Wiederbelebung eines Hirntoten
Die NATO ist in schwierigem Fahrwasser. Die weltpolitische See ist rau, das Schiff ist leck, die Mannschaft an Bord zerstritten, der Kurs unklar. Das Bündnis muss sich neu erfinden – wieder einmal. Eine Reflexionsgruppe hat jetzt erste Vorschläge für die „NATO 2030“ gemacht. Co-Vorsitzender der Gruppe war der frühere deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière. Tiefgreifende Reformen stehen an.
Ein Mensch gilt als hirntot, wenn weiträumig absterbende Nervenzellen zum Ende aller Hirnfunktionen führen, während der Kreislauf mechanisch weiter arbeitet und die Atmung künstlich aufrecht erhalten wird. Ein Hirntoter ist quasi ein lebender Leichnam. Mit diesem Bild hat der französische Präsident Emmanuel Macron in einem Interview mit dem englischen Magazin „The Economist“ im November 2019 den Zustand der westlichen Allianz beschrieben (hier der Tagesschau-Beitrag dazu). Den NATO-Mitgliedern fuhr angesichts des krassen Vergleichs der Schock in die Glieder.
Macron bezog sich auf Alleingänge einiger Mitglieder und auf den damaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der erwogen hatte, gleich ganz aus dem Bündnis auszutreten, das er als „obsolet“ bezeichnete. Die Sowjetunion existierte ja nicht mehr, also braucht man auch die NATO nicht mehr, so Trumps Schlussfolgerung. In die Hände spielte ihm, dass wichtige Bündnispartner wie Deutschland nicht lieferten – jedenfalls nicht die vereinbarten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung. Berlin tut das bis heute nicht. Trump begann aus etlichen Ländern unabgestimmt mit der NATO Truppen abzuziehen: aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, auch aus Deutschland. Das US-Repräsentantenhaus sah sich genötigt, mit einem „NATO Support Act“ Zweifel auszuräumen, dass die Vereinigten Staaten ihren Beistandsverpflichtungen nicht nachkommen würden. So weit ist es also gekommen.
Das NATO-Mitglied Türkei macht was es will und stürzt sich in militärische Abenteuer in Syrien, im Irak und im Kaukasus. Ankara kauft Waffen in Russland, liefert militärisches Gerät nach Libyen und scheut sich nicht vor Konflikten mit dem NATO-Partner Griechenland. Das Brüsseler Hauptquartier kann bei alldem nur zusehen. Die NATO ist an einem Tiefpunkt. Wie soll es weitergehen? Geht da überhaupt noch etwas? Kann man den hirntoten Patienten ins Leben zurückholen?
Nichts zu feiern im Jubiläumsjahr
2019, als Macron ihren Hirntod diagnostizierte, wurde die NATO 70 Jahre alt. Zu feiern gab es angesichts der fundamentalen Krise nichts, obwohl 70 Jahre für ein Staatenbündnis ein geradezu biblisches Alter ist und in normalen Zeiten durchaus ein Grund zur Freude. Die amerikanische Denkfabrik Brookings Institution hat herausgefunden, dass in den vergangenen 500 Jahren Staatenbündnisse im Schnitt 15 Jahre gehalten haben. Die NATO ist also inzwischen fast viermal über ihre statistisch erwartbare Lebensdauer hinaus – aber sie geht, wenn sie schon nicht wirklich hirntot ist, zumindest am Stock.
