Wo sind die Helden?
Welche Vorbilder braucht eine „kriegstüchtige“ Bundeswehr, die das Land und das Bündnis verteidigen soll? Afghanistanveteranen? Die Widerständler vom 20. Juli? Oder doch ehemalige Wehrmachtssoldaten, die beim Aufbau der Bundeswehr geholfen haben? Wie hochsensibel das Thema ist und wie stark die Meinungen dazu auseinandergehen, zeigen die Ergebnisse einer loyal-Umfrage.
Wussten die Besatzungsmitglieder der „Reuben James“ am Morgen des 31. Oktober 1941, dass sie nicht mehr lange zu leben hatten? Niemand kann es sagen. Sicher dagegen ist: Nahe Neufundland traf den amerikanischen Zerstörer, der gerade einen britischen Konvoi begleitete, an diesem Herbsttag der Torpedo eines deutschen U-Boots. Das Schiff „Reuben James“ explodierte, über hundert Besatzungsmitglieder starben. „Reuben James“ war das erste amerikanische Schiff, das von einem U-Boot der deutschen Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg versenkt wurde – obwohl die USA damals noch nicht Kriegspartei waren. Die Versenkung des Schiffs löste in der amerikanischen Öffentlichkeit ein Erdbeben aus. Die Bereitschaft, sich gegen Nazi-deutschland zu wehren und in den Krieg einzutreten, wuchs. Doch wer hatte den Torpedo abgeschossen? Es war das VII-C-Boot U 552, kommandiert vom deutschen Marineoffizier Erich Topp. Die „Reuben James“ war nicht das einzige alliierte Schiff, das Topp versenkte. Der Offizier zerstörte mit seinen U-Booten 32 Schiffe. Damit war er der vierterfolgreichste U-Boot-Kommandant des Zweiten Weltkriegs. Für seine Erfolge beim Versenken alliierter Schiffe wurde ihm das Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz mit Eichenlaub und Schwertern verliehen.
Nach dem Krieg arbeitete Topp zunächst als Architekt. Dann trat er 1958 in die Bundesmarine ein und diente sich in verschiedenen Positionen innerhalb der NATO und im Führungsstab der Marine nach oben. Im Jahr 1966 wurde der inzwischen zum Konteradmiral beförderte Topp Chef des Führungsstabs der Marine und stellvertretender Inspekteur der Marine. Als Ehrung für seine Bemühungen beim Wiederaufbau der Marine und dem Aufbau des transatlantischen Bündnisses wurde ihm 1969 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Topp starb 2005 im Alter von 91 Jahren. Er setzte sich nach dem Krieg reflektiert mit seiner eigenen Geschichte auseinander und kritisierte mehrmals scharf das Verhalten von Karl Dönitz, dem Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine, der nach dem Krieg behauptete, nichts vom Holocaust gewusst zu haben.
Ist Topp ein Vorbild? Klar ist: Topp ist einer von 24 Offizieren mit Wehrmachtsvergangenheit, die im Sommer wegen ihrer Verdienste um die Bundeswehr zu militärischen Vorbildern erklärt werden sollten. Das war das Ziel der „Ergänzenden Hinweise zum Traditionserlass“, ein Dokument, das unter der Führung von General Kai Rohrschneider ausgearbeitet wurde. Es sollte klarer definieren, wer als „traditionswürdig“ für heutige Soldaten gelten sollte. In den „Ergänzenden Hinweisen“ heißt es etwas sperrig: „Mit der durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ausgelösten Zeitenwende ist die Bedeutung von Kriegstüchtigkeit von Streitkräften, die sich maßgeblich aus einem hohen Einsatzwert und hoher Kampfkraft ableitet, auch für die Traditionspflege gestiegen.“ Der Gründergeneration der Bundeswehr komme vor diesem Hintergrund eine bedeutende Rolle für traditionsstiftende militärische Exzellenz zu, heißt es weiter im Dokument. Nun müsse wieder „ein größeres Augenmerk auf militärische Exzellenz (Fähigkeit bzw. Können)“ gelegt werden gegenüber „anderen traditionsstiftenden Beispielen wie klassischen soldatischen Tugenden (Charakter) oder Leistungen für die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft“.
