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Verstecktes Gedenken

Mehr als 3.300 Bundeswehrsoldaten haben in Ausübung ihres Dienstes seit 1955 ihr Leben gelassen. Ein kleiner Teil von ihnen fiel in Kampfeinsätzen, vor allem in Afghanistan. Die Bundeswehr tut sich schwer mit dem Gedenken an ihre Getöteten und Gefallenen. Und der Gesellschaft scheinen die Toten gänzlich egal zu sein.

Die Historikerin Julia Katharina Nordmann sitzt vor dem Ehrenmal der Bundeswehr an der wenig bekannten Hildebrandstraße in Berlin. Diesen Ort muss man bewusst aufsuchen. Zufällig kommt hier niemand vorbei.

Foto: Stephan Pramme

Wald der Erinnerung: Gedenkstätte der gefallenen Soldaten vom OP North in Afghanistan.

Foto: Bundeswehr/Hannemann

Die Hildebrandstraße in Berlin-Tiergarten ist eine unscheinbare Straße. 330 Meter lang führt sie vom Großen Tiergarten zum Landwehrkanal. Sie wurde 1853 vom Konditor und preußischen Hoflieferanten Theodor Hildebrand als Privatstraße angelegt und hieß anfangs auch so – „Hildebrands Privatstraße“. Im Krieg wurden hier fast alle Häuser zerstört, nur drei blieben stehen. Heute ist die Straße eine der wichtigsten Adressen für die Gedenkkultur der Bundeswehr.

Erst 1956 wurde sie für die Öffentlichkeit überhaupt zugänglich. Privat fühlt man sich noch heute. Es ist ruhig, kein Mensch ist zu sehen. Nur gelegentlich fährt ein Auto vorbei. Meist ist das Ziel eine der Botschaften, die hier zu finden sind: zum Beispiel die der Slowakei, Hausnummer 25. Oder die von Estland, Hausnummer 5. Deren Haus ist nach der schweizerischen Botschaft die älteste diplomatische Vertretung in Berlin, erworben vom estnischen Staat schon 1920. Der frühere estnische Präsident Lennart Meri verbrachte in dem stattlichen Gebäude einen Teil seiner Kindheit; sein Vater Georg war in den 1930er-Jahren Legationsrat an der Botschaft in der Hildebrandstraße.

Gegenüber der estnischen Botschaft liegt der Hinterhof des Bendlerblocks, des Verteidigungsministeriums: ein riesiger grauer und in der Regel menschenleerer Platz. Ganz am Rande dieses Hinterhofs, direkt an der Hildebrandtstraße, befindet sich das Ehrenmal der Bundeswehr. Es handelt sich um einen modernen Bau aus Stahlbeton, verkleidet durch eine Hülle aus Bronze. Die Bronzeverkleidung ist mit Stanzlöchern versehen. Sie erinnern optisch an die Erkennungsmarken, mit denen verstorbene Soldaten identifiziert werden können.

„Institutionelle Amnesie“

Etwas Unwirtliches liegt über der Ödnis hinterm Bendlerblock, der menschenleeren Hildebrandstraße und dem Ehrenmal. In das Ehrenmal selbst, in den „Raum der Stille“ kommt man nicht immer. Wenn es geöffnet ist, dann findet sich der Besucher in einem schlichten schwarzen Raum wieder, durch ein Oberlicht fällt Licht. Blumen und Erinnerungsstücke können auf einer polierten Platte abgelegt werden, die sich schräg aus dem Boden erhebt. Die Namen der toten Bundeswehrangehörigen, die seit Gründung der Streitkräfte 1955 in Ausübung ihres Dienstes gestorben sind, werden an eine Wand projiziert. In Reliefschrift heißt es: „Den Toten der Bundeswehr. Für Frieden, Recht und Freiheit.“ Nebenan gibt es einen Informationsraum, in dem gelegentlich Veranstaltungen stattfinden, zum Beispiel Podiumsdiskussionen.

So würdig-schlicht der Innenraum des Ehrenmals gestaltet ist, so verloren liegt das Gebäude am äußersten Rand des Geländes des Verteidigungsministeriums. Weiter weg vom Bendlerblock wäre es nicht möglich gewesen. Richtig integriert in die Kühle der diplomatischen Nachbarschaft ist es auch nicht. Das Ehrenmal wirkt verhuscht, so als wolle man der Toten zwar würdig gedenken, aber keinesfalls vor allzu großem Publikum. Es ist die Architektur gewordene Unsicherheit der Bundeswehr im Umgang mit ihren Toten.