Auch wenn Deutschlands finanzieller Beitrag von der Trump-Regierung stets kritisiert wurde, so nahm Berlin immerhin das Heft des Handelns in die Hand und schlug einen Beratungsprozess vor, in dem Empfehlungen erarbeitet werden sollten, wie die Wiederbelebung laufen könnte. Der frühere Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière wurde im April 2020 zusammen mit dem US-Diplomaten Wes Mitchell, einem Republikaner, Co-Vorsitzender dieses Reflexionsgruppe genannten Gremiums. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg besetzte es klug mit insgesamt zehn Persönlichkeiten, die alle Lager repräsentierten – fünf Frauen und fünf Männer. Inzwischen hat die Gruppe ihr einstimmig verabschiedetes Ergebnis vorgelegt, ein 67 Seiten langen Bericht mit dem Titel „NATO 2030: United for a new era“. Einer knapp gehaltenen Analyse der sicherheitspolitischen Lage folgen 138 Vorschläge, wie die Allianz handlungsfähiger, in Krisensituation schneller und untereinander einiger werden kann. Vorbild war der ähnlich strukturierte Bericht der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright, der 2010 zur heute noch gültigen NATO-Strategie „Aktives Engagement, moderne Verteidigung“ geführt hat.
Neues strategisches Konzept muss her
Thomas de Maizière ist sichtlich zufrieden, als loyal mit ihm im Deutschen Bundestag über seine Arbeit an dem Papier der Reflexionsgruppe spricht. „Wir haben uns coronabedingt physisch nie getroffen“, sagt de Maizière, „wir hatten stattdessen mehr als hundert Videositzungen, haben mit rund 70 Experten aus aller Welt gesprochen, mit Vertretern aller NATO-Staaten und wichtigen Partnerorganisationen wie EU, OSZE, Afrikanischer Union. Die Tatsache, dass wir das so erfolgreich hinbekommen haben, ohne uns auch nur einmal physisch zu treffen, ist wohl einmalig in der Geschichte der NATO.“ Die drei wichtigsten Ergebnisse sind aus de Maizières Sicht erstens die Erkenntnis, dass die NATO ein neues strategisches Konzept braucht, zweitens eine Antwort auf die Herausforderung Chinas und drittens eine Veränderung der Kommunikationskultur innerhalb der Allianz.
Die aus dem Jahr 2010 stammende NATO-Doktrin ist überholt. Zwei Jahrzehnte lang drehte sich im Bündnis nach dem Fall des Eisernen Vorhangs alles um eine Einbindung der Staaten des zerfallenen Warschauer Pakts, um Annäherung an Russlands, Abrüstung, Auslandseinsätze und einen vernetzten und erweiterten Sicherheitsbegriff. In der NATO-Strategie von 2010, in der diese Ansätze ihren Widerhall fanden und fortentwickelt wurden, wird Russland als Partner bezeichnet. China kommt darin nicht vor.
2014 schlug bereits dieser Strategie das Totenglöckchen, als Russland die Krim annektierte und gegen die Ukraine zu Felde zog. Russlands Präsident Wladimir Putin gab der NATO unmissverständlich zu verstehen, dass er gar kein Partner des Westens sein wolle, sondern allein aus eigenen machtpolitischen Überlegungen heraus handelt. Im Nachhinein erscheint es erstaunlich, dass über das von Moskau zerschnittene Tischtuch fünf Jahre ins Land gehen mussten, bis die NATO überhaupt begann, ihr bisheriges Konzept zu überdenken. Es passte längst nicht mehr in die sich rasanter denn je verändernde Welt, wie auch der Aufstieg Chinas als militärische Großmacht zeigte, der lange Zeit für die Allianz keine Rolle zu spielen schien, ja den sie augenscheinlich nicht einmal wahrnahm.
De Maizère drückt daher nicht ohne Grund aufs Tempo, was eine neue Strategie angeht. „Wir haben vorgeschlagen, dass das neue Konzept auf dem nächsten NATO-Gipfel beauftragt wird und es nicht lange dauern darf, bis es auf dem Tisch liegt. Ein Jahr muss reichen. Die Debatte darüber darf keine Ausrede dafür sein, dass sich nichts ändert“, sagt er loyal.