Der geltende Traditionserlass der Bundeswehr aus dem Jahr 2018 lasse explizit zu, dass einzelne Angehörige der Wehrmacht in das Traditionsgut der Bundeswehr aufgenommen werden könnten, argumentieren die Verfasser der „Ergänzenden Hinweise“. Dabei müsse allerdings abgewogen werden zwischen der persönlichen Schuld des fraglichen Soldaten und dessen Leistungen, die „sinnstiftend und vorbildlich in die Gegenwart“ wirken müssten. Das Dokument schlägt sodann 24 Offiziere vor, die laut den Verfassern des Dokuments diese Voraussetzungen erfüllten. Einer davon ist Erich Topp. Zu ihm heißt es in den „Ergänzenden Hinweisen“: „Konteradmiral Erich Topp (1914-2005); im Zweiten Weltkrieg einer der erfolgreichsten U-Boot-Kommandanten; in der Bundeswehr u.a. ChdSt DMV bei der NATO, ChdSt Flottenkommando und Stv Insp Marine; trat 1933/34 in NSDAP bzw. Allgemeine SS ein; setzte sich nach 1945 sehr kritisch mit der eigenen Vita sowie der Rolle der Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg auseinander; kritisierte als einer der wenigen zeitgenössischen hohen Marineoffiziere der Bundeswehr öffentlich Dönitz.“
Nach der Veröffentlichung der „Ergänzenden Hinweise“ im Sommer 2024 kam es zu einem Sturm in den Medien: „Mehr Wehrmacht wagen“ lautete die Überschrift eines Artikels zum Thema in der taz. Die russische Botschaft schrieb auf der Social-Media-Plattform X, dass „frühere Nazis wieder als ‚Helden‘ in Deutschland gefeiert werden“. Wegen der negativen Berichterstattung und Kritik kassierte Generalinspekteur Carsten Breuer die „Ergänzenden Hinweise“ Mitte August wieder ein.
Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, hält das für einen Fehler. „Soldaten, vor allem in den Kampftruppen, brauchen Vorbilder, an denen sie sich orientieren können“, sagt Sönke Neitzel. Diese Vorbilder sollten Kampferfahrung mitbringen, damit sich die Soldaten mit ihnen identifizieren könnten. Afghanistanveteranen kommen da für ihn nur bedingt infrage. „In Afghanistan kam es lediglich zu einzelnen Gefechten. Jetzt ist das Szenario, das uns droht, ein ganz anderes“, sagt er. Wo aber Vorbilder finden, die in einem Krieg gegen einen gleichwertigen staatlichen Gegner mit Panzern, Kampfflugzeugen und Schiffen gekämpft haben? Für ihn bleiben da nicht viele Optionen. Deshalb findet Neitzel die umstrittene Ergänzung zum Traditionserlass, die unter General Kai Rohrschneider im Sommer erarbeitet wurde, auch gut. „Die 24 dort aufgeführten Offiziere können aus meiner Sicht tatsächlich als Vorbilder für heutige Soldaten dienen“, sagt er. Den 2005 verstorbenen Erich Topp zum Beispiel habe er noch persönlich gekannt, erzählt Neitzel. Dieser habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg komplett von der NS-Zeit losgesagt, habe Fehler eingestanden und sei fest hinter den Werten der Bundeswehr, unter anderem der Inneren Führung, gestanden. „Wenn wir dem Bedürfnis unserer Soldaten nach Vorbildern mit Kampferfahrung entsprechen wollen, werden wir keine besseren Beispiele als Erich Topp und die 23 anderen vorgeschlagenen Offiziere finden“, sagt Neitzel.