Historikerin Nordmann an der Gedenkstätte für die Toten der Bundeswehr. Sie hat ihre Doktorarbeit über die Gedenkkultur in den Streitkräften geschrieben. (Foto: Stephan Pramme)

Die Historikerin Julia Katharina Nordmann hat sich intensiv mit der Gedenkkultur der Bundeswehr beschäftigt und im vergangenen Jahr ihre Doktorarbeit dazu veröffentlicht. Ausgangspunkt war für sie die „große Distanz“, die die Bundeswehr über Jahrzehnte zu ihren verstorbenen Soldaten pflegte. „Manche Todesfälle vor allem in den späten 1950er- und 1960er-Jahren wurden nicht einmal dauerhaft erfasst und die Toten schlicht vergessen“, bedauert sie. Es habe geradezu eine „institutionelle Amnesie“, also die Unfähigkeit zur Erinnerung, gegeben – ein Begriff, den der Journalist Jochen Rack geprägt hat. Nordmann: „Man hat alles getan, um das Thema möglichst weit wegzuschieben.“ Diese Amnesie endete erst während des ISAF-Einsatzes in Afghanistan. Bis dahin waren tote Soldaten in der Bundeswehrführung kein Thema. Kein Geringerer als Generalleutnant Wolf Graf Baudissin, der Begründer der Inneren Führung und einer der maßgeblichen Männer beim Aufbau der Bundeswehr, hatte das Thema klein geredet, indem er befand, dass der Soldatentod eine reine Nebenfolge des soldatischen Auftrags sei. Nordmann sagt: „Wenn man so redet, braucht man auch kein Totengedenken.“

Erinnerungspolitische Kehrtwende

Dass das heute anders ist, liegt nach ihrer Überzeugung auch an dem Ehrenmal in der Hildebrandstraße. Die Einweihung dieser zentralen Gedenkstätte 2009 war eine gedenk- und erinnerungspolitische Kehrtwende der Bundeswehr. Später kam noch der Wald der Erinnerung am Sitz des Einsatzführungskommandos in Schwielowsee bei Potsdam hinzu. Aber auch das liegt versteckt, ist weit weg und schwer zu erreichen.

Den Beginn der Auseinandersetzung mit dem Thema Gedenken datiert Nordmann auf das Jahr 1995. Da bestand die Bundeswehr bereits seit 40 Jahren. Nordmann: „Es gab in dem Jahr eine Umfrage bei den Teilstreitkräften, wie sie ihrer Toten gedenken. Eine der Fragen des Verteidigungsministeriums war, ob Interesse an einem zentralen Gedenkstein auf dem Gelände des Ministeriums bestehe. Die Antwort war damals nein, unter anderem weil man befürchtete, dass es in der Öffentlichkeit nicht gut ankommen würde.“

Die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen weiht im Rahmen eines Festaktes das Buch des Gedenkens am Ehrenmal der Bundeswehr ein. (Foto: Bundeswehr/Steinert)

Angst vor Heldengedenken gibt es im postheroischen Zeitalter, in dem wir in Deutschland leben, bis heute. Als es darum ging, einen Platz in Bielefeld nach dem im Karfreitagsgefecht bei Kunduz 2010 gefallenen Hauptgefreiten Martin Augustyniak zu benennen, wurde das von der örtlichen SPD zunächst abgelehnt. Begründung: Man wolle keine Kultstätte für Helden schaffen und nicht die falschen Leute anziehen. Seit dem ​1. Oktober 2020 heißt eine unscheinbare Wiese im Bielefelder Stadtteil Brackwede nun doch Martin-Augustyniak-Platz. In Stadtallendorf wurde eine Straße nach Hauptmann Markus Matthes benannt, der 2011 in Afghanistan durch eine Sprengfalle ums Leben kam. Zwei Kasernen tragen die Namen von Bundeswehr-Gefallenen: die Major-Radloff-Kaserne in Weiden in der Oberpfalz und die Hauptfeldwebel-Lagenstein-Kaserne in Hannover. In Augustdorf wurde ein Lehrsaalgebäude nach Alexej Kobelew benannt. Sie alle ließen ihr Leben in Afghanistan.