„Die NATO braucht jetzt eine China-Strategie“
Auch das zweite wichtige Thema, dem sich die Reflexionsgruppe angenommen hat, verzeiht keine Verzögerung: China. „Die NATO braucht jetzt eine China-Strategie“, mahnt de Maizière. Anders als Russland wird die Volksrepublik im Abschlussbericht trotz seiner beispiellosen Aufrüstung nicht als Gegner bezeichnet. Das hat Beobachter überrascht. „China ist ein wichtiger Handelspartner, aber auch ein Systemrivale. Es geht um die Frage, welches System besser in der Lage ist, Zukunftsfragen zu lösen“, so de Maizière. Er räumt ein, dass bei der Systemkonkurrenz zwischen China und dem Westen die NATO nicht der erste Ansprechpartner ist, sondern der Westen insgesamt. Aber weil mit der Rivalität ein Dominanzanspruch Chinas verbunden ist, der sich auch militärisch auswirkt, habe dies durchaus massive sicherheitspolitische Folgen. De Maizière: „Es ist Aufgabe der NATO, darauf eine strategische Antwort zu finden. Dazu gehört, dass die NATO ihre Partnerschaft mit den Demokratien in Asien – Australien, Neuseeland, Südkorea, Japan – ausbaut. Wir schlagen ein Gremium vor, das sich mit all diesen Fragen beschäftigt.“
Eng verbunden mit dem Thema China – aber auch mit Russland und seiner notorischen Rumfummelei im Internet und wiederholten virtuellen Einmischungen etwa in amerikanische Präsidentschaftswahlen – sind disruptive neue Technologien. Das sind zwar keine klassischen militärischen Sicherheitsherausforderungen, aber sie sind für die kritische Infrastruktur des Westens dennoch von größter Bedeutung. Cyber, Weltraum, künstliche Intelligenz: alles Themen, die die NATO und ihre Mitgliedsstaaten direkt betreffen, wie die wiederholten Hackerangriffe bis hinein in den Kern der Demokratien etwa auf den Bundestag gezeigt haben. De Maizière ist überzeugt davon, dass sich die NATO diesen Themen stärker als bisher annehmen muss, allerdings ohne sich dabei überdehnen zu dürfen. „Die NATO ist keine UNO des Westens, aber wenn der sicherheitspolitische Begriff sich erweitert, dann muss sich das Bündnis damit beschäftigen.“
Dabei stellt sich die Frage, wie diese Beschäftigung konkret aussehen soll. Der Bericht der Reflexionsgruppe macht Vorschläge, und das ist nach de Maizières Ansicht der dritte Schwerpunkt. Es geht um die Art und Weise, wie in der NATO kommuniziert und wie der Umgang miteinander gestaltet wird. Das Bündnis müsse „wieder das sicherheitspolitische Forum für die NATO-Staaten werden, das es im Moment nicht ist“, postuliert de Maizière. „Es besteht aktuell eher die Tendenz, dass man Probleme und Spannungen lieber nicht anspricht.“ Mit Blick auf eine Wiederbelebung der Allianz als munteres sicherheitspolitisches Forum sind viele Untervorschläge der Reflexionsgruppe verbunden, die neue Formen der Kommunikation ermöglichen sollen.
Schluss mit ritualisierten Debatten
„Die ritualisierten Debatten müssen aufhören“, sagt de Maizière im loyal-Gespräch. „Es kann nicht immer alles schon vorher feststehen, wenn die Minister sich treffen. Die Papiere müssen so geschrieben sein, dass man sie verstehen kann. Es muss mehr informelle Treffen geben. Bei Themen, die über das Militärische hinausgehen, müssen andere Ressorts einbezogen werden: Inneres, Wirtschaft, Forschung, Finanzen, Entwicklungshilfe. Die öffentliche Kommunikation muss erweitert werden, sie muss raus aus der sicherheitspolitischen Blase.“ Das bedeutet: „Insgesamt muss die NATO wieder sichtbarer und relevanter werden. Es darf nicht alles geheim bleiben. Wenn wir zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben sollen, müssen die Bürger wissen, wofür das Geld verwendet wird.“
Was die Reflexionsgruppe allerdings bei allem Reformeifer beibehalten möchte, ist das Einstimmigkeitsprinzip. „Wir haben das Thema kritisch erörtert“, sagt de Maizière, „wollen nach intensiver Diskussion aber daran festhalten. Einstimmigkeit ist eine wesentliche Basis der Willensbildung innerhalb der NATO.“ Er räumt ein, dass das Einstimmigkeitsprinzip immer wieder missbraucht worden sei, um Partner zu erpressen oder Einzelinteressen durchzusetzen. Die Reflexionsgruppe schlägt zum einen eine Stärkung der Rolle des Generalsekretärs vor, zum anderen strengere Regeln für schnelle Entscheidungen durch Fristsetzung. Zudem sollen Blockaden – wenn überhaupt – nur noch auf Ministerebene ausgesprochen werden und nicht wie bislang in den Tiefen der Organisation möglich sein.
