach NATO-Stan­dards‘ der Leit­spruch. Das hat einen guten Grund. Pla­nungs­chef Anton: „Un­se­re Mis­si­ons­pla­nung mi­ni­miert mensch­li­che Ver­lus­te. Sie läuft nach US-Vor­bild über sie­ben Schrit­te, mit ge­nau­er Ana­ly­se des Geg­ners, un­se­rer ei­ge­nen Po­ten­zia­le sowie dem Ter­rain. Dann wer­den Sze­na­ri­en und Kon­zep­te ent­wor­fen, ab­ge­wo­gen und via War­ga­ming ge­tes­tet. Am Ende gibt es eine ge­naue Ein­wei­sung der Ein­heits­füh­rer über Pro­be­durch­läu­fe und zu­letzt Ge­län­de­übun­gen.“ Sla­vik er­gänzt, dass in ei­ni­gen ukrai­ni­schen Bri­ga­den keine sol­che Ope­ra­ti­ons­pla­nung exis­tiert, was Ver­lus­te wahr­schein­li­cher macht, weil die Auf­ga­ben­ver­tei­lung un­klar ist oder fal­sche An­nah­men eine Ope­ra­ti­on be­las­ten. Zum Er­folg der Kam­pa­gne und dem Per­so­nal­be­stand wol­len sich beide nicht äu­ßern.

Al­ler­dings kann die Khar­tiia bis dato nur einen Ge­fechts­strei­fen von 20 Ki­lo­me­tern bei Char­kiw ab­de­cken. Bei der NATO soll eine Kampf­bri­ga­de 75 Ki­lo­me­ter leis­ten. Dass das für die Ukrai­ner nicht mehr mach­bar ist, liegt auch am Man­gel an schwe­rem Gerät. Seit 2023 will das In­nen­mi­nis­te­ri­um durch sein Pro­gramm „Of­fen­siv­gar­de“ meh­re­re ihrer Gro­ß­ver­bän­de zu schwe­ren me­cha­ni­sier­ten Ma­nö­ver­bri­ga­den ent­wi­ckeln, dar­un­ter die Khar­tiia-Bri­ga­de. Oberst­leut­nant Anton: „Wir bit­ten stän­dig um schwe­res west­li­ches Gerät wie Ar­til­le­rie- und Trup­pen­trans­por­ter, er­hal­ten aber rein gar nichts. Das Pro­blem: Wir sind die Na­tio­nal­gar­de, nicht das re­gu­lä­re Heer.“  Die Ent­schei­dungs­ho­heit über die Zu­wei­sung west­li­cher Ma­te­ri­al­lie­fe­run­gen wie deut­scher Leo­pard-Pan­zer hat al­lein der Ge­ne­ral­stab.

Nur ein Schlacht­feld in einem neuen Welt­krieg?

Mi­li­tär­krei­se in Kyjiw be­stä­ti­gen uns, dass die inner-ukrai­ni­sche Wei­ter­ga­be von mo­der­nen Waf­fen­sys­te­men an die Na­tio­nal­gar­de nicht funk­tio­niert. Dabei wer­den viele von deren Ver­bän­den als be­son­ders ef­fi­zi­ent be­wer­tet. Somit bleibt die Khar­tiia-Bri­ga­de vor­erst ein leich­ter In­fan­te­rie­ver­band, der nur de­fen­si­ve Auf­ga­ben er­fül­len kann. Die wer­den al­ler­dings stän­dig op­ti­miert. Chief Tech­ni­cal Of­fi­cer Sla­vik: „Basis ist die um­fas­sen­de Auf­klä­rung des Fein­des vor allem über Droh­nen, so­dass wir das Schlacht­feld zu un­se­ren Guns­ten ge­stal­ten kön­nen.“ Sla­viks Auf­ga­be ist es, per­ma­nent den IT-Markt zu sich­ten, um neue Sen­so­ren und Tools zur Da­ten­auf­be­rei­tung zu ent­de­cken und rasch zu im­ple­men­tie­ren. Die Basis ist das ukrai­ni­sche Batt­le­ma­nage­ment­sys­tem DELTA. Laut Sla­vik kann des­sen Sen­so­rik in­zwi­schen alle Be­we­gun­gen des Fein­des er­fas­sen, ver­fol­gen und ein um­fas­sen­des La­ge­bild kre­ieren. Da­durch wer­den Trup­pen­samm­lun­gen des Fein­des rasch er­kannt und so­fort mit Droh­nen­feu­er zer­schla­gen, bevor sich ein An­griff ent­fal­ten kann. Flan­kie­rend wer­den die rus­si­schen Front­ein­hei­ten unter Dau­er­stress ge­setzt, indem ihre Be­we­gungs­li­ni­en nachts ver­mint wer­den.

Zwei junge Mi­li­tär­pla­ner (v.l.): Anton (30) ver­ant­wor­tet die Ope­ra­ti­ons­pla­nung im Stab der 13. Bri­ga­de. Sla­vik (36) ist der Chief Tech­ni­cal Of­fi­cer des Bri­ga­destabs. Anton wünscht sich mehr Eigen­initiative der Füh­rer in einer Kamp­f­ope­ra­ti­on – das ist das west­li­che Mi­li­tä­r­ide­al. „Teils muss ich vom ent­fern­ten Stab aus bis ins kleins­te De­tail An­wei­sun­gen geben. Zum Bei­spiel MG-Schüt­zen sagen, wohin sie zie­len sol­len.“ (Fotos: Tetya­na Chernyavs­ka)

Für Anton und Sla­vik ist eine an­ge­kün­dig­te Struk­tur­re­form der Streit­kräf­te über­fäl­lig. Bis­lang zir­ku­lie­ren alle Kampf­bri­ga­den durch di­ver­se Re­gio­nal­kom­man­dos ent­lang der Front. Khar­tiia-Pla­nungs­chef Anton: „Diese Kom­man­dos haben kei­ner­lei Ver­ant­wor­tung für diese Bri­ga­den. Je nach­dem, wo es brennt, teilt ihnen der Ge­ne­ral­stab wel­che zu oder zieht sie ab.“ Nun sol­len grö­ße­re Korps ent­ste­hen, die einen Pool von Bri­ga­den unter sich haben, mit dem sie selbst pla­nen kön­nen. Wenig Hoff­nung haben die bei­den Of­fi­zie­re mit Blick auf den Krieg, in dem sie sich ge­fan­gen sehen. Anton: „Wenn jetzt ir­gend­ein Über­ein­kom­men wegen Trump kommt und Se­len­skyj die Hand von Putin schüt­telt, än­dert das gar nichts. Nach einer Pause greift Russ­land wie­der an.“ Sla­vik hatte sich bei In­va­si­ons­be­ginn vor drei Jah­ren nach Sri Lanka ab­ge­setzt. „Ich dach­te, die Sache wäre rasch vor­bei. Doch als ich ge­se­hen haben, dass dem nicht so ist und Freun­de kämp­fen, bin ich zu­rück­ge­kehrt.“

Wenn der Krieg endet, will er so­fort raus aus dem Mi­li­tär. Doch er wie Anton sehen ihren Ab­wehr­kampf gegen Russ­land in­zwi­schen nur als ein Schlacht­feld in einem kom­men­den neuen Welt­krieg – ein Krieg, in dem der Wes­ten gegen seine au­to­ri­tä­ren Geg­ner Russ­land und China kämpft.

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