Doch können sich heutige Soldaten überhaupt mit dem in den „Ergänzenden Hinweisen“ vorgeschlagenen Personenkreis identifizieren? Welche Vorbilder brauchen heutige Soldaten? Diese Fragen hat loyal in seinen Kanälen auf Instagram, Facebook und X den Nutzern gestellt. Insgesamt haben sich über einhundert Personen in 141 Kommentaren an der Diskussion beteiligt. So viel ist klar: Eine einheitliche Meinung der Nutzer gibt es nicht. Vielmehr sind die Nutzer – worunter sich sicherlich viele aktive Soldaten befinden – zweigeteilter Meinung. Die eine Hälfte findet, dass ehemalige Wehrmachtssoldaten – die sich hinterher in der Bundeswehr bewährt haben – nicht als Vorbilder für heutige Soldaten infrage kommen. „Wie können Kriegsverbrecher in soldatischer Hinsicht ein Vorbild sein? Das Dritte Reich und seine Akteure können nicht losgelöst vom politischen Fundament gesehen werden“, schreibt zum Beispiel ein Nutzer auf Instagram. Ein anderer kommentiert: „Man muss überhaupt nicht in die Geschichtsbücher gehen, um Vorbilder zu finden. Es gibt genügend Soldaten, die in der letzten Zeit hart gekämpft haben. Ein General Klein oder der damalige QRF-Führer 2010 im Karfreitagsgefecht Purzel zum Beispiel. Hört auf mit diesen Zweiten-Weltkriegs-Männern!“. Beide Kommentare bekommen viele Likes, also Zustimmung der anderen Nutzer.
Doch viele sind auch anderer Meinung. Genauso viele Likes gibt es bei Kommentaren wie diesem: „Jeder ausgezeichnete Soldat der Wehrmacht ist für mich genauso ein Vorbild wie Träger des Ehrenkreuzes für Tapferkeit oder Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg wie der als ‚Fliegerass‘ bekannte Manfred von Richthofen.“ Ein anderer Nutzer schreibt: „Der Umstand, dass jemand zu Zeiten gedient hat, als in Deutschland ein verbrecherisches Regime geherrscht hat, ändert nichts an den hervorragenden Leistungen Einzelner.“
Wie schwer sich die Bundeswehr tut, traditionsstiftende Vorbilder für heutige Soldaten zu finden und einem breiten Publikum zu präsentieren, zeigt sich auch beim Umgang der Bundeswehr mit den Trägern des Ehrenkreuzes für Tapferkeit. Insgesamt 33 Soldaten haben diese Auszeichnung inzwischen erhalten. Mit dem Ehrenkreuz für Tapferkeit sollen Soldaten geehrt werden, die ihren Auftrag unter „außergewöhnlicher Gefährdung von Leib und Leben erfüllt“ haben und dabei ein „mutiges, standfestes und geduldiges Verhalten“ bewiesen haben, schreibt das Verteidigungsministerium. Das Ehrenkreuz für Tapferkeit wurde zum ersten Mal im Jahr 2008 vom damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung verliehen – an vier Soldaten, die in Afghanistan gekämpft hatten. Sie waren nach einem Selbstmordanschlag mutig ihren verwundeten Kameraden und afghanischen Zivilisten zu Hilfe gekommen. Das letzte Mal bekamen das Ehrenkreuz für Tapferkeit KSK-Soldaten im Juni 2024, die sich im Jahr 2012 in der Operation „Mah Taabi“ bewährt hatten. Mit der Operation sollten mehrere afghanische Terroristen, die unter anderem für einen tödlichen Anschlag auf eine deutsche Patrouille verantwortlich gemacht wurden, ergriffen und festgenommen werden. Doch wer bekam von der Ehrung etwas mit? Vermutlich nur wenige. Denn eine große Festveranstaltung mit weitreichender Medienberichterstattung gab es zur Überreichung der Ehrenkreuze nicht.
