Unsicherheit am Polarkreis
In Skandinavien wächst das Interesse an einer engeren Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik. Die Länder im Norden empfinden Russland immer stärker als Bedrohung. Für Schweden und Finnland könnte eine NATO-Mitgliedschaft näher rücken.
Ein Besucher der NATO hat im Herbst beim Nicht-NATO-Mitglied Schweden Aufmerksamkeit erregt – vor allem die Sätze, die er einer großen schwedischen Zeitung gesagt hat: Der deutsche Heeres-General Jörg Vollmer ist seit April 2020 Befehlshaber des Allied Joint Force Command mit Dienstsitz in Brunssum (Niederlande) und damit auch für die Verteidigung in Nordeuropa zuständig. Für die Schweden hatte er im Oktober Interessantes zu verkünden. So sprach er im Interview mit der Zeitung Dagens Nyheter nicht nur von der Zusammenarbeit mit Schweden, die man weiter intensivieren, und den gemeinsamen Übungen, die man fortführen wolle. Er sprach auch über Russland, das er zwar nicht als Feind bezeichnen wollte, wohl aber als Gegner, „der uns jeden Tag testet“. Vollmer sprach vor allem davon, dass man vorbereitet sein müsse, um deutlich zu zeigen, dass es eine Grenze gebe, die Russland nicht überschreiten sollte. Dabei gehe es um die baltischen Staaten, Polen und um die Partnerländer der NATO. Finnland und Schweden durften sich angesprochen fühlen. Auf die Frage, ob es möglich sei, Schweden gegebenenfalls zusammen mit der NATO zu verteidigen, sagte Vollmer: Wenn Schweden um Unterstützung bitte, sei er sich „ziemlich sicher“, dass diese gewährt werde. Das kam dann auch in die Überschrift des Artikels.
Es sind Sätze, die man in Schweden gerne gehört haben dürfte. Genau wie in den anderen Ländern des Nordens, ob Dänemark, Norwegen oder Finnland, ist auch in Stockholm in den vergangenen Jahren das Bedürfnis nach Sicherheit gewachsen. Dabei ist die Zusammenarbeit mit oder die Mitgliedschaft in der NATO nicht der einzige Weg zum Ziel. Auch bei der Kooperation der Länder im Norden untereinander tut sich viel. Längst ist sie ein wichtiger Faktor in den sicherheitspolitischen Planungen dieser Länder geworden.
Idee einer Skandinavischen Verteidigungsunion
Ganz neu sind solche Pläne freilich nicht. Schon als der Zweite Weltkrieg vorüber war, suchten die Nachbarn im Norden nach einem gemeinsamen Weg in die Zukunft, auch militärisch. Norwegen und Dänemark waren von Nazi-Deutschland besetzt worden, Finnland hatte sich unter schweren Verlusten der Sowjetunion erwehren müssen, und auch wenn Schweden den Krieg vom eigenen Boden fernhalten konnte, musste es sich doch neu orientieren. So war damals die Idee einer Skandinavischen Verteidigungsunion geboren worden. 1948 und 1949 wurde sie intensiv diskutiert, allerdings nur, um bald wieder zu den Akten gelegt zu werden. Das hatte in gewisser Weise auch mit der NATO zu tun – es war umstritten, wie die Skandinavische Verteidigungsunion sich zu den Mächten in West und Ost positionieren und wie es mit dem Beistand aussehen sollte.
Dänemark und Norwegen traten kurz darauf der NATO bei, Schweden und Finnland versuchten es bündnisfrei und sind bis heute keine Mitglieder. Auch wenn von einer Skandinavischen Verteidigungsunion keine Rede mehr ist, so schreitet die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Norden in den vergangenen Jahren doch voran – in unterschiedlichen Formen und Formaten. Ende September 2020 wurde ein weiterer Schritt unternommen mit der Unterzeichnung einer gemeinsamen Absichtserklärung der Verteidigungsminister von Norwegen, Finnland und Schweden auf einem norwegischen Stützpunkt. Auslöser für diese Fortschritte ist vor allem eine gemeinsam empfundene Bedrohung, oder eben ein Gegner: Russland.
In einem gemeinsamen Gastbeitrag zur Unterzeichnung der Absichtserklärung erwähnten die Verteidigungsminister Russland zwar nicht explizit, aber sie schrieben doch am Anfang: „Wir leben in unvorhersehbaren Zeiten mit neuen Herausforderungen und Bedrohungen, die zu einem Gefühl der Unsicherheit in unseren Gesellschaften beitragen.“ Man erlebe eine „zunehmend herausfordernde Sicherheitslage sowohl global als auch in unserer Nachbarschaft“. Gemeinsam habe man die Verantwortung, Frieden und Stabilität in der Region aufrechtzuerhalten, und um dieser Verantwortung gerecht zu werden, „müssen wir unsere Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln weiter stärken“.