„Der Preis einer Blockade muss höher sein als jetzt: Ein Minister muss den anderen Ministern öffentlich ins Gesicht sagen, dass sein Land diese oder jene Entscheidung blockiert. Das wird dann nicht mehr so oft geschehen“, vermutet der frühere Verteidigungsminister. Schließlich will die Reflexionsgruppe zur Verbesserung der Zusammenarbeit ein Prinzip einführen, das sich in der EU bewährt habe: das der verstärkten Zusammenarbeit. „Es soll möglich sein, dass einige Staaten unter dem Hut der NATO etwas machen dürfen, bei dem die anderen nicht verpflichtet sind mitzumachen. Das hat es bislang hin und wieder und mehr zufällig gegeben, etwa beim Libyen-Einsatz. Wir wollen es strukturell verankern.“ Insgesamt wollen de Maizière und seine Reflexions-Kollegen, dass Entscheidungen der NATO sichtbarer werden, auch das Ringen um solche Entscheidungen. Die EU könnte dabei ebenfalls als Vorbild dienen: Beratungen in Einzelrunden und im Plenum, Beichtstuhlverfahren, Pressestatements. „Wir möchten, dass die Öffentlichkeit mehr erfährt von diesen Anstrengungen im Ringen um Einstimmigkeit. Wir wollen eine neue Debattenkultur.“
Disruptive Technologien vs. klassische Wehrtechnik
In ihrem Papier geht die Reflexionsgruppe auch davon aus, dass die Allianz künftig stärker mit der Wirtschaft zusammenarbeiten muss. Gerade die genannten disruptiven Technologien unterscheiden sich fundamental von der althergebrachten Wehrtechnik. In der klassischen Verteidigungsindustrie redet der Staat in dieser oder jener Form mit. „Die neuen Technologien sind jedoch ganz überwiegend in privater Hand“, konstatiert de Maizière, „und der Staat hat Probleme, überhaupt zu verstehen, um was es eigentlich geht, geschweige denn es zu beherrschen.“ Die Gruppe schlägt daher einen speziellen NATO-Gipfel vor, zu dem die Chefs der großen Technologieunternehmen eingeladen werden und bei dem der Umgang mit diesen Themen zur Chefsache auf Seiten der Politik wird. Eine neue Koordinierungsstelle soll dafür sorgen, dass die NATO die disruptiven Technologien kontinuierlich beobachtet, ihre Bedeutung analysiert und sicherheitspolitisch nutzt.
Der Bericht der Reflexionsgruppe wurde inzwischen den NATO-Außenministern vorgestellt und dem Generalsekretär übergeben. Jens Stoltenberg wird nun auf dieser Grundlage seine Empfehlungen für die Staats- und Regierungschefs formulieren. Vor wenigen Tagen riet er den NATO-Verteidigungsministern schon einmal zu höheren Verteidigungsausgaben. Der nächste NATO-Gipfel soll im Sommer stattfinden. Dann wird entschieden, wie es weitergeht. De Maizière: „Die Frage, um die es dabei geht, lautet: Wie muss sich das erfolgreichste sicherheitspolitische Bündnis der Welt so verändern, dass es auch 2030 erfolgreich ist?“