Ganz anders in den USA. Das US-Militär zelebriert Überreichungen von Medaillen in großer Manier, mit öffentlichen Veranstaltungen, auf denen die Geehrten als Helden präsentiert werden. In Deutschland findet die Verleihung der Ehrenkreuze zumeist im Verteidigungsministerium statt und nur im kleinen Kreis. Warum? „Es besteht ein Spannungsfeld zwischen der beabsichtigten Würdigung und dem Schutz der zu würdigenden Personen. Der Schutz und die Wahrung der Privatsphäre sind in diesem Kontext immer höher zu werten. Häufig sprechen auch Gründe der militärischen Sicherheit gegen eine solche öffentliche Verleihung“, schreibt eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums auf loyal-Anfrage. Traditionsbildung, bei der die ganze Gesellschaft mitgenommen wird, geht sicher anders. Auch wer sich über die Träger des Ehrenkreuzes informieren möchte, hat es schwer. Neben einer Auflistung auf Wikipedia gibt es lediglich eine Ehrentafel im Kommando Heer in Strausberg, die alle Träger des Ehrenkreuzes für Tapferkeit nennt.
„Für mich ist der Umgang mit den Trägern des Ehrenkreuzes für Tapferkeit ein weiteres Zeichen für die Unsicherheit, die die Bundeswehr im Umgang mit ihrer eigenen Tradition kennzeichnet“, sagt Militärhistoriker Sönke Neitzel. „Diese Unsicherheit ist nicht neu, es gibt sie seit der Gründung der Bundeswehr.“ Nichtsdestotrotz sieht er in diesem verhuschten Umgang mit potenziellen militärischen Vorbildern Gefahren: „Füllen wir diese Lücke nicht, werden sich die Soldaten selbst ihre Tradition suchen oder zur AfD abwandern.“
Galerie oben (v.l.n.r.):
Hans Röttiger (* 16.04.1896 † 15.04.1960) befehligte während des Zweiten Weltkriegs verschiedene Armeen und wurde für seine Verdienste mit dem von Hitler gestifteten „Deutschen Kreuz in Gold“ ausgezeichnet. In den 1950er-Jahren arbeitete er an der Gründung der Bundeswehr mit und wurde im Jahr 1957 erster Inspekteur des Heeres, was er bis zu seinem Krebstod im Jahre 1960 blieb.
Manfred Albrecht Freiherr von Richthofen (* 02.05.1892 † 21.04.1918) wurde während des Ersten Weltkriegs als Fliegerass gefeiert. Mit 80 abgeschossenen feindlichen Flugzeugen erzielte er als einzelner Pilot die höchste Zahl an Luftsiegen des Ersten Weltkriegs. Er starb durch feindliches Gewehrfeuer im Frühjahr 1918. Nach seinem Tod wurde er endgültig zur Legende. Das Taktische Luftwaffengeschwader 71 der Luftwaffe trägt seinen Namen.
Maik Mutschke (* 05.12.1985) kämpfte im Karfreitagsgefecht am 2. April 2010, dem bisher verlustreichsten Gefecht der Bundeswehr, und wurde darin schwer verletzt. Für sein tapferes Vorgehen im Gefecht wurde ihm das Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit verliehen. Als erster versehrter Bundeswehrsoldat nahm er 2016 an den Paralympics teil. Mutschke ist Berufssoldat und gibt heute sein Wissen in einer Spezialkräfteeinheit an Soldaten weiter.
Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein (* 28.04.1980 † 28.05.2011) war Feldjäger und Personenschützer bei der Bundeswehr. Er starb bei einem Selbstmordanschlag am Gouverneurssitz in Taloqan in Afghanistan. Im Jahr 2018 wurde die ehemalige Emmich-Cambrai-Kaserne in Hannover nach Lagenstein benannt. Er ist der erste gefallene Bundeswehrsoldat, nach dem eine Kaserne benannt ist.