Ungleiche Ziele, ungleicher Einsatz
Doch auch wenn die Länder im Norden schon länger versuchen, sicherheitspolitisch enger zu kooperieren, so tun sie es nicht immer mit den gleichen Zielen und dem gleichen Einsatz. Überraschend ist das nicht, schließlich wählt jedes Land seinen sicherheitspolitischen Weg nicht nur im Blick auf die eigene geostrategische Lage, sondern auch auf die Erfahrungen mit Nachbarn und anderen Ländern oder der eigenen politischen Kultur, Größe und Stärke. Zu dieser komplizierten Rechnung kommen dann noch all die Verflechtungen und Verpflichtungen hinzu, von der NATO bis hin zur EU mit ihrer eigenen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.
Am Ende können da kaum identische Ergebnisse stehen, auch nicht in den oberflächlich betrachtet recht ähnlich anmutenden modernen und wohlhabenden Demokratien des Nordens. Schweden und Finnland verbinden dunkle Stunden in ihrer Geschichte mit Russland, Finnland und Norwegen teilen zudem eine Grenze mit der Großmacht im Osten – und allen dreien ist gemein, dass ihr Territorium im Falle eines Konflikts mit Moskau von Experten als untrennbares Operationsgebiet angesehen wird. Vollmer sprach in Schweden auch davon, wie wichtig das Land mit seiner langen Ostseeküste und der Kontrolle des Öresunds sei.
NORDEFCO
So schlossen sich Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Island (auch ohne reguläre eigene Streitkräfte Mitglied in der NATO) im Jahr 2009 zur Nordischen Verteidigungskooperation (NORDEFCO) zusammen. Sie ist eine zentrale Plattform für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit geworden. In die Rechnung flossen weitere Faktoren ein: Der internationale Krieg gegen den Terror kostete Kraft, und der Georgien-Krieg hatte vor allem in Schweden und Finnland die Furcht vor Russland geweckt. Zudem waren über Jahre hinweg die Verteidigungsbudgets im Norden nicht gestiegen oder gar gekürzt worden. Schweden war gerade noch dabei, sich von der Wehrpflicht zu verabschieden.
„Die Ansprüche waren groß“, sagt Kjell Inge Bjerga mit Blick auf NORDEFCO. Bjerga ist Direktor des Norwegischen Instituts für Verteidigungsstudien. „Die Grundidee war, sich zu ergänzen“, sagt er. Im Extremfall hätte dies eine vereinte Streitmacht bedeutet: Finnland, hauptsächlich verantwortlich für die Landstreitkräfte, Schweden für die Luftwaffe und Norwegen für die Marine. Aber die NATO-Mitgliedschaften von Dänemark, Norwegen und Island hätten dem Projekt Grenzen gesetzt. Man habe in den vergangenen Jahren Aufs und Abs erlebt, sagt Bjerga. In manchen Bereichen habe es Erfolge gegeben, vor allem bei der gemeinsamen Ausbildung der Streitkräfte und Übungen. In anderen habe es eher bescheidene Errungenschaften gegeben, wie bei der Entwicklung militärischer Fähigkeiten und bei der Abstimmung der Verteidigungspläne.
Sicherheitsbedenken statt Kosteneffizienz
Zwei Phasen der Entwicklung von NORDEFCO sieht Jacob Westberg, Wissenschaftler an der Schwedischen Verteidigungsuniversität. „Während bei der anfänglichen Zusammenarbeit die Kosteneffizienz im Mittelpunkt stand, wird die gegenwärtige Phase, die nach dem Krieg in der Ukraine begann, hauptsächlich von Sicherheitsbedenken bestimmt“, sagt er. Dabei verlässt sich Dänemark vor allem auf die NATO, während Schweden nicht nur das eigene Verteidigungsbudget erheblich erhöhte und die Wehrpflicht wieder einführte, sondern auch die Zusammenarbeit mit Finnland intensivierte und beide Länder zusammen wiederum jene mit der NATO. Helsinki und Stockholm nehmen nicht nur an NATO-Übungen teil, sondern haben auch ein Gastland-Abkommen mit dem Bündnis unterzeichnet.