Eigene Geschichte stiftet Tradition

Ihre Namen fügen sich in eine Gedenkkultur ein, in der die Bundeswehr immer stärker auch Bezüge in der eigenen Geschichte für ihr Traditionsverständnis findet. Der Traditionserlass von 2019 hebt denn auch die eigene Geschichte der Bundeswehr hervor. Die Gefallenen, nach denen Gebäude, Kasernen und Straßen benannt werden, sind für die heutige Soldatengeneration Vorbilder – nicht nur, weil sie tapfer gekämpft haben, sondern auch, weil sie Menschlichkeit bewiesen haben. Zum Beispiel, weil sie im Gefecht trotz eigener Verwundung versucht haben, Kameraden zu retten, so wie Martin Augustyniak. Historikerin Nordmann: „Kameradschaft und Menschlichkeit – darum geht es heute in der Gedenkkultur der Bundeswehr.“

Auch wenn die Bundeswehr inzwischen „ihre Spur im Gedenken gefunden hat“, wie Nordmann befindet, überwiegt in der deutschen Gesellschaft immer noch das Desinteresse an den Gefallenen. So sei das Ehrenmal in der Hildebrandstraße bis heute nicht in der Öffentlichkeit verwurzelt. „Viele Menschen wissen gar nicht, dass es das gibt“, beklagt die Historikerin.

Das Ehrenmal auf dem Gelände des Bundesministeriums der Verteidigung in Berlin wurde für Angehörige der Bundeswehr errichtet, die in Folge der Ausübung ihrer Dienstpflichten für die Bundesrepublik Deutschland ihr Leben verloren haben. (Foto: Bundeswehr/Bienert)

Offensiver wird das Thema von den Veteranenverbänden angegangen. Auf der Ebene einer „Graswurzelbewegung“, wie der Deutsche Bundeswehrverband über die Veteranenbewegung schreibt, geht vieles. Insbesondere die Aktion „Der leere Stuhl“ ist eine Form des aktiven Gedenkens. Dabei lassen seit 2017 Familien jedes Jahr zu Weihnachten einen Platz an ihren Festtafeln frei, um an die getöteten und gefallenen Kameraden zu erinnern und Solidarität mit Einsatzveteranen und Hinterbliebenen zu demonstrieren.

Marsch zum Gedenken

Eine der bekannteren Aktionen ist der jährliche „Marsch zum Gedenken“, der zuletzt im Juli stattfand. Soldaten marschieren dabei seit 2018 eine Strecke von 116 Kilometern, die für die 116 in Auslandseinsätzen Gefallenen steht, plus weitere 3.377 Meter für die 3.377 Bundeswehrsoldaten, die in Ausübung ihres Dienstes ihr Leben verloren haben. Jeder Marschierer trägt das Namensband eines Toten. Am Brandenburger Tor trifft die Marschkolonne auf die Hinterbliebenen. Am Ehrenmal werden Kränze niedergelegt und der Toten gedacht. Das Ganze geschieht allerdings unter äußerst geringer Medienresonanz, wie der ehemalige Verteidigungs-Staatssekretär Peter Tauber in seinem Blog beklagte: „Über den Marsch zu berichten, darauf kommt man in deutschen Redaktionsstuben wohl leider nicht.“

Den jährlichen „Marsch zum Gedenken“ des Reservistenverbandes gibt es seit 2018. (Foto: Bundeswehr)

Auf Anfrage von loyal erklärte das Verteidigungsministerium, wie Minister Boris Pistorius zum Gedenken an gefallene und im Dienst gestorbene Soldaten steht. Eine Sprecherin antwortete: „Täglich blickt er auf das Ehrenmal der Bundeswehr. So hat er den zentralen Ort des Gedenkens wortwörtlich vor Augen.“

Der jährliche Etat für den Unterhalt des Ehrenmals beträgt nach Auskunft des Ministeriums 6.030,20 Euro und für den angrenzenden „Raum der Information“ 13.103,08 Euro. Für die Pflege der Gedenkstätte Wald der Erinnerung werden jährlich circa 45.000 Euro aufgewendet. Weitere Initiativen der Leitungsebene des Ministeriums in Sachen Gedenkkultur, sind in nächster Zeit nicht zu erwarten, so die Sprecherin.

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