Aber auch NORDEFCO wird in dieser zweiten Phase mehr Aufmerksamkeit gewidmet. 2018 wurden mit der „Vision 2025“ die Ziele für die NORDEFCO höher gesteckt: Die Verteidigungszusammenarbeit sollte nicht mehr nur in Friedenszeiten greifen, sondern auch im Falle einer Krise oder eines Konflikts. Die nun von Norwegen, Schweden und Finnland unterzeichnete Absichtserklärung baut darauf auf und wird konkreter: So heißt es, dass eine gemeinsame strategische Planungsgruppe eingerichtet und nationale Operationspläne koordiniert werden sollen.
Die Absichtserklärung konzentriere sich auf die Stärkung der operativen militärischen Zusammenarbeit, sagt Bjerga. Sie sei sehr ambitioniert, und falls sie realisiert werden würde, könne man eine neue Qualität der militärischen Zusammenarbeit erreichen: „Die Fähigkeit und Bereitschaft, koordinierte Militäreinsätze in Krisen und Konflikten durchzuführen, bedeutet, die operativen Pläne in den nordischen Ländern zu koordinieren“, äußert er. „Dies wurde im Rahmen von NORDEFCO bisher nicht erreicht.“
Sicherheitspolitische Kooperation der Skandinavier
Noch geht es mehr um Absichten als um feste Zusagen. Eine rechtliche Verpflichtung stellt die Erklärung nicht dar, schon gar nicht zum Beistand. Stattdessen wird festgehalten, dass Norwegen im Kriegsfall plane, das Kommando an die NATO abzugeben. Die Erklärung sei zwar kein „Gamechanger“, sagt Westberg. Aber es sei immerhin der Versuch, auch sicherheitspolitisch gemeinsam voranzukommen. Die sicherheitspolitische Kooperation der nordischen Länder sei wichtiger als je zuvor, sagt Bjerga. Wegen der Bedrohung, die Russland darstelle, aber auch wegen China als kommender Macht auch im europäischen Teil der Welt und speziell im Blick auf die Arktis-Region.
Immerhin scheint sich die Unsicherheit wegen der Zukunft der NATO nach der Abwahl von Donald Trump als amerikanischen Präsidenten nicht weiter zu vertiefen, im Gegenteil. Das dürfte nicht nur in den sicherheitspolitischen Rechnungen der NATO-Mitglieder unter den Ländern im Norden wichtig sein, sondern auch für Schweden und Finnland.
Als General Vollmer in Schweden zu Besuch war, wurde die NATO-Flagge über der Zentrale der schwedischen Streitkräfte gehisst. Schweden und Finnland sind der NATO so nah wie noch nie in ihrer Geschichte. Von der jahrzehntelang vorgegebenen Neutralität kann praktisch keine Rede mehr sein. Doch trotz des Gastlandabkommens, den gemeinsamen Übungen und der Zeitungszitate von Vollmer nach seinem Besuch in Schweden sind der Zusammenarbeit Grenzen gesetzt. Um sich auf den Bündnisfall aus Artikel 5 des NATO-Vertrags verlassen zu können, müssten sie schon Mitglieder werden.
NATO-Mitgliedschaft ist nicht abzusehen
Dieses Thema aber ist politisch in Stockholm und Helsinki heikel. Eine Mitgliedschaft ist nicht abzusehen, auch wenn Finnland sich die NATO-Option offen hält. In Schweden ist man noch zurückhaltender, aber auch dort verändert sich die Diskussion langsam. Erst im Januar hat eine Umfrage ergeben, dass der Widerstand in der Bevölkerung gegen eine Mitgliedschaft schrumpft. Demnach lehnten noch 35 Prozent der Befragten eine Mitgliedschaft ab, 33 Prozent befürworteten diese.
Als im Dezember die Linien für die schwedische Verteidigungspolitik der nächsten fünf Jahre im Reichstag beschlossen wurden, gab es auch in Stockholm Diskussionen über eine NATO-Option. Die Regierung lehnte sie ab. Dafür legte sie eine enorme Steigerung im Verteidigungshaushalt fest: bis 2025 soll er auf 89 Milliarden Kronen steigen. Das wäre doppelt so viel wie noch im Jahr 2016. In einer Stellungnahme des Verteidigungsministeriums zu dem Plan wird von der verschlechterten Sicherheitslage gesprochen. Ein Angriff auf Schweden könne nicht ausgeschlossen werden. In dem Papier wird auch der weitere Ausbau der Verteidigungszusammenarbeit angesprochen und festgestellt, dass Schweden nicht passiv bleiben werde, wenn ein anderes EU-Mitglied oder nordisches Land eine Katastrophe erleide – oder einen Angriff. Man erwarte, dass diese Länder auf die gleiche Weise handelten, wenn Schweden betroffen sei.